Türkei: Warum der Bonaparte Erdogan die Wahlen vorzieht

19.04.2018, Lesezeit 7 Min.
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Die vorgezogenen Neuwahlen offenbaren die Schwächen der bonapartischen Diktatur in der Türkei. Was genau steckt hinter diesem Manöver? Und was bedeutet diese Taktik für die kommende Periode im Land?

Erst wurde der Ausnahmezustand um weitere drei Monate verlängert. Am selben Tag kündigte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf der Pressekonferenz die vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Die Wahlen sollen am 24. Juni 2018 stattfinden – natürlich unter dem Ausnahmezustand.

Der Vorstoß dafür kommt allerdings von seinem Verbündeten Devlet Bahceli, dem Vorsitzenden der ultranationalistischen Partei MHP. Denn Erdogan schloss bisher immer wieder die Möglichkeit der vorgezogenen Wahlen aus. Auf der Fraktionssitzung seiner Partei präsentierte er den Vorschlag, die Wahlen auf den 26. August 2018 vorzuziehen. Daraufhin wurde er von Erdogan zu einem Gespräch eingeladen. Als Resolution des Gesprächs wurde der neue Termin angekündigt. Laut Erdogan liegen die Gründe hierfür an der angespannten Situation in den Nachbarländern Irak und Syrien.

Die Volksallianz und ihr fragiler Charakter

Die Allianz mit der MHP ist für Erdogan von einer existenziellen Bedeutung. Gleichzeitig zeigt es den fragilen Charakter dieser Allianz, dass entgegen den Plänen von Erdogan der Vorstoß von seinem Verbündeten kam. Denn Bahceli ist nach der Abspaltung der MHP hochbesorgt. Die Abspaltung ist die rechtspopulistische IYI-Partei, deren Vorsitzende Meral Aksener heute als ernsthafte Konkurrentin zu Erdogan gilt. Heute hingegen liegt die MHP laut Umfragen bei 3 bis 4 Prozent. Bei den letzten Parlamentswahlen gewann sie 11,9 Prozent der Stimmen. Diese drastische Senkung ist eine Folge der Anpassung an den Kurs Erdogans und der herrschenden Regierungspartei AKP. Selbst das Verfassungsreferendum vom April 2017 war ein Pyrrhussieg mit nur 51 Prozent. Es sei daran erinnert, dass die Wahlen unter dem Ausnahmezustand sowie der Manipulationen und enormer Repressionen stattfanden.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sollten nach dem ursprünglichen Plan im August 2019 stattfinden. Die Kommunalwahlen kurz davor: Im März 2019. Ein Fiasko bei den Kommunalwahlen häte diese Allianz nicht ausgehalten, weil es Erdogan im Wesentlichen darum geht, als starker und siegessicherer Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen aufzutreten. Wir haben es deswegen mit einem Manöver von Bahceli zu tun. Er braucht diese starke Allianz, damit seine Partei ins Parlament zieht und er Vizepräsident wird. Der Druck der eigenen Basis ist eine Botschaft, von der Allianz auch materiell profitieren zu wollen.

Die grundlegenden Herausforderungen der bonapartistischen Diktatur

Die militärische Offensive auf Afrin konnte die wirtschaftliche und außenpolitische Instabilität nur temporär überdecken. Der Eroberungskrieg in Afrin war sowohl nationalistisch als auch kapitalistisch motiviert. Einerseits galt es die aktuelle Hochburg der kurdischen Bewegung, Rojava, zu schwächen.

Andererseits plant Erdogan die syrischen Geflüchteten nach Afrin zu verlagern, um sie als billige Arbeitskräfte auszubeuten und mit wirtschaftlichen Bauprojekten und Investitionen den türkischen Einfluss auszubauen. Doch die jüngsten imperialistischen Angriffe auf Syrien – organisiert von den USA, Frankreich und Großbritannien – haben Russland und Iran zurückgedrängt. Die Türkei positionierte sich an der Seite der westlichen Imperialismen, obwohl sie bisher eine klare Positionierung vermeiden wollte. Die aktuelle Herausforderung der türkischen Außenpolitik besteht darin, in der neuen Konstellation in der Region überhaupt eine stabile Rolle einzunehmen. Denn die bisherigen opportunistischen Taktiken sind nach der Offensive von Trump überflüssig geworden. Bei weiteren Vorstößen muss er zwischen Russland und den USA balancieren.

Erdogan weiß, dass sein Bonapartismus eine starke Wirtschaft voraussetzt. Doch die Entwicklungen laufen rückwärts: Der türkische Staat befindet sich am Rande einer großen wirtschaftlichen Krise. Die türkische Währung (Lira) ist gegenüber dem Dollar und dem Euro in einem Rekordtief, was ohnehin das hohe Defizit in der Außenhandelsbilanz nach oben treibt. Die hohen staatlichen Investitionen und Großbauprojekte sind wesentliche Elemente in der Entwicklung der türkischen Wirtschaft. Doch die Inflation ist zweistellig (10,23 Prozent) und ähnlich wie 2001 ist die Gefahr der Währungssubstitution real. Immer mehr kleinere Unternehmen und Sparer*innen tauschen ihre türkischen Lira in Devisen wie dem Euro und dem Dollar. Sie legen ihre Ersparnisse entweder in stabilen Auslandswährungen oder in Gold an. Das macht die abhängige und schwache türkische Währung noch schwächer. Die Arbeitslosenquote liegt bei 10,3 Prozent. Unter den Jugendlichen zwischen 15 bis 24 Jahren liegt die Arbeitslosigkeit sogar bei 19,1 Prozent. 

Selbst die bürgerlichen oder der AKP nahestehenden Analyst*innen sprechen offen, dass die heutige wirtschaftliche Instabilität ein wichtiger Faktor der vorgezogenen Neuwahlen sei. Des Weiteren gibt es zwei Aspekte der Wahltaktik. Zum einen will die Volksallianz die Opposition mit einem plötzlichen Manöver überrumpeln, sodass diese nur eine schwache Wahlkampagne organisieren soll: Bei der IYI-Partei ist es noch unklar, ob sie überhaupt die formalen Voraussetzungen erfüllt, um an den Wahlen teilzunehmen. Mit der Taktik eines Wahlblocks könnte es aber möglich sein. Der Opposition bleibt allerdings kaum Zeit, um sich auf eine*n Kandidat*in zu einigen und die Wahlkampagne zu organisieren. Ohne Übertreibung stehen heute die gesamten staatlichen und medialen Ressourcen der AKP-MHP-Allianz zur Verfügung.

Zum anderen steht es heute schon fest, dass der Eroberungskrieg in Afrin als Erfolg von Erdogan präsentiert wird. Noch gibt es keine ernsthaften Kontroversen darüber, was das türkische Militär in Syrien verloren hat. Bevor sich die außenpolitischen Herausforderungen mit innenpolitischen Kontroversen kombinieren, versucht er die Eroberung Afrins propagandistisch zu nutzen. Ohne Zweifel wird Afrin ein zentraler Bestandteil seiner Wahlkampagne werden.

Die Grenzen der bonapartistischen Diktatur

Erdogan hält der türkischen Bourgeoisie die Pistole an den Kopf und aktuell ist er der Einzige, der die Massen durch Peitsche und Autorität stillhalten kann. Einen stärkeren Bonaparte kann es in der Türkei nicht geben. Erdogan will herrschen, in dem er sich über die Klassen erhebt. Ihm gelingt es heute diese Rolle zu spielen. Er verspricht eine türkische Invasion, eine starke Türkei und wirtschaftliche Verbesserungen. Um sie zu erreichen, müssen seine Feinde besiegt werden. Deshalb diszipliniert er die Bevölkerung mit dem Ausnahmezustand, der immer wieder verlängert wird. Dieser Zustand ist aber von temporärer Prägung: Trotz aller Versuche, die Opposition zu liquidieren, ist es Erdogan bisher nicht gelungen, seine Autoritätskrise zu überwinden. Denn seine pragmatischen Mittel und die Politik der Peitsche in einer Konjunktur der wirtschaftlichen Krise können die Massen nur beunruhigen.

Die Massen folgen weiterhin der Führung Erdogans, weil sie in seiner Führung eine Verstärkung der Wirtschaft sehen, auf die sie durch die eigene Arbeitslosigkeit oder finanzielle Verschuldung angewiesen sind. In diesen Rahmen könnte jedoch ein soziales Programm für die Arbeiter*innen und Jugendlichen die Glaubwürdigkeit Erdogans in Zeiten der großen Wirtschaftskrise untergraben und in Frage stellen.

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