Türkei: Wie weiter mit dem Taksim-Widerstand

17.09.2013, Lesezeit 10 Min.
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In den vergangenen Monaten mobilisierten sich in der Türkei Millionen Menschen auf den Straßen. Der Protest gegen die geplante Schließung des Gezi-Parks am zentralen Istanbuler Taksim-Platz explodierte durch heftige Repression. Momentan ist der Kampf von einer offensiven Haltung in eine Defensive geraten. Wir wollen in diesem Artikel den Prozess und seine Perspektiven bewerten, insbesondere auch im Lichte der akuten Kriegsgefahr in Syrien.

Die Taksim-Bewegung stand vor der Herausforderung, aus der begrenzten Forderung nach dem Erhalt des Gezi-Parks eine soziale Bewegung zu entwickeln, die über diese Forderung hinaus die großen demokratischen und sozialen Fragen in der Türkei aufwirft.[1] Sie geriet in einen gezwungen Rückzug, weil sie es nicht geschafft hat, die ArbeiterInnenklasse massenhaft in den Kampf einzubeziehen und den sozialen Charakter des Kampfes auszuweiten. Die urbane Bevölkerung und die Jugendlichen trieben diesen Kampf voran. Doch abgesehen von symbolischen Streiks der ArbeiterInnen im Dienstleistungssektor konnten andere Sektoren der ArbeiterInnenklasse kaum mobilisiert werden. Der danach versuchte Übergang von aktiven Kämpfen auf die sogenannten Foren gelang den AktivistInnen in der Türkei ebenfalls nicht, so wie es der Occupy-Bewegung in vielen europäischen Ländern auch nicht gelang. Trotzdem ist der Geist des Widerstandes nicht gebrochen. Beispielsweise sind in vielen Stadien in der Türkei heute noch die Parolen des Taksim-Widerstandes zu hören.

Grenzen des „türkisches Modells“

Die Erdogan-Regierung hat während ihrer Regierungszeit eine agressive neoliberale Politik verfolgt und ein prekäres Wirtschaftswachstum auf der Grundlage von Verschuldung und Privatisierung erreicht. Die einst in den Händen von Armee und Staatsapparat befindlichen Sektoren der Wirtschaft wurden privatisiert, die unorganisierten Teile der ArbeiterInnenklasse mit Religion paralysiert und der bürgerlichen Politik gefügig gemacht. Das ist der Geburtsmoment des „türkischen Modells“. Der Taksim-Kampf markiert den Beginn des Niedergangs dieses Modells und hat eine tiefe Krise im politischen Regime des Landes ausgelöst.

Das türkische Modell sollte gerade in Tunesien und Ägypten den neoliberalen Angriff auf die verstaatlichten Teile der Wirtschaft erleichtern, die Fortführung proimperialistischer Politik legitimieren und das Erwachen der ArbeiterInnenklasse und der Massen im „arabischen Frühling“ mit dem Opium Islam stoppen. Die objektiven Grenzen des türkischen Modells, die Massen von der Straße zu halten, wurden aber in diesem Sommer ersichtlich. Dies diskreditierte auch die AblegerInnen des türkischen Modells in den anderen Ländern. Die Massen hatten in Ägypten ihren Kampf wieder aufgenommen, um Mursi zu stürzen, der in seiner Regierungszeit rasch an Unterstützung verlor. Der Putsch der ägyptischen Armee ist hauptsächlich ein Angriff auf die kämpfende ArbeiterInnenklasse und die Jugend und bringt das Land an den Rand eines brutalen Bürgerkriegs. Die ArbeiterInnenklasse wäre fähig gewesen, die Mursi-Herrschaft zu überwinden, jedoch verhinderte die Armee diesen Schritt gewaltsam und versucht mit Massakern und Ausnahmezustand die Kontrolle zurückzugewinnen. Der Kampf in Istanbul inspirierte auch den Kampf in Brasilien, weshalb die dortigen Mobilisierungen einige Losungen aus der Türkei mit aufnahmen.

Jugend als Vorbotin

Die Jugendbewegung ist die Vorbotin des offenen Klassenkampfes. Durch ihre Mobilisierungen hat sie für eine breite Politisierung und begrenzte Verbreitung der Kampfbereitschaft auf andere Sektoren der Gesellschaft gesorgt, wie in den sektoralen Generalstreiks im Juni gegen die Repression sichtbar wurde. Dennoch hat es die korrupte Gewerkschaftsbürokratie geschafft, die ArbeiterInnen von den Kämpfen um den Gezi-Park größtenteils fernzuhalten, wie sie es schon seit Jahrzehnten tut. Die Streiks der letzten Jahre wie beim Tabakkonzern TEKEL und der Flugfirma Turkish Airlines sind Risse in dieser Tendenz, dennoch bleibt die Jugend zurzeit an der Vorfront der Mobilisierungen.

Mit dem Beginn des neuen Unisemesters im Herbst und der drohenden Intervention in Syrien ist eine neue Protestwelle sehr wahrscheinlich. Es ist jetzt die Hauptaufgabe der Jugend, verstärkt die Verbindung mit der ArbeiterInnenbewegung zu suchen, um das türkische Regime wirksamer zu konfrontieren. Die verschiedenen kleinbürgerlichen Ideologien, die den Kampf der Studierenden entweder für sich, beschränkt auf die Universitäten, führen oder ohne die ArbeiterInnenklasse die Regierung konfrontieren wollen, versagen gerade bei der entscheidenden Aufgabe, den Kampf der Jugend und der ArbeiterInnenklasse zusammenzuführen.

Dabei hat die ArbeiterInnenklasse in der Türkei eine kämpferische Tradition und es kam auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder zu Besetzungen von Betrieben durch ArbeiterInnen. Dennoch war es bisher den ArbeiterInnen nicht gelungen, die Produktion selbst in die Hand zu nehmen. Doch dies ändert sich: Die TextilarbeiterInnen von Kazova haben nach monatenlangem Streik den Betrieb selbst übernommen. Der alte Boss verweigerte ursrpünglich die Auszahlung der Löhne von vielen Monaten. Diese Erfahrung in einem Textilbetrieb kann das politische Bewusstsein der gesamten ArbeiterInnenklasse beflügeln. Daher ist die Aufgabe der RevolutionärInnen in der Türkei, diesen Kampf zu unterstützen und gegen Bosse, Polizei und BürokratInnen zu verteidigen, damit die verstaatlichte Produktion unter der Kontrolle der ArbeiterInnen erkämpft werden kann. Dafür ist auch der Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei vonnöten.

Die Politik der kurdischen Bewegung

Die Türkei ist trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs der letzten Jahre und des wachsenden Einflusses in der Region weiterhin eine Halbkolonie. Dies drückt sich im enormen Einfluss ausländischen Kapitals in der Türkei aus, genauso wie in den begrenzten Einflussgebieten des türkischen Kapitals (Nordkurdistan und Nordzypern). Diese Gebiete sind keine wirtschaftlich unterworfenen Halbkolonien einer imperialistischen Macht, sondern eher militärisch besetzte Kolonien einer Regionalmacht. In den letzten Jahren versucht die Türkei eine kapitalistische Ausbeutung dieser beiden Regionen voranzutreiben.

Die verspätete bürgerliche Entwicklung der Türkei und die autoritäre Modernisierung unter dem kemalistischen Bonapartismus führte dazu, dass viele Fragen ungelöst blieben: die nationale Frage innerhalb der Türkei, die Frage der Unabhängigkeit vom Imperialismus, die Frage der Übermacht des Militärapparats und viele demokratische Fragen. RevolutionärInnen müssen ein Programm für diese Fragen aufstellen. Denn die offiziellen Führungen der KurdInnen sind nicht in der Lage, die dringende Frage der nationalen Selbstbestimmung und die materiellen Bedürfnisse der kurdischen Bevölkerung durchzusetzen, weshalb es eine Hauptaufgabe der türkischen und kurdischen ArbeiterInnenbewegung in der Türkei und in Kurdistan ist, sich die Lösung dieser Frage auf die Fahnen zu schreiben – eine Lösung, die betont, dass die nationale Unterdrückung der KurdInnen nur im Kampf gegen die türkische und kurdische Bourgeoisie und als Teil eines Bruchs mit dem Imperialismus beseitigt werden kann.

Die kurdische Bourgeoisie in Südkurdistan (Irak) soll als Geschäftspartner für die türkische Bourgeoisie befestigt werden. Daher gibt es momentan zwischen der kurdischen Bourgeoisie unter der Führung der kleinbürgerlichen PKK und der türkischen Bourgeoisie unter der AKP-Regierung eine Annäherung. Letztere verspricht sich mit dieser Zusammenarbeit reibungslose Geschäfte in kurdischen Gebieten (in der Türkei, im Irak und Syrien), während die PKK kulturelle Forderungen aufstellt, ohne die Machtfrage anzutasten. In Bezug auf den Aufstand im Juni hat sich die ganze verheerende Position der PKK in dieser Frage gezeigt.

Gerade der nationalistische Flügel fürchtete die Schwächung der AKP, die die ganzen Verhandlungen massiv ins Stocken bringen könnte. Allerdings war der linke Flügel des kurdischen Wahlbündnisses (Sebahat Tuncel, Ertugrul Kürkcü, Sirri Sürrerya Önder, Levent Tüzel usw.) gemeinsam mit Abdullah Öcalan für eine Unterstützung des Aufstandes. Doch auch der linke Flügel der PKK setzt auf Verhandlungen mit dem türkischen Staat, die hinter verschlossenen Türen geführt werden. Stattdessen ist eine Perspektive nötig, die die Unvereinbarkeit der Interessen der kurdischen (und türkischen) Massen mit der Bourgeoisie betont und einen Kampf um die Macht führt, der sich auf die Organe der Selbstorganisation der Massen stützt und über die demokratische Frage hinaus die Notwendigkeit der Überwindung der imperialistischen Unterdrückung aufwirft, die unweigerlich zum Bruch mit der Bourgeoisie führen muss.

Die StalinistInnen, die innerhalb der türkischen Linken großen Einfluss haben, nutzen die Definition der Türkei als Halbkolonie, um ihr gesamtes Programm gegen die USA zu richten und damit eine zukünftige Volksfront mit der „fortschrittlichen“ Bourgeoisie vorzubereiten. Wir revolutionäre MarxistInnen lehnen diese Perspektive ab: Auch wenn die türkische Bourgeoisie vom US-Imperialismus abhängig ist, hat sie kein materielles Interesse daran, sich unabhängig zu machen, und kann deswegen keine fortschrittliche Rolle spielen. Doch das bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass die Türkei deswegen selbst ein imperialistisches Land sein muss – es bedeutet nur, dass die antiimperialistischen und andere demokratische Aufgaben in der Türkei nur durch die proletarische Revolution gelöst werden können.

In diesem Zusammenhang kommt auch die Notwendigkeit einer richtigen Positionierung beim Krieg gegen Syrien ins Spiel, in den sich die Türkei immer stärker als Kriegspartei einzumischen versucht. RevolutionärInnen müssen sich gegen die imperialistische Intervention positionieren und die politische Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse und Massen von den bürgerlichen „Rebellen“ und dem Assad-Regime fordern.

Revolutionäre Perspektive

Die wirtschaftliche und politische Lage in der Türkei lässt einen heißen Herbst erwarten. Viele Jugendliche waren während des Taksim-Widerstands in den Sommerferien, sodass sie nur individuell an den Kämpfen teilgenommen haben. Die kollekive Organisierung an den Unis ab Beginn des Semester wird den Jugendlichen sicherlich einen neuen Schub geben. Zentral ist jedoch die Befestigung und Ausweitung des Bündnisses mit der ArbeiterInnenklasse. Die massenhafte Repression der vergangenen Monate sorgte unter breiten Teilen der Bevölkerung für viel Sympathie mit der Bewegung. Doch es gelang nicht, die demokratischen Fragen, die sich in diesem Protest ausgedrückt haben, mit den sozialen zu verbinden, für die die ArbeiterInnen in der Türkei immer stärker auf die Straße gehen.

Eine revolutionäre Perspektive für die Bewegung beinhaltet ein Programm, welches die ArbeiterInnenbewegung als Dreh- und Angelpunkt der Bewegung ansieht, und die Notwendigkeit betont, dass die ArbeiterInnenbewegung selbst – auch im Kampf gegen ihre bürokratischen Führungen – die Forderungen der Bewegung als ihre eigenen aufnimmt und mit ihren eigenen Methoden in den Kampf eintritt. Nur durch die Ausweitung des Widerstands auf die Betriebe, Schulen und Universitäten und durch den Ausbau demokratischer Organe der Selbstorganisation kann dieser Kampf gegen das gesamte Regime gerichtet werden. Für eine solche Perspektive ist der Aufbau einer revolutionären Partei in der Türkei und Kurdistan notwendig.

Fußnoten

[1]. Stefan Schneider: Die Aufstände in der Türkei am Scheideweg.

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