Soziale Arbeit im Kapitalismus: Ein Erfahrungsbericht

08.01.2024, Lesezeit 8 Min.
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Ein Erfahrungsbericht einer Sozialistin über die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit bei einem freien Träger. Inzwischen arbeitet unsere Autorin in einer anderen Einrichtung.

Sonntag Abend, 22 Uhr: Ich verlasse meine Arbeitsstelle, eine Mutter-Kind-Wohngruppe, um mit Freund:innen ins Kino zu gehen. Leider eine halbe Stunde später als geplant, da meine Ablösung nicht kam. Die Kollegin, die Nachtdienst hat, ist eine Vertretung aus einer anderen Einrichtung – unsere Leitung hat schlicht versäumt, ihr unsere Dienstzeiten zu übermitteln. Ein einfach zu vermeidender Fehler, der dazu führt, dass ich eine Panikattacke am Bahnsteig bekomme und den Anfang des Films knapp verpasse.

Neulich musste ich spontan nach meinem Nachtdienst bis 14:30 Uhr auf der Arbeit bleiben, fünf Stunden länger als laut Dienstplan vorgesehen. Ich hatte nichts zu Essen mit, glücklicherweise wohnt mein Freund in der Nähe und konnte mir Frühstück vorbeibringen. Ich habe Schwierigkeiten, mir die Wochentage zu merken, die Wochen und Monate rasen an mir vorbei. Das ist wahrscheinlich eine Eigenart, die der Schichtdienst mit sich bringt.

An sich wäre Schichtdienst kein so großes Problem, wenn wir dafür ordentlich bezahlt werden würden, einen besseren Personalschlüssel und weniger Stunden hätten. Bis vor kurzem wurde uns nachts ein Viertel der Stunden als Pause abgezogen, da wir ja schlafen würden. Dies führte dazu, dass es schwieriger war, die Stunden vollzukriegen, wenn man in einem Monat viele Nachtdienste hatte. Auch einigermaßen anständige Sonntags- und Feiertagszuschläge bekommen wir erst seit diesem Jahr. Man hat das Gefühl, der Träger wirft einem ein paar Brotkrumen hin, wenn er merkt, dass mal wieder besonders viele Mitarbeiter:innen gekündigt haben. Da wir aber keinen Tarifvertrag haben, in dem unsere Arbeitsbedingungen festgelegt sind, könnte er diese Zugeständnisse jederzeit wieder zurücknehmen. Wir sind chronisch unterbesetzt, weil viele Kolleg:innen keine Lust und Kraft haben, sich weiter für den Träger aufzuopfern und das sinkende Schiff verlassen.

Wie geht es eigentlich den jungen Frauen, die wir betreuen, mit der Situation? Die Mütter, die bei uns wohnen, sind oft traumatisiert durch Flucht oder Beziehungsgewalt. Viele bräuchten eigentlich psychologische Unterstützung, die wir aber nicht leisten können. Wir begleiten sie zu Beratungsstellen, zum Beispiel zum Thema Asyl, jedoch ist dies aufgrund der Personalsituation nur eingeschränkt möglich. Sie leiden ebenso darunter, dass der Träger sehr langsam und bürokratisch arbeitet. Das Bestellen von neuem Besteck zog sich über Monate hin, eine Kinderwagenrampe für die Eingangstür ist noch lange nicht in Sicht. Die Mütter bekommen bei uns die Chance, zu lernen, mit ihrem Kind zusammenzuleben und für es zu sorgen. Viele von ihnen machen Fortschritte in der Zeit, in der sie hier sind und können schlussendlich alleine mit ihrem Kind leben. Es könnte ihnen aber noch viel effizienter geholfen werden, wenn mehr Geld in die Soziale Arbeit investiert werden würde – für Personal, aber auch für die Ausstattung der Einrichtung und für Ausflüge.

Mein Träger ist ein sogenannter gemeinnütziger Träger, eine gGmbH. Die Chef:innen möchten uns weiß machen, dass wir alle eine große Familie sind. Dabei gibt es große Unterschiede zwischen den Chef:innen und uns. Sie verdienen mehr und sie müssen weniger Dienste im Schichtdienst leisten. Vom Bürostuhl aus lässt es sich bequem zugucken. Bei einem sozialen Träger finden sich nicht nur soziale Menschen in den Leitungspositionen. So hielt unser Geschäftsführer in einem Mitarbeitergespräch einen Monolog darüber, warum geflüchtete Menschen seiner Meinung nach schlechter für ihre Kinder sorgen könnten als weiße deutsche Eltern. Dem Einwand einer Klientin, dass sie es unfair fände, dass sie trotz der Inflation nicht mehr Geld vom Jugendamt bekommen würde, wurde seitens einer Leitungskraft im internen Gespräch mit Spott begegnet statt mit Empathie.

Die ersten zwei Verträge bei unserem Träger sind auf je ein Jahr befristet. Das ist unter anderem eine Union-Busting-Strategie. Wenn Beschäftigte auf die Idee kommen würden, die Wahl eines Betriebsrats zu organisieren, eine Betriebsgruppe zu gründen oder sich zu kritisch gegenüber den Chef:innen oder dem Träger zu äußern (ob intern oder öffentlich), kann ihnen unkompliziert beim nächsten Mitarbeiter:innengespräch erzählt werden, dass die gemeinsame Zeit nun leider zu Ende sei.

Ich habe in der Vergangenheit erlebt, dass Kritik von Angestellten lächerlich gemacht wurde, zum Beispiel an der gesundheitlichen Belastung durch die Nachtdienste. Dann solle man sich halt einen anderen Job suchen. Für Überlegungen, wie man die Arbeit komfortabler gestalten könnte, gab es keinen Raum. Die Reaktionen auf Kritik kann man schon als Mobbing bezeichnen, welches durch die Leitung nicht unterbunden, sondern befeuert wird.

Meiner Meinung nach können wir als Beschäftigte im sozialen Bereich gar nicht unpolitisch sein. Ich sehe tagtäglich, wie die Inflation, die rassistische Migrationspolitik und die Schwierigkeiten, einen Kitaplatz und einen Ausbildungsplatz zu finden, das Leben unserer Klient:innen erschweren. Viele dieser Probleme können wir nicht durch gute sozialpädagogische Arbeit ausgleichen, da sie durch unser kapitalistisches Wirtschaftssystem bedingt sind. Wir können uns aber dafür einsetzen, diese Probleme zu bekämpfen. Und wir können für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, um unsere Klient:innen besser zu unterstützen.

Wir müssen uns gewerkschaftlich organisieren und die Führungen der Gewerkschaften dazu bringen, auch die Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen und sonstige Pädagog:innen, die keinen Tarifvertrag haben, stärker zu unterstützen und für sie eine Wiedereingliederung in das Land Berlin und einen Tarifvertrag zu erkämpfen. Denn aktuell haben viele Beschäftigte keinen Tarifvertrag, oder werden nur angelehnt an diesen bezahlt. Das ist oft der Fall, wenn Beschäftigte bei freien oder privaten Trägern angestellt sind. Sie sind sozusagen „outgesourct“, also Beschäftigte ohne Tarifvertrag und arbeiten im Vergleich unter schlechteren Arbeitsbedingungen. Sie werden auch nicht zu Streiks aufgerufen, weshalb wir unsere Gewerkschaftsführungen diesbezüglich auch unbedingt konfrontieren müssen.

Wenn ich gefragt werde, als was ich im Sozialismus arbeiten wollen würde, wenn mir alle Möglichkeiten offen stünden, sage ich ohne nachzudenken “Erzieherin”, so wie jetzt. Ich liebe meinen Beruf, auch wenn ich das oft vergesse. Es ist super schön und wertvoll, Menschen zu unterstützen und Kinder ein Stück ihres Lebens zu begleiten – die Welt, die für sie aufregend und neu ist, durch ihre Augen zu sehen, und sie dabei zu unterstützen, Neues zu lernen.

In einer Welt, in der nicht Leistungsdruck und die Angst, am Ende des Monats nichts mehr zu Essen zu haben, das Leben vieler Menschen bestimmen, würde die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine ganz andere Qualität erlangen. Die Schule wäre nicht mehr für viele ein Ort der Angst, sondern alle könnten sich im eigenen Tempo weiterbilden. Die Kitas wären nicht mehr überfüllt und lärmbelastet und für alle könnte sich die Zeit genommen werden, die sie brauchen. Die Wohngruppen könnten wirkliche Rückzugsorte für Menschen sein, in denen alle gerne Leben und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen.

Doch wir können nicht darauf warten, dass sich die Welt verändert, sondern müssen dies selbst in die Hand nehmen. Das können wir nicht alleine schaffen, sondern gemeinsam mit Menschen, die diese Verhältnisse bekämpfen möchten. Mit Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen, aber auch mit allen Beschäftigten der Arbeiter:innenklasse, die in prekären Verhältnissen arbeiten. Nur wir alle zusammen können eine Welt schaffen, in der alle genug haben zum Überleben und in der alle auch schön leben können – ganz nach dem Motto von Brot und Rosen.

Wenn auch du über deine Arbeit sprechen willst, schicke uns gerne deine Gedanken und Notizen an info@klassegegenklasse.org, damit wir einen Gastbeitrag daraus machen und für dich veröffentlichen können. Und wenn du darüber hinaus gerne mit uns diskutieren und gegen Prekarität und Ausbeutung kämpfen möchtest, organisier dich mit uns und werde aktiv bei unserer Arbeiter:innengruppe KGK Workers oder unserer Studierendengruppe Waffen der Kritik!

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