Ungarns „Sklavengesetz“ – mehr Überstunden durch Wirtschaftsboom

20.12.2018, Lesezeit 5 Min.
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Ungarns sogenanntes „Sklavengesetz“ erzürnt die Gemüter. Die Zahl der zulässigen Überstunden soll erhöht werden. Dahinter steht ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung in Osteuropa und die Interessen der deutschen Automobilindustrie.

Seit einer Woche demonstrieren bis zu 15.000 Leute in der ungarischen Hauptstadt gegen das sogenannte „Sklavengesetz“. Dabei kam es in Budapest auch zu Blockaden von Brücken und wichtigen Gebäuden, wie der Zentrale der staatlichen Medien. Ziel der Demonstrierenden war es, eine mediale Repräsentation zu erzwingen. Diese wird ihnen bisher verwehrt, auch weil der ultrarechte Ministerpräsident Viktor Órban einen großen Einfluss auf die Medien ausübt. Órban nutzt diesen Einfluss auch, um die Bewegung gegen die neue Überstundenregelung zu denunzieren. Doch worum geht es bei dieser neuen Regelung eigentlich, die im Volksmund als „Sklavengesetz“ bezeichnet wird?

Man kennt das Klagen der deutschen Unternehmen über den sogenannten „Fachkräftemangel“. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs steigt die Nachfrage nach der Ware Arbeitskraft. Das hat zur Folge, dass die Bosse höhere Löhne zahlen müssten, um für die Beschäftigten attraktiv genug zu bleiben. Die herrschende Klasse ist jedoch darauf angewiesen, möglichst günstig zu produzieren, also möglichst wenig für die Ware Arbeitskraft zu zahlen. Das Klagen über den „Fachkräftemangel“ ist nichts anderes als das Klagen über zu hohe Löhne. Auch in Osteuropa gibt es eine steigende Nachfrage nach der Ware Arbeitskraft. In Ungarn wird deswegen die abschöpfbare Menge an Arbeitskraft per Gesetz erhöht, indem die geltenden Bestimmungen für Überstunden gelockert werden und so mehr Überstunden von den Beschäftigten abverlangt werden können.

Denn vor allem in Osteuropa beobachten wir einen wirtschaftlichen Aufschwung, der der deutschen Wirtschaft Probleme bereitet. Bisher war Osteuropa eine gute Quelle für günstige Arbeitskräfte. Ob in der Landwirtschaft, in den Schlachtereibetrieben oder im Straßenfernverkehr, Arbeitskräfte aus Osteuropa verrichteten und verrichten unter teils unmenschlichen Bedingungen ihre Arbeit. Doch zunehmend versiegt diese Quelle. Die Löhne in Osteuropa steigen und die Arbeitslosigkeit sinkt. In Tschechien ist sie mit 3,2 Prozent sogar auf dem niedrigsten Stand in der gesamten Europäischen Union. Ungarn liegt mit 4,3 Prozent an vierter Stelle. Dadurch wird es für immer weniger Menschen in Osteuropa attraktiv, sich in Deutschland gnadenlos ausbeuten zu lassen. Im Straßenfernverkehr kommen immer mehr Arbeiter*innen von den Philippinen und ersetzen die Niedriglöhner aus Osteuropa. Zudem werden die osteuropäischen Arbeiter*innen zunehmend selbstbewusster. So haben sich tschechische LKW-Fahrer den deutschen Mindestlohn eingeklagt, was ihren osteuropäischen Kolleg*innen als Vorbild dienen könnte. Dieses Jahr kam es auch in der Landwirtschaft zu spürbaren Problemen, genug Erntehelfer*innen aus Osteuropa ran zubekommen. Manche Bauern sollen in ihrer Verzweiflung bis zu 16 Euro Stundenlohn geboten haben.

Aber noch einem anderen Sektor der deutschen Wirtschaft bereitet der „Fachkräftemangel“ in Osteuropa Sorgen. Dazu zählt die deutsche Autoindustrie. Für die hat Osteuropa eine lange Tradition als „verlängerte Werkbank“. An der deutsch-polnischen Grenze stehen viele Zulieferer für die deutsche Autoindustrie, aber die deutsche Autoindustrie lässt hier auch direkt produzieren. So ist das zweitgrößte Unternehmen in Ungarn ein Tochterunternehmen von Audi. Zudem gab BMW im Juli bekannt, ein neues Werk in Ostungarn zu errichten. In der Stadt Debrecen möchte das bayrische Unternehmen rund eine Milliarde Euro investieren. Bis zu 150.000 Autos jährlich sollen hier entstehen. Etwa eine halbe Million Jobs in Ungarn sind direkt oder indirekt von deutschen Unternehmen abhängig.

In Ungarn hat die wirtschaftliche Entwicklung in ganz Osteuropa besonders scharfe Züge angenommen. Hier sind die Reallöhne besonders stark gestiegen, verglichen mit Polen, Tschechien und der Slowakei. Im März 2017 lagen die Löhne in Ungarn, im Vergleich zum Vorjahr, um 12,8 Prozent höher. Bei einer Inflation von gerade mal zwei Prozent sind die Löhne somit real um mehr als 10 Prozent gewachsen. Diese Zunahme ist die Folge der enormen wirtschaftlichen Entwicklung. Durch sie sind die Unternehmen gezwungen höhere Löhne zu zahlen, um weiterhin attraktiv für die Beschäftigten zu bleiben. Das sogenannte „Sklavengesetz“ der Regierung unter Viktor Órban ist ein Versuch, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Mit der Flexibilisierung der Überstunden-Regelung können von den Beschäftigten in Ungarn mehr Überstunden abverlangt werden, wodurch die Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft erhöht wird. Das erklärt den großen Unmut über die umstrittene Gesetzesreform.

Dadurch wird ersichtlich, auf wessen Kosten der wirtschaftliche Aufschwung ausgetragen wird. Das Kapital ist nicht bereit, immer höhere Löhne bezahlen, sondern wird den bürgerlichen Staat nutzen, um mehr Arbeitskraft ausbeuten zu können. Vor allem die deutsche Autoindustrie nutzt ihre guten Beziehungen zum ungarischen Regierungschef. Im Gegenzug für neue Investitionen verlangt sie eine Flexibilisierung arbeitsrechtlicher Bestimmungen. Weil nun mehr Arbeitskraft ausgebeutet werden kann, können die Unternehmen günstiger produzieren. Das ist Sinn und Zweck des sogenannten „Sklavengesetz“ in Ungarn.

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