USA: Du wirst angegriffen, bekommst Corona oder hungerst – über die soziale Dimension der Revolte

09.06.2020, Lesezeit 5 Min.
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Der unmittelbare Auslöser sowie die treibende Kraft hinter dem aktuellen Aufstand ist zweifelsohne die rassistische Gewalt. Doch die Wucht der Proteste lässt sich erst in Kombination mit der tiefen sozialen und ökonomischen Krise im Land erklären.

George Floyd wurde umgebracht, weil er Schwarz war. Aber auch, weil er arm war. Ihm wurde vorgeworfen, mit falschem Scheck bezahlt zu haben. Für einen Weißen kein Todesurteil. Auch nicht für einen reichen Schwarzen. Es ist nicht die erste Revolte nach rassistischer Polizeigewalt, aber diesmal fällt sie mit einer schweren Wirtschaftskrise zusammen.

Zu den dramatischen sozialen Auswirkungen der Corona-Krise schreibt die US-Website Vox:

52 Prozent aller US-Amerikaner*innen unter 45 verloren in Folge der Corona Pandemie ihren Job, wurden freigestellt oder ihre Stunden wurden dramatisch gekürzt wurden. Verglichen mit 26 Prozent der über 45-Jährigen.

Die Corona-Krise hat zu massenhaften Entlassungen bei jungen Erwachsenen insbesondere in den prekären Dienstleistungsjobs geführt. So hat zum Beispiel Disney 100.000 Beschäftigte unbezahlt freigestellt, die nun vom Arbeitslosengeld leben müssen, das etwa in Florida 275 US-Dollar wöchentlich beträgt.

In anderen Bereichen wurden Beschäftigte gezwungen, trotz hoher Ansteckungsgefahren durch Corona weiterzuarbeiten, wie zum Beispiel im Transportsektor, der Logistik, in den Schlachthöfen und Fast-Food-Läden, in denen besonders viele Nicht-Weiße arbeiten. Es sind die prekären Arbeitsbereiche, in denen überdurchschnittlich viele Schwarze an Corona erkrankt und gestorben sind.

Es sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieser Bereiche, die heute auf den Straßen sind: Eine prekäre Generation, die in der Arbeit gedemütigt wird, kaum genug Lohn zum Leben hat und auf dem Heimweg von rassistischen Cops überfallen wird. Der Polizeimord an George Floyd fällt in eine Zeit, in der dutzenden Millionen von Menschen in den USA die ohnehin schon wackelige materielle Sicherheit unter den Füßen weggezogen wird.

Dies betrifft die Schwarzen und lateinamerikanischen Bevölkerungsschichten besonders, aber auch weiße Jugendliche. Ein Grund, weshalb die Protestierenden viel geeinter über die ethnischen Grenzen hinweg auf die Straßen gehen als bei früheren antirassistischen Bewegungen wie in Ferguson.

Die „Millenials“ haben vom herrschenden System nichts zu erwarten, wie James Dennis Hoff und Jimena Vergara schreiben:

Diese Demonstrationen offenbaren nicht nur die aufgestaute Wut einer ganzen Generation Schwarzer und weißer Jugendlicher, sondern deuten auch auf ein breites und wachsendes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen hin. Die hohe Arbeitslosigkeit, mit der viele junge Menschen heute konfrontiert sind – mehr als 30 Prozent bei den 18- bis 24-Jährigen – in Verbindung mit massiver Verschuldung, sinkendem Lebensstandard und der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Klimawandel haben eine ganze Generation mit wenig Hoffnung und noch weniger Vertrauen in die Institutionen von Wirtschaft, Regierung und Polizei zurückgelassen.

Die Stimmung im Land hat sich in nahezu allen Schichten aufgeheizt. Die extreme Rechte macht sich, angestachelt von Trump, bereit für einen Bürger*innenkrieg. Auf der anderen Seite tritt die junge Generation unter dem Feuer der Tränengasgranaten und Gummigeschosse in den Kampf gegen die Polizeigewalt. Und die Arbeiter*innen wehren sich gegen die drastische Absenkung ihres Lebensstandards und dagegen, trotz Corona an die Arbeit geschickt zu werden. In den letzten Wochen kam es immer wieder zu wilden Streiks, wie die folgende Streikkarte zeigt:

Vorne mit dabei: Die prekarisierten Sektoren der Lebensmittelindustrie und der Fast-Food-Ketten, die reihenweise ihre Arbeitsplätze verließen. Sie wollen ihre Leben nicht länger wegen Corona riskieren für einen Lohn im Wert eines Happy Meals. Oder von der Polizei umgebracht werden.

Die Sympathie in der Arbeiter*innenklasse für die Black Lives Matter-Bewegung ist groß, weil ihre prekärsten Sektoren selbst aus den armen Schwarzen und Latinxs-Communitys kommen. Aber auch über die Grenzen der Hautfarbe hinweg entwickelt sich Solidarität, wie das Beispiel der Beschäftigten im Gesundheitswesen zeigt, welche die Gewerkschaften auffordern, den Kampf gegen den Rassismus aufzunehmen.

Bisher war die Zustimmung der organisierten Arbeiter*innenbewegung für die Black Lives Matter-Proteste eher passiv. Die Jugendlichen mit prekrären Jobs gehen auf die Straßen, doch stellen sie noch kein proletarisches Programm auf, das sich gegen alle Entlassungen und Lohnkürzungen richtet und so die gesamte Klasse anführen kann. Ein erstes wichtiges Beispiel der organisierten Arbeiter*innenbewegung stellen die Hafenarbeiter*innen und Transport-Beschäftigten in San Francisco und New York auf, die für Dienstag zu mehrstündigen Arbeitsniederlegungen in Gedenken an George Floyd aufrufen.

Die Dynamik des Aufstandes wird wesentlich davon abhängen, ob es der Regierung und der Demokratischen Partei gelingt, die Bewegung in „gute“ und „böse“ Demonstrant*innen zu spalten und einen Teil davon in das Wahlspektakel zu integrieren. Oder ob die Arbeiter*innenklasse als organisierte Kraft in die Proteste eingreift, um gegen Polizeigewalt, Rassismus und Armut aufzustehen.

Die Arbeiter*innenbewegung ist noch fragmentiert. Der Rassismus dient den Bossen dazu, sie vom Kämpfen abzuhalten. Aber durch die außergewöhnlichen Umstände der Corona-Zeit und die äußerste Brutalität des imperialistischen Polizeistaates haben die Arbeiter*innen ihre Zögerlichkeit abgelegt. Dies zeigten selbst die Beschäftigten im Automobilsektor zu Beginn der Corona-Krise, die mit wilden Streiks den Stopp der Produktion erzwungen haben. Für die antirassistische Bewegung und die Arbeiter*innen stellt sich heute konkret die Aufgabe, ihre Interessen zu vereinigen und mit einem Generalstreik den Kampf gegen das imperialistische Regime auf ein neues Level zu heben.

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