TheseXI Nr. 2: Ein Jahr revolutionärer Prozess

24.01.2012, Lesezeit 9 Min.
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“TheseXI” erscheint regelmäßig an der Uni Potsdam. Es wird von unabhängigen, am Marxismus interessierten Studierenden erarbeitet und von RIO gefördert. Die publizierten Inhalte stellen nicht unbedingt die Ansichten von RIO da. Ziel ist die Etablierung einer offenen Arbeitsgruppe an der Uni Potsdam, die marxistische (Selbst-)Bildungsarbeit und Praxis entfaltet. Die zweite Ausgabe beinhaltet u.a. kurze Analysen zu den sozialen Bewegungen 2011. Die Ausgabe gibt es als PDF, die einzelnen Artikel stehen unten:

Ein Jahr revolutionärer Prozess

Vor fast genau einem Jahr, am 25. Januar 2011, begannen die revolutionären Massenproteste in Ägypten. Nur 17 Tage später folgte der erzwungene Rücktritt Hosni Mubaraks. Damit wurde der Tahrir-Platz, den auf dem Höhepunkt zwei Millionen Protestierende besetzt hielten, zum Symbol für den Arabischen Frühling.

Doch dieser Sieg war verbunden mit der Machtübernahme des obersten Militärrats. Trotz einiger Veränderungen auf der politischen Ebene hat sich seitdem an den eigentlichen sozialen Problemen im Land nichts geändert. Von den Forderungen der Demonstrant_innen* wurde nur ein Bruchteil überhaupt erfüllt – gleichzeitig wurde versucht, weitere Proteste zu kriminalisieren und sie als Unruhestiftung und “Gefährdung der Revolution” zu brandmarken.

Obwohl sich die Wut vieler Ägypter_innen durch den anfänglichen Erfolg beruhigen ließ, wird ihnen nun zumindest nach und nach klar, dass sie den revolutionären Prozess nur vollenden können, wenn sie ihn wieder in ihre eigenen Hände nehmen.

Das Regime bleibt intakt

Dabei ist es eigentlich keine Überraschung, dass das Militär den unterdrückten Massen nicht die erhofften Fortschritte bringt: Die Mitglieder des neuen Militärrats sind zumeist Generäle, die auch unter Mubarak oder vorangegangenen Präsidenten als Minister gedient haben. Sämtliche Präsidenten der letzten Jahrzehnte kamen aus den Reihen der Armee, die außerdem fast die Hälfte der gesamten Wirtschaft kontrolliert. Die obersten Generäle gehören also gleichzeitig zu den reichsten Kapitalist_innen des Landes und profitieren unmittelbar von der massiven Ausbeutung der ägyptischen Arbeiter_innen. Mubaraks Rücktritt war letztendlich nur ein Zugeständnis, um die Massen zu beruhigen und nicht das gesamte Regime zu gefährden.

Unterstützt wird das Militär von den USA, die jedes Jahr 1,3 Milliarden US-Dollar als “Militärhilfe” in die Kassen der Generäle fließen lassen – in den letzten Jahren ebenso wie auch 2012. In ihrem Streben nach besseren Arbeitsbedingungen, höheren Löhnen und bezahlbaren Lebensmitteln brauchen die Ägypter_innen also nicht auf die Hilfe der “westlichen Demokratien” zu hoffen.

Durch die Wahl eines neuen Parlaments sollte der neuen Ordnung nun ein demokratischer Anstrich verliehen werden. Hier konnten islamische Parteien einen eindeutigen Sieg erringen, die zwar hin und wieder das Militär kritisieren aber im Zweifelsfall eng mit diesem zusammenarbeiten.

Die Rolle des Proletariats

Gegen die Verbrechen und die illegitime Herrschaft des Militärs gehen auch jetzt wieder Hunderttausende auf die Straßen. Im November waren es fast wieder eine Million in Kairo, denen mit brutaler Repression begegnet wurde. In den vergangenen Monaten sind so tausende Menschen bei Straßenschlachten und Übergriffen der “Sicherheitskräfte” verletzt und mehr als 100 durch scharfe Munition, Tränengas und Gummigeschosse getötet worden.

Es soll um jeden Preis verhindert werden, dass die Proteste auf den Straßen sich mit den immer wieder aufkeimenden Kämpfen der Arbeiter_innen verbinden und die Profite der Kapitalist_innen ernsthaft gefährden. Dass diese Möglichkeit besteht, zeigte sich unter anderem bei den Streiks der Textilarbeiter_innen in der Region Mahalla: Diese forderten bereits 2008 nicht nur die Verbesserung ihrer eigenen Situation sondern einen Mindestlohn für alle ägyptischen Arbeiter_innen. Auf diese Bedrohung antwortete das Regime mit massiver Repression. Doch als die Arbeiter_innen sich dort und an anderen Orten im Januar 2011 mit Streiks und Besetzungen den Protesten anschlossen, trug dies entscheidend zur Destabilisierung von Mubaraks Herrschaft bei.

Voran zur sozialen Revolution!

Die Protestierenden müssen diese entscheidende Rolle der Arbeiter_innen anerkennen und eine Einheit zwischen den Mittelschichten, der Jugend und der Arbeiter_innenklasse schaffen. Die kraftvollen Wellen eines Generalstreiks können für die imperialistischen Regime, die Ägypten kontrollieren, eine gefährlichere Erosion bedeuten als jede Platzbesetzung.

Von den Geldern des US-Kapitals finanziert, ist der Militärrat selbst unfähig, die demokratischen Forderungen der ägyptischen Massen zu erfüllen. Ebenso werden die aus den Wahlen hervorgehenden Parteien die Ketten der neo-kolonialen Abhängigkeit weder sprengen können, noch wollen. Der Grund dafür besteht in den sozialen Strukten Ägyptens, wie u.a. dem Mangel an einer unabhängigen bürgerlichen Klasse, auf die sich der liberale Flügel der Muslimbruderschaft stützen könnte.

Die Arbeiter_innenklasse profitiert hingegen nicht von der halb-kolonialen Abhängigkeit Ägyptens. Sie ist die Klasse, die die demokratischen Forderungen der Protestierenden erfüllen kann. Nimmt sie diese Aufgaben in die Hand, kann aus dem demokratischen Afustand eine soziale Revolution werden.

Abc des Marxismus: Arbeiter_innenklasse

Diese Zeilen widmen wir einer ausgestorbenen Spezies: Den Arbeiter_innen. Von denen ist ja bekanntlich nicht mehr viel übrig. Die Arbeiter_innenklasse verschwand so irgendwann zwischen 1920 und 1940 aus unserer Flora und Fauna und Klassen gab es kurze Zeit später auch nicht mehr; wahrscheinlich hat die Nachfrage danach nachgelassen. Manchmal begegnet man aber noch einer Teilspezies dieser ausgestorbenen Gattung: den Marxist_innen.

Solche reden tatsächlich von den Gespenstern, als lebten sie noch im Kapitalismus. Dabei ist doch die ganze Welt längst Dienstleistungsgesellschaft. Menschen leben heute von Massagen und Taxi-Fahrten und nicht mehr von Brot und Industrieprodukten. Doch damit nicht genug. Die Marxist_innen behaupten obendrein, dass auch Dienstleistungsunternehmen Arbeiter_innen beschäftigen würden. Heute gibt es doch nur noch Angestellte! Statt Lohn gibt es Gehalt, und das ist wirklich ganz was anderes: Im Gegensatz zum Arbeiter_innenlohn schützt es uns vor der Konkurrenz und den Krisen der Konzerne. Ansonsten hätte es nach 2008 glatt Streiks gegeben. In Griechenland oder den USA oder so. Vor allem haben diese Marxist_innen wohl vergessen, dass heute niemand mehr selber arbeitet. Angestellte sind doch keine Arbeiter_innen sondern „Arbeitnehmer_innen“. Die „Arbeitgeber_innen“ aus den Chef-Etagen verkaufen uns deren – in mühevoller Handarbeit produzierten – Arbeits-Einheiten, für die wir zu Recht dankbar sind.

Mensch, wenn wir die eigentliche Arbeit verrichten würden und Unternehmen uns die geschaffenen Produkte unter Wert gegen Lohn abkaufen würden, dann käme man ja auf abstruse Ideen. Nachher fiele uns noch ein, die Wirtschaft in die eigene Hand zu nehmen, wenn wir doch eh schon allen Wert selber schaffen würden…

Jahresrückblick 2011

Ein Jahr großer Klassenkämpfe liegt hinter uns. Die allgemeinen Übel des Kapitalismus, die seit dem Krisenausbruch 2008 eine stetige Steigerung historischen Ausmaßes erfahren, haben weltweit radikale Widerstandsbewegungen provoziert.
2011 begann mit revolutionären Erhebungen. In Ägypten haben sich breite Teile der Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung aufgelehnt und einen ersten Teilsieg errungen: Die herrschende Klasse musste Mubarak absägen. Doch die Herrschaft der vom Westen abhängigen Militärdiktatur beweist den kämpfenden Massen Nordafrikas, dass der Kampf nicht nur weitergehen muss, sondern nur im internationalen Rahmen gewonnen werden kann.

Das Potential dafür ist da: Die revolutionären Prozesse in der arabischen Welt strahlten zunehmend über den gesamten Erdball aus. In Spanien, Chile und Russland entwickelten sich große, soziale Bewegungen. Unter dem Ausruf #Occupy formte sich selbst im Herzen des US-Imperialismus Widerstand.

Doch der Sieg ist nicht gewiss. Mit direkten und indirekten Niederschlagungen von Aufständen artikulierten die mächtigsten Teile der herrschenden Klasse ihren Anspruch, nicht so leicht abtreten zu wollen. Mit der Intervention in Libyen eroberten sich die Nato-Mächte einen Fuß in der Tür der sozialen Umwälzungen. 2012 werden sich diese Kämpfe fortsetzen. In Europa kommt die griechische Arbeiter_innenklasse nicht zur Ruhe. Das von oben eingesetzte Parlament bereitet neue soziale Einschnitte vor und zwingt die lohnabhängige Bevölkerung auf die Straße.

Auch wir, als Studierende und Lohnabhängige der imperialistischen Zentren, werden all dem nicht mehr lange nur als Zuschauer_innen beiwohnen können. Durch staatlich subventionierte Prekarisierungs-Strategien nach Innen und imperialistische Kompensationen nach Außen konnte die herrschende Klasse der BRD einer schärferen Klassen-Konfrontation im Inland bisher zuvorkommen. Doch 2012 könnte sich das ändern. Das neue Jahr kann heiß werden!

Alle guten Dinge sind 3

2010, 2011 und jetzt auch 2012! Nazi-Aufmärsche blockieren!

Bereits in den letzten Jahren kamen Zehntausende nach Dresden, um den so genannten Gedenkmarsch tausender Faschist_innen aus ganz Europa im Zusammenhang mit der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 zu verhindern. Die Strategie der Massenblockaden bewährte sich. Aus ganz Deutschland fuhren Busse nach Dresden, aus Berlin kamen letztes Jahr 50.

Der Protest richtet sich dabei gegen den Geschichtsrevisionismus, der von den Nazis propagiert wird. So bezeichnen Nazis die Bombardierung Dresdens als „Bombenholocaust“, was ebenso kriminell wie absurd ist. Die Tatsache jedoch, dass der Aufmarsch mehrere Male reibungslos über die Bühne gehen konnte und die staatliche Repression des Landes Sachsen vor allem friedliche Antifaschisten_Innen traf, zeigt den Umgang der Stadt Dresden und des Landes Sachsen mit diesem Protest. Noch heute laufen Verfahren gegen Blockierende u.a. wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung oder Versammlungssprengung, die zu Haftstrafen führen können.

Davon unbeeindruckt formiert sich auch dieses Jahr das Bündnis „Dresden-nazifrei“ und bekommt prominente Unterstützung von „Die Ärzte“ und „Die Prinzen“. So werden auch in diesem Jahr voraussichtlich Zehntausende nach Dresden kommen, um sich den Faschist_innen in den Weg zu stellen.

Nach aktuellem Stand wollen die Nazis am 13. als auch am 18. Februar durch Dresden marschieren.

Kurz um: Fahrt nach Dresden, unterstützt die Blockaden und zeigt den Faschist_innen und der sächsischen Regierung, dass sich die Stadt diesen Aufmarsch nicht länger gefallen lässt.

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