Say her name! Proteste im Iran nach der Ermordung von Zhina Amini durch die Polizei

22.09.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: wikimedia commons

Im Iran sind Proteste ausgebrochen, nachdem eine junge Frau im Polizeigewahrsam ermordet wurde, weil sie den Hijab nicht „vorschriftsmäßig" getragen hatte. Vor dem Hintergrund einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise stellen die Iraner:innen auch ihr unpopuläres Regime und dessen brutale Unterdrückung von Frauen in Frage.

Am vergangenen Dienstagabend wurde Zhina (Mahsa) Amini, eine 22-jährige Kurdin, aus der Stadt Saqez in der Provinz Kurdistan, von der berüchtigten iranischen „Moralpolizei“ vor einer U-Bahn-Station in Teheran festgenommen. Sie wurde beschuldigt, ihren Hijab nicht korrekt getragen zu haben, und das in einem Land, in dem die Bedeckung der Haare und des Körpers von Frauen streng geregelt ist. Zeugenaussagen zufolge wurde sie geschlagen, während sie in einem Polizeiwagen saß, der sie ins Gefängnis brachte. Amini starb am Freitag im Krankenhaus, nachdem sie drei Tage im Koma gelegen hatte.

Die Polizei in Teheran wies die Verantwortung für ihre Ermordung sofort zurück und erklärte, sie sei einem „plötzlichen Herzversagen“ erlitten, während sie mit anderen Frauen in der Einrichtung auf ihre „Belehrung“ wartete. Die Verhaftung und der Tod von Amini lösten sofortigeProteste im ganzen Land aus, die zunächst vor dem Krankenhaus, in dem sie starb, begannen und sich dann auf andere Provinzen ausweiteten. In den sozialen Medien ist sie bereits zu einem Symbol für den Kampf gegen die Hijab-Pflicht und die Polizei in aller Welt geworden.

Der iranische Präsident Ebrahim Raisi hatte zwar die Familie von Amini angerufen, um sein Beileid auszudrücken, doch er bewältigt die „Krise“ der Proteste – eine der größten in seinem ersten Amtsjahr – vor allem durch das Niederschlagen der Iraner:innen, die auf die Straße gehen. Besonders stark lassen sich die Repressionen in den kurdischen Gebieten beobachten, in denen aus Protest gegen die Ermordung von Mahsa zu Generalstreiks aufgerufen wurde. Mindestens 10 Großstädte blieben seit Montag trotz brutaler polizeilicher Unterdrückung lahmgelegt.

Hunderte mutige kurdische Frauen, die gegen die Hijab-Pflicht protestierten, nahmen während Aminis Beerdigung ihr Kopftuch ab und schwenkten es in der Luft, während sie auf Kurdisch und Farsi skandierten: „Tod dem Diktator!“; „Töten für das Kopftuch, wie lange noch?“ und „Frau, Leben, Freiheit“. Die Sicherheitskräfte schossen später auf einige der Demonstrierenden und griffen viele mit Tränengas an, wobei mindestens 30 Personen verletzt wurden.

In anderen Teilen des Irans haben die Sicherheitskräfte den Internetzugang gekappt, Demonstrant:innen angegriffen und verhaftet, Menschen wahllos auf der Straße verprügelt und Aktivist:innen der feministischen Bewegung ins Visier genommen. Wie bei früheren Kämpfen stand die Studierendenbewegung bei der Organisation von Mobilisierungen an vorderster Front. Trotz der Präsenz repressiver Kräfte und potenziell schwerwiegender Folgen für die Studierenden brachen an den Universitäten im ganzen Land große Proteste aus.

In einer gemeinsamen Stellungnahme forderten vierzehn Studierendenorganisationen, unter anderem von der Amirkabir Universität, der Tarbiat Modares Universität und der Allameh Tabataba’i Universität, die Auflösung der „Guidance Patrol und der Moralpolizei, da sie eine der wichtigsten Institutionen der Repression im post-revolutionären Iran darstellen“.

Die Proteste haben nicht nur zu einer stärkeren Infragestellung der Polizei geführt, sondern auch zu einer stärkeren Infragestellung des Regimes in breiteren Teilen der Gesellschaft. Bei den Protesten verwenden die Demonstrant:innen regimefeindliche Slogans wie „Tod dem Chamenei“, womit sie sich auf den Obersten Führer des Landes Ali Chamenei beziehen. Andere Rufe lauteten: „Tod dem Diktator!“ und „Keine Angst! Wir sind alle zusammen!“ Wichtig ist, dass einige Demonstrant:innen die brutale autoritäre Herrschaft sowohl des von den USA unterstützten Schah-Regimes, das von 1941 bis zur Revolution von 1979 andauerte, als auch des derzeitigen islamischen Regimes verurteilen. Damit wenden sie sich gegen die monarchistische Perspektive einiger Iraner:innen, die für eine Rückkehr zur iranischen Monarchie mit dem Sohn des verstorbenen Schahs eintreten.

Die iranische Diaspora, zu der schätzungsweise mindestens sechs Millionen Iraner:innen weltweit gehören, hat ebenfalls aktiv Proteste gegen den Feminizid an Amini organisiert, insbesondere in Toronto, New York und einigen europäischen Großstädten.

Irans wachsende Spannungen

Der grausame Mord an Mahsa Amini und die daraus resultierenden sozialen Unruhen bilden einen schwierigen politischen Hintergrund für Raisi, der am Mittwoch vor der UN-Generalversammlung in New York spricht.

Raisi muss nicht nur die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung, sondern auch das Hinterfragen der Legitimität des iranischen Regimes, das starke theokratische Züge aufweist, überwinden. Diese politische Krise ist auch dadurch gekennzeichnet, dass sich die Kluft zwischen den beiden Flügeln, die die iranische Politik beherrschen, vergrößert: den „Reformern“ und den konservativeren „Hardlinern“. Bisher haben reformorientierte Persönlichkeiten wie der ehemalige Präsident Mohammad Chatami die Reaktion des Regimes auf den Tod Aminis in Frage gestellt. Der ehemalige Gesetzgeber Ali Motahari schrieb, er befürchte, dass die iranische Regierung durch diesen Vorfall in der internationalen Wahrnehmung auf einer Ebene mit den Taliban in Afghanistan gesehen werden könnte.
Andere Reformist:innen gingen noch weiter und haben Stellungnahmen gegen die Hijab-Pflicht und die sogenannte Moralpolizei veröffentlicht. Auch die reformistische Gesetzgeberin Parvaneh Salahshouri, Vorsitzende der Frauenfraktion im Parlament, schrieb 2018 gegen die Hijab-Pflicht, und erst am 2. August hatten 21 prominente Reformist:innen die Hijab-Pflicht ebenfalls angeprangert.

Jüngste Berichte über den schwachen und angeschlagenen Gesundheitszustand des obersten Führers Irans, Ayatollah Ali Chamenei, haben auch Diskussionen über politische Unsicherheit und noch tiefere Spaltungen in den Fraktionen aufgeworfen, da der Tod Chameneis einen Machtkampf um seine Nachfolge auslösen würde.

Die Verschärfung der Krise des iranischen Regimes kann nicht unabhängig von der Auflösung des iranischen Atomabkommens gesehen werden, in dessen Zuge einige Sanktionen vorübergehend gemildert wurden – ein strategisches Ziel der beiden Flügel des Regimes. Die Verhängung von Trumps „Maximaldruck“-Sanktionen, die Biden fortsetzt, stürzten das Land in eine noch nie dagewesene Wirtschaftskrise, von der vor allem die Arbeiter:innen und die ärmsten Teile der iranischen Gesellschaft betroffen sind, die ihre Wut über die wirtschaftliche Situation in zwei Wellen von Klassenkämpfen in den Jahren 2018 und 2019 zum Ausdruck brachten.

Seitdem hat das Regime auf die schwankende Lage reagiert, indem es seine bonapartistischen Züge zum Ausdruck brachte und sich stark auf seinen Repressionsapparat stützte, um gegen jede Unzufriedenheit vorzugehen. Neben den starken Repressionen haben die Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr die undemokratischen Aspekte der iranischen „Republik“ unterstrichen. Um die Wahl des Hardliners zu sichern, hat der zwölfköpfige Wächterrat, der für die Zulassung von Kandidat:innen für die Wahl zuständig ist, die Normierung von Personen blockiert, die Raisi möglicherweise Konkurrenz machen könnten.

Diese Tendenzen zum Bonapartismus stehen zweifellos im Zusammenhang mit dem wachsenden politischen Einfluss des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC). Dies ist eine mächtige Sicherheitskraft, die als interne Polizei fungiert und nach einigen Angaben zwei Drittel des iranischen BIP kontrolliert und zunehmend mit dem Klerus um die Macht konkurriert. Die historische Role der IRGC lässt sich bis zur Unterstützung der Konsolidierung des islamischen Regimes während der iranischen Konterrevolution zurückverfolgen. In der politischen Krise nach den Wahlen von 2009 spielte die IRGC eine wichtige Rolle bei den Repressionen, was die Funktion der IRGC stark ausweitete.

In den letzten Monaten hat die zunehmende Verfolgung prominenter politischer Aktivist:innen im Iran, insbesondere von Frauen wie Leila Hosseinzadeh und Sepideh Rashno, ein Licht auf die rigide Disziplin des reaktionären Regimes geworfen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Unterdrückung von Frauen (der Iran ist weltweit für die meisten Femizide verantwortlich) und die brutale Repression gegenüber queeren Community, wie die jüngsten Todesurteile gegen queere Aktivist:innen (Zahra Seddiqi Hamedani und Elham Choubdar) zeigen, sondern auch auf die Verweigerung grundlegender demokratischer Rechte, wie die Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften.

Entwicklung hin zu Krise und Klassenkampf

Seit Anfang 2022 ist die soziale Atmosphäre im Land von Protest- und Streikwellen geprägt, die sich vor allem gegen die Wasserknappheit und die wachsenden Preise der Lebenshaltungskosten richten, die durch den Krieg in der Ukraine noch verschärft wurden. Wie Red Flag kürzlich berichtete, befindet sich die iranische Wirtschaft in einer schweren Krise:

„Die Währung erreichte im Juni ihren niedrigsten Wert aller Zeiten, und die jährliche Inflationsrate liegt nach Angaben des iranischen Statistikzentrums bei 41,5 Prozent und steigt weiter. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind um 90,2 Prozent gestiegen, und die Ausgaben der Haushalte haben sich verdreifacht, während die Reallöhne weiter sinken.“

Die Auswirkungen der lähmenden Hochdruck-Sanktionen haben das Regime dazu veranlasst, Sparmaßnahmen zu ergreifen, um die Arbeiter:innen für die Krise zahlen zu lassen, die sie sowieso schon erdrückt. Raisi hat bereits eine Reihe von Maßnahmen wie die Kürzung von Weizensubventionen und die Abschaffung von Arzneimittelsubventionen eingeführt. Infolgedessen ist der Brotpreis um das Dreizehnfache gestiegen. In der südlichen Provinz Khuzestan, in der eine große arabische Minderheit lebt und die aufgrund von Umweltproblemen in der Region und der militanten Zuckerrohrarbeiter:innen in der Gewerkschaft Haft Tappeh ein häufiger Krisenherd ist, kam es schnell zu Hungerrevolten.

Innerhalb der Arbeiter:innenbewegung haben Lehrer:innen die Kämpfe im Zusammenhang mit der Krise der Lebenshaltungskosten angeführt und eine Reihe von landesweiten Streiks, Kundgebungen und Besetzungen gestartet, einschließlich großer Demonstrationen im ganzen Land am 1. Mai dieses Jahres im Rahmen des Koordinierungsrates der Lehrer:innengewerkschaften. Auf politischer Ebene entstehen neue marxistische Organisationen (die größtenteils im Untergrund arbeiten) wie das „Labour Organised Action Committee“ (LOAC) in der Studierenden- und Arbeiter:innenbewegung, da revolutionäre sozialistische Ideen in der iranischen Avantgarde, die an den jüngsten Kampfwellen vom Massenaufstand im Jahr 2019 bis zum Streik der Ölarbeiter im Jahr 2021 beteiligt war, wieder aufblühen.

Von der Wut zur Freiheit

Die sozialen Explosionen, die sich im Iran abzeichnen, haben das Potenzial, eine Fortsetzung des historischen Kampfes der iranischen Massen gegen ihre unterdrückerischen Regime und die Bedrohung durch den Imperialismus zu schaffen. Für eine Mobilisierung gegen die Unterdrückung der Frauen, die auch den Interessen der Unterdrückten und Ausgebeuteten im Iran hilft, ist es wichtig, den Kampf gegen das undemokratische und patriarchale Regime mit dem Kampf gegen das kapitalistische System zu verbinden.

In diesem Sinne kann die Zusammenarbeit zwischen der aufkeimenden Frauenbewegung und der kämpferischen iranischen Arbeiter:innenklasse, die sich in den jüngsten Kämpfen als wichtige Akteurin erwiesen hat, eine wichtige Rolle dabei spielen, diese Kämpfe voranzutreiben. Wir sollten nicht vergessen, dass die iranische Revolution durch die gewaltsame Unterdrückung von Protesten und die autoritäre Herrschaft des Schahs ausgelöst wurde. Es war der Streik der Ölarbeiter:innen als Reaktion auf diese Unterdrückung, der einen Generalstreik auslöste, der das Schah-Regime in die Knie zwang. Die Ölarbeiter:innen im Iran haben heute das Potenzial, ihre strategische Macht in ähnlicher Weise einzusetzen.

Und die iranische Revolution war nicht nur eine gegen das Regime des Schahs, sondern eine Revolution gegen die imperialistischen Kräfte, die von seiner Herrschaft profitierten. Diese Lehren sind heute wichtig, da imperialistische Länder wie die USA und Frankreich die Ermordung von Mahsa Amini als Mittel zur Vertuschung ihrer eigenen Interessen anprangern. Es sind die so genannten „demokratischen“ Länder, deren Polizei Frauen ebenfalls brutal ermordet, deren Regime das Recht auf Abtreibung verweigern und rassistische Hijab-Verbote verhängen, die die Autonomie der Frau aus einem anderen Blickwinkel einschränken. Dies sind die Länder, die mit maximalem Druck Sanktionen verhängen, die den iranischen Arbeiter:innen täglich Leid zufügen.

Gegen die iranische herrschende Klasse und die ausländischen Mächte ist das Engagement der Linken entscheidend, um sich unabhängig gegen diese unterdrückerischen Angriffe zu wehren. Schließlich waren es marxistische Frauen, die 1979 anlässlich des Internationalen Frauentags die ersten massiven Proteste gegen die Zwangsverschleierung organisierten.

Die internationale Linke und die feministischen Bewegungen auf der ganzen Welt sollten ebenfalls das Symbol der kämpfenden iranischen Frauen, Jugendlichen und Arbeiter:innen aufgreifen, ganz im Sinne der Proteste von George Floyd, die sich weltweit ausbreiteten. Die Probleme, vor denen wir als Klasse stehen, gehen über unsere Grenzen hinaus und können nur international gelöst werden.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch bei Left Voice.

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