Stehen wir vor einer neuen Intifada?

15.10.2015, Lesezeit 7 Min.
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// Die große Welle der Gewalt, die seit einigen Wochen über Jerusalem und das Westjordanland hinwegzieht, fiel nicht vom Himmel. Sie ist das Ergebnis der Kolonialpolitik des Staates Israel, die sich in den verschiedenen Regierungen von Netanyahu verstärkte. //

Noch ist nicht klar, ob es zu einer aktiven und fortwährenden Widerstandsbewegung wie während der beiden Intifada 1988 und 2000, jedoch mit anderen Merkmalen, kommt. Es ist jedoch klar, dass der Israel-Palästina-Konflikt in eine neue Etappe eintritt.

Die neue Gewaltspirale begann mit dem Tod von vier Israelis, die zwei unterschiedlichen Angriffen zum Opfer fielen, die der Hamas und dem Islamischen Dschihad zugesprochen werden.

Die Israelische Regierung antwortete mit der Anwendung der Mitte September beschlossenen Sicherheitsmaßnahmen. Der „Krieg gegen die Steinwerfer“ des Ministerpräsidenten Netanyahu beinhaltet die Benutzung von Metallgeschossen für die Repression von Protesten und bis zu vier Jahre Gefängnis für diejenigen, die Steine werfen, ein Symbol für den Ursprung der palästinensischen Rebellion gegen die Besetzung.

Typisches Agieren eines Kolonialstaates

Netanyahu verbot den Eintritt von Palästinenser*innen in die Altstadt von Jerusalem, befahl eine eingeschränkte Bombardierung des Gaza-Streifens und nahm fünf Palästinenser fest, die der Teilnahme in Hamas-Zellen und der Durchführung einer der Angriffe auf Israelis beschuldigt wurden. Außerdem befahl er die sofortige Zerstörung von zwei Häusern von angeblichen „Terrorist*innen“, eine „beispielhafte“ Strafe für jeden Kolonialstaat.

Da sich die Politik von Netanyahu auf die Unterdrückung des palästinensischen Volks beschränkt, hat die staatliche Repression wahrscheinlich seinen Höhepunkt noch nicht erreicht.

Dazu kommen die Angriffe der Siedler*innen, die so unterschiedliche Ziele wie Häuser oder Krankenwagen und -häuser haben. Einer der erschreckendsten Angriffe war der Brand eines Hauses in Duma im Zentrum des Westjordanlands, bei dem eine dreiköpfige Familie mit einem 18 Monate alten Kind ums Leben kamen.

Die Siedler*innen üben einen enormen Druck sowohl von der Straße – am vergangenen Monat beispielsweise protestierten sie vor dem Wohnsitz von Netanyahu in Jerusalem für die Ausweitung der Siedlungen – als auch vom Parlament aus, wo sie eine starke Vertretung haben.

Die harte Antwort der israelischen Regierung erweckte eine Mobilisierungswelle in der Nähe von Refugee-Camps, Kontrollpunkten und Siedlungen, an denen vor allem Jugendliche teilnahmen. Die Repression tötete mindestens zwei palästinensische Jugendliche und hunderte Verletzte, zahlreiche von ihnen durch Schusswunden.

Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, hält die Zusammenarbeit mit der israelischen Armee in Sicherheitsfragen aufrecht und die palästinensische Polizei bekämpfte die Mobilisierungen. Trotzdem beschuldigte Netanyahu sie, die Gewalt zu befeuern.

Es drängt sich die Frage auf, ob wir vor dem Beginn einer neuen palästinensischen Erhebung stehen, einer dritten Intifada mit Zentrum im Westjordanland und Jerusalem. Seit mehreren Monaten, wenn nicht sogar seit einem Jahr, ist dies Diskussionsthema in den wichtigsten Medien, sowie in den Büros der zionistischen Geheimdienste und der palästinensischen Regierung.

Trockener Heuhaufen

Auch wenn die Intensität und das Niveau der Gewalt und Massivität noch weit unter den vorherigen Erhebungen steht (Ist es überhaupt angebracht von einer deckungsgleichen Wiederholung auszugehen?), hat sich ein großer Haufen trockenen Heus angehäuft und es gibt zahlreiche Funken, die den Brand auslösen können.

Nach einer Umfrage des Palestinian Centre for Policy and Survey Research in Gaza und dem Westjordanland vom 17. bis zum 19. September liegen die Popularität des palästinensischen Präsidenten sowie die Aussichten auf ein Ergebnis der Verhandlungen am Boden. Einige Zahlen erklären die Ausmaße der Unzufriedenheit.

65 Prozent wollen den Rücktritt des Präsidenten Abbas. Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde sich der ehemalige Ministerpräsident Ismail Haniyeh gegen Abbas durchsetzen. Zwei Drittel glauben, dass die Palästinensische Autonomiebehörde nicht genug macht, um die palästinensischen Städte vom Terrorismus der Siedler*innen zu schützen und würden sich selbst als Freiwillige für eine Bürgerwehr bereiterklären, um diese Gebiete zu überwachen.

Angesichts des Scheiterns jeglichen Friedensprozesses sind 57 Prozent für die Wiederaufnahme der bewaffneten Intifada. 51 Prozent spricht sich gegen die Zwei-Staaten-Lösung aus. Und 42 Prozent glauben, dass die effektivste Form zum Erreichen eines palästinensischen Staates (selbst neben einem israelischen Staat) der bewaffnete Weg ist. Nur 29 Prozent treten für den Weg der Verhandlungen ein.

Wie weiter?

Zahlreiche Faktoren erklären den Popularitätsverlust von Abbas und der Fatah und die Legitimationskrise der Palästinensischen Autonomiebehörde. Zu aller Erst liegt dies an der Rolle Abbas, als Sklave der Politik Israels und der Vereinigten Staaten. Die Rede vor den Vereinten Nationen über das Ende der Einhaltung der Oslo-Verträge von palästinensischer Seite kommen zu spät (der Oslo-Prozess ist schon seit Jahren beendet) und vollkommen unzureichend, um etwas an Glaubhaftigkeit zurückzugewinnen. Das gleiche gilt für seine Drohung, die Sicherheitszusammenarbeit mit dem Israelischen Staat fallen zu lassen. Die skandalöse Korruption der Palästinensischen Autorität belasten ihn im Rahmen einer bedeutenden Verschlechterung der Lebensbedingungen der Palästinenser*innen (vor allem im Gaza-Streifen unter israelischer Besatzung).

Doch möglicherweise ist es falsch, eine Neuauflage der „Intifada“ zu erwarten. Die Ausschreitungen im Westjordanland und in Jerusalem sprechen für den Einfluss, den die neue geographische Zusammensetzung der palästinensischen Gebiete und die politische Schwäche der traditionellen Führungen der palästinensischen nationalen Bewegung auf den Widerstand haben.

Die Ausdehnung der Siedlungen veränderte die Zusammensetzung. Die palästinensischen Städte sind fragmentierter und durch Mauern, Zäune, Kontrollpunkte, Militärstützpunkte und nur für Siedler*innen befahrbare Wege isoliert. Auf der politischen Ebene wiegen die Spaltungen zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation und der Hamas schwer. Dazu kommt das Gewicht von radikaleren Organisationen und die größere Autonomie von lokalen Anführer*innen.

Die Nähe zu den Siedler*innen und die Politik der „Judaisierung“ Jerusalems im Rahmen einer Regierung, die von der zionistischen extremen Rechten dominiert wird, machen die Zusammenstöße nicht nur während der Mobilisierungen sondern sogar durch Gruppen von Jugendlichen oder Individuen zu etwas Alltäglichem. Jeder kleine Konflikt kann schnell den Heuhaufen entzünden.

Es ist möglich, dass sich ein solches Entflammen durch die Repression von Netanyahu und die Zusammenarbeit von Abbas kontrollieren ließe. Doch das Fass befindet sich kurz vor dem Überlaufen.

Das sind auch schlechte Nachrichten für die USA als engster Verbündeter des Staates Israel (auch trotz der Spannungen zwischen Obama und Netanyahu), die ihren Höhepunkt in dem Atom-Abkommen zwischen den USA und dem Iran hatten. Dies brachte Netanyahu dazu, neue Verbündete zu suchen und brachte ihn sogar näher an Russland ran, um unnötige Zusammenstöße auf syrischem Gebiet und besonders in den Golan-Höhen zu vermeiden.

Die Intensivierung des Israel-Palästina-Konflikts bringen eine zusätzliche scharfe Note zum politischen Chaos im Nahen Osten, dass durch die Krise in Syrien, das Fortbestehen des Islamischen Staates, die Militärintervention Russlands und die Verschlechterung der militärischen Bedingungen in Afghanistan geprägt ist.

Die Originalversion des Artikels ist auf La Izquierda Diario erschienen.

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