Trauer um Mevlüde Genç – Kampf dem Rassismus und rechten Terror

03.11.2022, Lesezeit 7 Min.
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Bild: Sir James / Wikimedia Commons.

Mevlüde Genç, deren Familie Opfer des rechtsextremistischen Brandanschlags von Solingen 1993 geworden ist, ist im Alter von 79 Jahren gestorben. Unsere Trauer ist ein Anlass, die noch immer bestehenden Ursachen des Rassismus zu bekämpfen.

Solingen, 29. Mai 1993: Beim rassistischen Mordanschlag auf das Zweifamilienhaus der Familie Genç in Solingen-Mitte erlitten 17 Menschen zum Teil bleibende Verletzungen. Fünf Menschen starben: Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Die vor wenigen Tagen verstorbene Mevlüde Genç verlor an diesem Morgen zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte.

Der Brandanschlag hatte einen nachgewiesenen rechtsextremen Hintergrund. Die Täter, die der Solinger Neonazi-Szene angehörten, wurden am Abend zuvor von türkischstämmigen Deutschen von einer Feier in einem Kleingartenverein geworfen. Am frühen Morgen verschafften sie sich daraufhin Zugang zum Haus der Familie Genç und zündeten einen Brandsatz.

Die überlebende Mevlüde Genç zeichnete sich nach der Tat dennoch durch zivilgesellschaftliches Engagement aus und streckte die Hand zur Versöhnung aus. Wir trauern um sie und richten ihren Angehörigen unser tiefstes Beileid aus.

Rassistische Gewalttaten sind keine Einzelfälle

Die Tat in Solingen reihte sich damals in eine Welle rassistischer Gewalt ein: Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung kam es bereits zu den Progromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, sowie zum rechten Mordanschlag in Mölln mit drei Todesopfern, in dessen Kontext auch der Anschlag auf die Familie Genç gesehen werden muss. Auch die weitere Entwicklung und die Reaktionen des bürgerlichen Staates sind vielsagend. Während dieser nämlich weiterhin seine Flanke gegen die vermeintliche Gefahr des sogenannten “Linksextremismus” stärkte, konnte die Rechte weiter ungehindert gedeihen.

So kam es zwischen 2000 und 2007 zu den Anschlägen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), welche 9 Migrant:innen ermordeten sowie 43 Mordversuche und 3 Sprengstoffanschläge verübten. Ihr auf 100 bis 200 Personen geschätztes Netzwerk wurde zudem tatkräftig von deutschen Behörden unterstützt, wie auch die vor kurzem geleakten Dokumente belegen. Besonders in den letzten Jahren wurden außerdem immer mehr Berichte über den umfassenden Rassismus in der deutschen Polizei und Bundeswehr bekannt.

Auch heute ist der Rassismus und Rechtsextremismus keinesfalls besiegt. International wurde gerade erst die rechtsextreme Giorgia Meloni zur Ministerpräsidentin Italiens gewählt; in Brasilien ist der rechtsextreme und amtierende Präsident Jair Bolsonaro nur hauchdünn an einer weiteren Amtszeit gehindert worden. Aktuell schaffen es rechte und faschistische Kräfte außerdem besser als alle anderen, die laufenden Krisen für sich zu vereinnahmen, so auch in Deutschland.

Das Wachsen rechter Kräfte wie der AfD ermutigt Faschist:innen. Wir erleben gerade ein erneutes Erstarken rechten Terrors in der Bundesrepublik. Kürzlich ereignete sich ein Anschlag auf eine Synagoge in Hannover. In Bautzen, Thüringen und Mecklenburg gab es mehrere Brandanschäge auf Geflüchtetenunterkunfte. Sogar in Solingen, trotz der schrecklichen Geschichte, ist die Neonazi Szene nach wie vor stark. Die Solinger AfD, zum Beispiel, positioniert sich fortwährend rechts der Bundespartei: Laut der linken Solinger Zeitung tacheles ist der Kreisverband “[r]assistisch, gewaltbereit, Faschismus und Kriegs verherrlichend, antisemitisch, islamophob, demokratiefeindlich”. In Bezug auf den Brandanschlag 1993 zweifelt er zudem die Ermittlungsergebnisse an und verunglimpft Hinterbliebene der Opfer.

Rassismus im Kapitalismus und eine linke Antwort

Dass es in Folge der oben aufgezählten Fälle zu keiner effektiven Bekämpfung des Rassismus und Rechtsextremismus gekommen ist, liegt daran, dass das deutsche und internationale Kapital sowie die bürgerlichen Staaten gar kein Interesse haben, dessen Ursachen aufzulösen. Für Staat und Kapital ist der größte Feind die vereinte Arbeiter:innenklasse. Die Rassifizierung von Gruppen erfüllt im Kapitalismus eine ökonomische, ideologische und politische Funktion.

Im Kapitalismus besteht für die herrschende Klasse das Interesse, die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte durch Rassismus zu rechtfertigen. Migrantische Arbeiter:innen landen überproportional in schlechter bezahlten und prekären Jobs und stellen so einen Großteil der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse, die dem deutschen Kapital große Profite erwirtschaftet, beispielsweise in der Reinigung, der Logistik oder der Nahrungsmittelindustrie. Die Minderstellung rassifizierter Gruppen ermöglicht ihre Ausbeutung über dem gesellschaftlich durchschnittlichem Niveau, z.B. in Formen staatlich akzeptierter illegalisierter Arbeit oder Ein-Euro-Jobs. Rassismus ist eine vermeintliche Rationalisierung dieser Ausbeutungsverhältnisse.

Wenn dann zum Beispiel der Grund für ausbleibende Verbesserungen der schlechten Lage der Arbeitenden im Kontext der Inflation nicht im Kapitalismus, sondern in einer vermeintlichen Bevorzugung “ausländischer” Arbeitskräfte und Geflüchteten gesucht wird, hat das Kapital leichteres Spiel, seine Interessen durchzusetzen. Rassismus ermöglicht daher eine Spaltung der Klasse, indem zum Beispiel deutsche gegen migrantische oder “ausländische” Arbeiter:innen ausgespielt werden.

Schließlich wird diese Spaltung nicht nur im Betrieb und in den Köpfen der Arbeiter:innen vollzogen, sondern zieht sich tief durch die Reihen der organisierten Arbeiter:innen. Die Führungen der DGB-Gewerkschaften lassen beispielsweise oft die Outgesourcten, überproportional migrantisch Beschäftigten, aus ihren Kämpfen aus, stellen nicht genügend Ressourcen für Unterstützung und Übersetzung und begnügen sich meist damit, für eine besser bezahlte Schicht der Klasse die Verhandlungen zu führen. Illegalisierte Geflüchtete wurden, bis die non-citizen Bewegung dies erkämpfte, nicht in die Gewerkschaften aufgenommen.

Der Staat beschränkt seinen “Antirassismus” auf oberflächliche, moralisierende Symptombekämpfung. Rassismus wird zu einem individualisierten Problem einzelner Menschen, strukturelle Hintergründe werden ausgeblendet und rechter Terror wird als Sequenz von “Einzeltaten” abgetan. Unter der Losung “Demokratie gegen Rechts” werden alle Parteien links der AfD als gemeinsame Front besschworen, dessen gemeinsamer Nenner diese oberflächliche Kritik des Rassismus ist – nicht aber dessen strukturelle Bekämpfung. Systematische Studien zu Faschismus und Rassismus innerhalb von Polizei und Militär werden verhindert, der sogenannte Verfassungsschutz, der durch V-Männer rechte Netzwerke finanziert, bleibt intakt, und Rassist:innen wie Tönnies beuten weiterhin migrantische und Geflüchtete Tagelöhner:innen aus.

Unter diesem Deckmantel wird ein fortdauerndes Gedeihen der Rechten ermöglicht, was wir an Phänomenen wie Trump, Bolsonaro, Meloni, an rassistischen Gewalttaten, an rechten Netzwerken in Staatsbehörden, und so weiter, beobachten können.

Wir als Linke müssen dem eine klare Kante gegen Rechts entgegensetzen: Nicht mit der bürgerlichen Regierung, sondern gegen sie! Diese muss auf der Kraft der Arbeiter:innenklasse fußen und die materiellen und ökonomischen Ursachen des Rassismus angehen. Wir müssen dafür kämpfen, dass unsere Gewerkschaften die Kämpfe gegen Rassismus und rechten Terror vorantreiben und nicht ignorieren. Und wir müssen verhindern, dass in der aktuellen Krisensituation die Rechte erstarkt. Wir dürfen keine Wiederholung von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen zulassen.

Wir stehen in Solidarität und kämpferischer Trauer mit den Hinterbliebenen der Opfer rechter Gewalt und mit den Familienangehörigen von Mevlüde Genç. Erinnern heißt kämpfen!

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