Schrei nach Öffentlichkeit: Schiebt meinen Freund nicht ab!

09.02.2017, Lesezeit 4 Min.
Gastbeitrag

Unsere Gastautorin schreibt einen Brief an Merkel, Deutschland und die deutschen Staatsbürger*innen. Der Grund: Ihr Freund soll abgeschoben werden.

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Am 25. Februar 2016 habe ich meine große Liebe gefunden. Auf Facebook. Für die heutige Gesellschaft ist dies wohl noch nicht einmal unüblich, jemanden in der virtuellen Welt kennenzulernen. Wir schreiben zuerst nur, dann werden es stundenlange Telefonate, aus den Telefonaten werden Videogespräche, aus den Videogesprächen wird das erste Treffen. Zu dem Zeitpunkt des Treffens sind wir uns noch nicht mehr fremd, denn die langen Gespräche haben uns schon vor dem Treffen miteinander verbunden.

Nach dem ersten Treffen ist nun endgültig klar, was zuvor noch unausgesprochen war: Das, was sich zwischen uns entwickelt hat, ist definitiv keine kleine Romanze, sondern etwas Großes, etwas Beständiges, etwas mit Zukunft. Aus einem Treffen werden zwei, aus zwei Treffen drei, aus drei Treffen vier, aus vier Treffen wird ein Kennenlernen zwischen ihm und meiner Familie, bis ich mir schließlich eine Arbeit in seiner Nähe suche und umziehe. Wir können uns täglich sehen, verbringen den Alltag miteinander, lernen uns noch besser kennen, meistern zusammen Höhen und Tiefen, und die Liebe wächst mit jedem Tag. Alles sieht nach einer gemeinsamen Zukunft aus.

Doch bei uns ist alles anders. Denn er ist Flüchtling.

Liebes Deutschland,
wie kannst du mir meinen Freund nehmen wollen? Wie kannst du so herzlos sein? Wie kannst du dir das Recht verschaffen, über unsere gemeinsame Zukunft zu entscheiden?

Liebe Angela Merkel,
wenn dieses Jahr das „Jahr der Abschiebungen“ wird, wird dieses Jahr auch das Jahr der Kälte, das Jahr des Hasses, das Jahr der Hoffnungslosigkeit, das Jahr der Tränen, das Jahr der gebrochenen Herzen, das Jahr der zerstörten Leben.

Liebe deutsche Staatsbürger,
wie könnt ihr einfach wegsehen, bei dem, was soeben passiert? Wie könnt ihr es teilweise sogar befürworten? Wie könnt ihr so wenig Empathie besitzen? Wie könnt ihr Angst haben vor einem Menschen, der selber aus Angst hierher gekommen ist? Wie könnt ihr nicht sehen, dass dieser Mensch nichts als Schutz sucht?

Liebes Leben, liebes Schicksal,
ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, oder was mein Freund falsch gemacht hat, dass du so mit uns umspringst. Wie kannst du dir nur immer die gleichen Opfer suchen? Er und ich hatten es beide bis jetzt nicht leicht im Leben. Was glaubst du, was er schon alles hinter sich hat? Wie viele schlimme Erfahrungen muss ein Mensch machen, dass er sich entschließt, sein Land zu verlassen, und dabei in Kauf nimmt, auf dieser Odyssee quer um den Globus noch ein Dutzend mehr schlimme Erfahrungen zu machen, wenn nicht sogar das eigene Leben zu verlieren? Dann finden wir uns, und es ist wie ein Geschenk des Himmels, dass wir uns finden. Das Leben bekommt solide, stabilisierende Wurzeln. Liebe, Wärme, Zusammenhalt, Geborgenheit. Auf einmal wird das Leben lebenswert, bekommt einen Sinn und eine Zukunft.

Und jetzt willst du, wollt ihr alles zerstören? MIT WELCHEM RECHT?

Was mache ich, wenn er gehen muss? Muss ich ihn ziehen lassen, oder folge ich ihm in die gleiche ungewisse Zukunft, die er vor sich hat?

Mit einem Schlag ist die Zukunft wieder ungewisser, sie baut sich vor uns auf wie ein undurchsichtiger Schleier. Woher wissen wir, wo wir enden werden? Wir sind machtlos gegen das starke System Deutschlands, bestehend aus unbrechbaren, unverständlichen, stark verschärften Regeln.

Wir rennen auf einen Abgrund zu, und wissen nicht, ob wir einen Fallschirm tragen.
Werden wir leben oder nicht?
Werden wir gemeinsam leben, oder nicht?
Werden wir beide leben, oder nur einer von uns?

Wir sind wie Schiffbrüchige bei hohem Wellengang. Wir klammern uns aneinander fest, während der Sturm um uns peitscht und uns mit salzigem, kalten Wasser durchnässt, und während die Wellen das zerstörte Boot auf und ab werfen, bleibt uns nur die irrsinnige Hoffnung, irgendwie gerettet zu werden, bei einem Wetter, bei dem sich niemand auf die hohe See wagt.

Alles, was wir uns zusammen aufgebaut haben, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Alles, was wir wissen, besteht darin, dass egal, was Deutschland machen wird, wir für immer zusammen bleiben werden, koste es, was es wolle.

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