Subversion oder Revolution?

13.08.2023, Lesezeit 9 Min.
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CSD München 2022. Foto: Ayrin Giorgia / Klasse Gegen Klasse

Jedes Jahr zum Pride Month kleben sich Unternehmen Regenbogenlooks an, während kämpferische Queers dagegen probieren die Tradition von Stonewall hochzuhalten. Wie können wir queere Unterdrückung wirklich beenden?

Queeres Leben wird überall auf der Welt unterdrückt. In über 60 Ländern steht Homosexualität unter Strafe. In großen Teilen der Welt wird trans als Krankheit stigmatisiert und queere Menschen, insbesondere trans Personen, sind struktureller und materieller, oft auch tödlicher, Gewalt ausgesetzt. Gerade im Juni scheint all dies aber wie ein Horrorgespenst der Vergangenheit zu wirken. Vor jedem Amt hängt eine Regenbogenfahne und bei Burger King gab es letztes Jahr Burger mit zwei Unterseiten.

Innerhalb der queeren Szene gibt es verschiedene Vorstellungen, was das Ziel der Bewegung sein sollte. Einige wollen mehr Repräsentation, queere CEOs und Rainbow Capitalism, in dem auch queere Personen an dem ungleichen Kampf um einen Anteil am Kapital teilnehmen, in Konkurrenz kämpfen und sich auf den Kosten der Arbeiter:innen bereichern. Anderen geht es um Reformen, die mehr Gleichheit vor dem Gesetz oder bessere medizinische Versorgung schaffen sollen. Auch wir stehen für die Gleichheit vor dem Gesetz und die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen von Queers. Aber Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht Gleichheit vor dem Leben. Wir denken, dass die materiellen Ursachen der Unterdrückung von Queers bekämpft werden müssen, damit diese beendet werden kann.

Was ist Geschlecht überhaupt?

In der Debatte um Strategien zur Befreiung von Queers spielt Judith Butler eine besondere Rolle. Die amerikanische Philosophin ist die Begründerin der Queer Theory, auf die sich viele Aktivist:innen beziehen und die Diskurse enorm beeinflusst hat. Sie entwickelte ihre Theorie in den 90er Jahren in der Auseinandersetzung mit dem Radikalfeminismus. Diese Strömung verkörperte ein binäres und biologisches Bild. Bis heute schließen viele Radikalfeministinnen trans Frauen aus ihrem Feminismus aus. In deren Verständnis gehören Männer und Frauen zu zwei unterschiedlichen sozialen Klassen und können deshalb auch nicht gemeinsam kämpfen. Butler stellte die Frage auf, was denn überhaupt Frau sei. Sie bezog sich auf Simone de Beauvoir, die geschrieben hatte: “Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.” Für Butler existieren Körper und Geschlecht nicht außerhalb des Diskurses. Sie entstehen erst, wenn über sie gesprochen wird, Definitionen entwickelt und somit Geschlechter konstruiert werden. Butler nutzt die Begriffe Sex und Gender, die auf deutsch häufig mit biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität übersetzt werden. Dabei sagt Butler ganz klar, dass es kein biologisches Geschlecht gibt, sondern ihnen erst durch die Bezeichnung und die Zuordnung von gewissen Geschlechtsorganen ein Geschlecht gegeben wird. Geschlecht ist also nichts Natürliches, sondern konstruiert und performativ. Es wird durch erlernte, wiederholte Praktiken, wie Handlungen, Gesten oder auch bestimmte Vorstellungen von Begehren, geformt. Geschlecht funktioniert als disziplinierende Machtstruktur: In der Vorstellung von sich zwei entgegengesetzten und einander anziehenden Geschlechtern wird das gesellschaftliche Leben so strukturiert, dass Weiblichkeit abgewertet und als dem Männlichen unterlegen konstruiert wird.

Diese Illusion der Zweigeschlechtlichkeit wird im Kapitalismus diskursiv aufrechterhalten, um die unbezahlte Reproduktionsarbeit in der Kleinfamilie zu sichern. Wenn Menschen nämlich beginnen in Frage zu stellen, ob das mit den zwei Geschlechtern stimmt, ob Frauen immer Männer begehren müssen, ob sie Frauen sind und ob irgendwas davon bedeutet, dass es gerechtfertigt ist, wenn sie unbezahlt Arbeit leisten, als irgendwie “natürliche Aufgabe” – dann ist das ein Moment der Störung der kapitalistischen Logik. Dieses System benötigt die ausgelagerte Reproduktionsarbeit in die Familien, um Arbeitskraft ausbeuten zu können. Aber auch hier hat das Kapital seine Möglichkeiten der Einbindung gefunden: queere Pärchen dürfen in vielen Ländern der Welt heiraten. Ein wichtiges Grundrecht, das hart erkämpft wurde. Aber auch eine Einbindung in die Institution, die seit Jahrhunderten genau diese Logik von Kleinfamilien aufrechterhält. Solange irgendwer zuhause putzt, kocht, die Kinder pflegt und die Wäsche macht, können auch zwei Männer zusammen leben. Dennoch wird das Ausbrechen aus dieser Einheit von Sex, Gender und Begehren, also Homo-, Bi-, Pansexualität oder trans oder inter sein, immer noch mit Gewalt bestraft. Aber in Butlers richtigen Analysen über konstruiertes Geschlecht fehlt die grundlegende Rolle des Kapitalismus:

„Butlers politische Überlegungen finden im von ihr nicht benannten Rahmen des kapitalistischen Systems statt. Bei ihr ist Ausbeutung das Unaussprechliche und Produktion lediglich symbolisch. Dieser unaussprechliche Kapitalismus ist die unhinterfragbare Grenze von Butlers politischer Vorstellungskraft, das »nicht Gesagte« und damit das nicht Dekonstruierbare.” – Andrea D’Atri1

Wenn Butler also sagt, Sprache sei Macht, aber nicht über die materiellen Ursachen von queerer Unterdrückung spricht, können wir diese auch nicht überwinden. Butlers Perspektive liegt in der Subversion: In interpersonellen Handlungen sollen laut Butler die Grenzen des Diskutierbaren verschoben werden. Geschlechterrollen fänden in der Performance ihren Ausdruck und könnten so auch parodiert werden.

Das ist jedoch nicht unsere Strategie. Wir wollen eine revolutionäre Partei aufbauen, eine kollektive Kraft der Arbeiter:innenklasse. Unser Ziel ist der Umsturz des herrschenden Systems, nicht dieses zu unterlaufen.

Denn die Strategie des ewigen Widerstands, der Subversion, des Unterlaufens, führt schlussendlich nur dazu, sich entweder kleine „Freiräume“ zu suchen, in denen dann abgekapselt ein anderes Leben probiert wird. Oder dazu, Stück für Stück radikale Positionen zu verlassen und assimiliert zu werden. Dass der Kapitalismus überaus anpassungsfähig ist, sehen wir jedes Jahr im Juni besonders deutlich. Er braucht Spaltungslinien und Unterdrückung. Aber er kann diese variabel gestalten. Auf der Ebene der individuellen Freiheiten und des Diskurses zu bleiben bedeutet den Kapitalismus maximal ein bisschen queerer aussehen zu lassen, aber die Ursachen nicht zu lösen.

Wer ist der Feind?

Die Gay Liberation Front, hervorgegangen aus den Stonewall Riots, hat im New York der 1970er Jahre zu offenen Treffen eingeladen. Alle Queers konnten kommen und mitdiskutieren. Entscheidungen wurden im Konsens getroffen, also so, dass alle Personen der Position zustimmen müssen. Bei diesen Treffen wurde schnell deutlich, dass es unter Queers viele verschiedene und auch nicht miteinander vereinbare Positionen gibt.
Eine der Fragen war: Was ist das Ziel? Sollten queere Menschen für die Revolution kämpfen? Was ist die Revolution überhaupt? Mehrheitlich wurde Revolution als ein kulturelles Konzept gedacht, der marxistische Gedanke des Umsturzes der Produktionsverhältnisse war kaum präsent. Auch die Frage, wer eigentlich der Feind ist, konnte nicht im Konsens geklärt werden. Einige sahen in Männern den Feind, wie die oben angesprochenen Radikalfeministinnen. Andere in heterosexuellen Cis-Personen. Wieder andere vertraten die Ansicht, dass der Staat und das Kapital der Feind sind.

Für uns als (queere) Marxist:innen ist klar: Dieser Staat ist kein neutraler, sondern ein Klassenstaat. Deshalb wollen wir ihn zerschlagen, um eine klassenlose Gesellschaft erreichen zu können. Aber nicht alle Queers wollen das. Für manche Queers ist die Assimilation ins kapitalistische System das Ziel. Deutlich wird das aktuell bei der Bundeswehr: Auch trans Personen dürfen jetzt für den deutschen Imperialismus in den Krieg ziehen und die Welt unterwerfen, welch ein Erfolg für die queere Bewegung…

Jens Spahn, Alice Weidel… Auch sie sind betroffen von Unterdrückung. Aber sie stehen auf der Seite, die gegen die Interessen der Mehrheit der Queers kämpft. Denn die Unterdrückung trifft zwar alle queeren Menschen, aber nicht alle gleich stark. Sie dient der Unterwerfung von queeren Arbeiter:innen und Armen. Ihre Körper werden diszipliniert, damit die kapitalistische Produktionsweise nicht gefährdet wird. Gerade durch den Aufstieg einzelner kann die Illusion eines fairen, freien Systems, indem jede:r es schaffen kann, umso besser aufrechterhalten werden. Doch das ist eine Lüge. Uns trennt die Klassenzugehörigkeit.

Queere Befreiung heißt sozialistische Revolution

Auch all die entstandenen NGOs bieten kein Ende der Unterdrückung, sondern stellen nur eine Symptombekämpfung gegen die tödlichsten Auswüchse des patriarchalen Kapitalismus dar. Mit dem „Marsch durch die Institutionen“ wird der queeren antikapitalistischen Bewegung die Luft aus den Segeln genommen: Aktivist:innen wird vorgegaukelt, sie können ja ihren Aktivismus auch einfach bezahlt in einer NGO betreiben. Aber auf einmal ist eine eigene Meinung und unabhängige Organisierung unmöglich, wenn man seinen Job nicht verlieren will.

Unser Ziel ist die Beseitigung der materiellen Grundlage unserer Unterdrückung. Erst dann können wir das Leben und die Liebe, die wir wollen, überhaupt erreichen.
Gender Rollen werden gebraucht, um die Ausbeutung von unbezahlter Reproduktionsarbeit nutzen zu können, um uns in besser und schlechter Bezahlte zu spalten, in Festangestellte und Outgesourcte, in Arbeiter:innen und Arbeitslose. Deshalb müssen wir das Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, sodass sich niemand mit der Arbeitskraft anderer bereichern kann. Nur dann werden wir die materielle Basis für queere Befreiung erreichen.

Diejenigen, die unsere Verbündeten im Kampf gegen Sexismus und Queerfeindlichkeit sind, sind die Arbeiter:innen. Viele von ihnen sind selbst von Unterdrückung betroffen, aber vor allem sind sie diejenigen, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess das kapitalistische System stürzen können. Sie schaffen die Profite, sie transportieren die Waren und sie können genau das auch blockieren. Die Arbeiter:innen können durch Streiks den Kapitalismus an seinem empfindlichsten Punkt treffen. Sie können eine neue Form der Produktion unter ihrer eigenen Kontrolle beginnen.

In einer Welt, in der Konkurrenz und Profit keinen Platz mehr haben, können wir endlich wirklich queere Befreiung erkämpfen!

Fußnoten
1. Brot und Rosen: Geschlecht und Klasse im Kapitalismus. Argument Verlag, Hamburg 2019, S.215-216.

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