Russlands Rückzug vom UN-Getreideabkommen weitet die Reichweite des Krieges in der Ukraine erneut aus

11.08.2023, Lesezeit 5 Min.
1
Bild: Artem Grebenyuk/Shutterstock

Das von der UN vermittelte Getreideabkommen hat die Folgen des Krieges in der Ukraine weitgehend auf Osteuropa beschränkt. Der Rückzug Russlands aus dem Abkommen erinnert daran, dass die kapitalistische Konkurrenz große Risiken für die internationale Arbeiter:innenklasse birgt.

Der Krieg in der Ukraine bringt erneut Instabilität über Osteuropa hinaus, nachdem sich Russland aus dem von den Vereinten Nationen (UN) ausgehandelten Getreideabkommen zurückgezogen hat. Im vergangenen Jahr wurde durch diese Vereinbarung die stetige Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine – der Kornkammer der Welt – weitgehend aufrechterhalten sowie einige der schlimmsten wirtschaftlichen Schwankungen, die zu Beginn des Krieges Besorgnis erregten, eingedämmt.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow verkündete, dass Russland aus dem Abkommen aussteigen werde, da es Lieferungen von ukrainischem Getreide begünstige, während Russland beim Export seines eigenen Getreides auf Hindernisse stoße. Seit dieser Ankündigung hat das russische Militär die Exportinfrastruktur der Ukraine angegriffen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht davon aus, dass die Getreidepreise um bis zu 15 Prozent steigen könnten. Einige Analyst:innen sind der Meinung, dass dieser Schritt die Gefahr berge, dass die Beziehungen Russlands zur Türkei und zu China, zwei der größten Abnehmer:innen von Getreide im Rahmen der Vereinbarung, untergraben werden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat angekündigt, dass er sich dafür einsetzen werde, Wladimir Putin davon zu überzeugen, zu dem Abkommen zurückzukehren. Während des gesamten Krieges war Erdoğan der wichtigste Ansprechpartner zwischen der NATO und Russland und half bei der Vermittlung des Getreideabkommens. Auf dem jüngsten NATO-Gipfel in Litauen ebnete die Türkei jedoch den Weg für den Beitritt Schwedens zum Bündnis. Dies war ein großer Fortschritt für die imperialistischen Mächte, und es bleibt abzuwarten, wie sich dieser Schritt auf Erdoğans Fähigkeit auswirkt, eine Rückkehr Russlands zum Getreideabkommen auszuhandeln.

Putin zog sich kurz vor den von ihm angeführten Gipfeltreffen mit afrikanischen Ländern in St. Petersburg aus dem Abkommen zurück, das er nutzte, um zu betonen, dass Russland für die afrikanischen Länder ein zuverlässigerer Verbündeter sei als die Vereinigten Staaten. Um sein Ansehen bei den afrikanischen Staats- und Regierungschefs aufzupolieren, versprach Putin, sechs verschiedenen afrikanischen Ländern 25.000 bis 50.000 Tonnen Getreide zu spenden. Diese Spenden reichen kaum aus, um die größeren Versorgungsunterbrechungen und die Inflation zu bekämpfen, die den Zugang Afrikas zu Getreide bedrohen.

Während Putin – und sogar einige linke Medien – versuchen, Russlands Aktionen als Herausforderung an die westliche Heuchelei darzustellen, ist es in Wirklichkeit so, dass Russland seine Rolle als Regionalmacht dazu nutzt, mit der Weltwirtschaft zu spielen, um günstigere Bedingungen für die russische Kapitalist:innenklasse zu schaffen. Wie schon vor dem Getreideabkommen wird die Instabilität der Exporte zu einer Inflation führen, für die die Kapitalist:innen aus Russland und den imperialistischen Ländern die Arbeiter:innenklasse zahlen lassen werden.

Im globalen Süden können die Folgen steigender Getreidepreise besonders schlimm sein. Diese Länder sind stets gezwungen, mehr für lebenswichtige Ressourcen zu zahlen, und stehen aufgrund von Unterentwicklung und unrechtmäßigen Schulden, die ihnen von größeren Mächten auferlegt wurden, bereits vor einer größeren wirtschaftlichen Belastung. Die Arbeiter:innen und Unterdrückten in Afrika, dem Nahen Osten, Lateinamerika, Asien und den übrigen am meisten ausgebeuteten Ländern der Welt werden es noch schwerer haben, den wirtschaftlichen Stürmen zu trotzen, die dieser Krieg verursacht.

Nichtsdestotrotz ist an den Behauptungen über die westliche Heuchelei etwas dran. Putin ist keine einzigartig böse Figur, die droht, die Welt auszuhungern, wie uns die NATO-Anführer:innen und ihre imperialistischen Medien glauben machen wollen. Vielmehr spielt Russland das Spiel mit, das der westliche Imperialismus seit Jahrzehnten betreibt. Die NATO-Länder und insbesondere die Vereinigten Staaten haben immer wieder – auch mit ihren Sanktionen gegen Russland – gezeigt, dass sie genauso bereit sind, Millionen von Arbeiter:innen verhungern zu lassen, um ihre Macht an der Spitze des kapitalistischen Wettbewerbs zu erhalten. Das von diesen Mächten geschaffene System hält den Hunger in der Welt aufrecht, indem es Lebensmittel als Ware behandelt und die reichen imperialistischen Länder privilegiert, während die Mehrheit der Welt hungert. Dies ist eine Realität, die der Krieg in der Ukraine offenbart hat. Wie Putins jüngste Schritte zeigen, droht die Brisanz der kapitalistischen Konkurrenz, die sich in diesem Stellvertreterkrieg abspielt, zu eskalieren, selbst wenn die Weltmächte verzweifelt versuchen, ihre Krisen nicht ausufern zu lassen.

Da der Kapitalismus weiterhin Krieg und Hunger auf die Tagesordnung setzt, kann man sich nicht darauf verlassen, dass die Kapitalist:innen Lösungen oder fortschrittliche Alternativen für die Mehrheit der Arbeiter:innen und Unterdrückten auf der ganzen Welt anbieten. Lösungen werden weder vom aufstrebenden kapitalistischen Block Chinas und Russlands noch von kapitalistischen Bündnissen kommen, die vorgeben, die sich entwickelnde Welt zu vertreten, wie die BRICS oder die Afrikanische Union. Arbeiter:innen und Sozialist:innen müssen für eine internationale Arbeiter:innensolidarität gegen Kriege, Inflation, Hunger und all die Kapitalist:innen kämpfen, die sich auf unsere Kosten gegenseitig Konkurrenz machen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 28. Juli 2023 bei Left Voice. Er wurde für die deutschsprachige Veröffentlichung ergänzt.

Mehr zum Thema