Russland: Proteste gegen Teilmobilisierung trotz tausender Verhaftungen

22.09.2022, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Sergey Rusanov / Shutterstock.com

300.000 Reservisten sollen für Putins Teilmobilmachung eingezogen werden, die er kurz nach den (Schein)referenden verkündete. Die Reaktion der NATO-Staaten zeugt von Doppelmoral und fortbestehender Eskalations-Bereitschaft, während es in Russland selbst zu Demonstrationen und Verhaftungen kommt.

Seit nunmehr sieben Monaten dauert Putins Angriffskrieg in der Ukraine mittlerweile an, was ebenso für die zahlreichen Spekulationen in diesem Kontext gilt: Wird Gazprom die Gaslieferungen nach angekündigten bzw. durchgeführten Wartungsarbeiten fortsetzen oder sind die festgestellten Öllecks nur ein Vorwand, um die Lieferungen endgültig einzustellen? Wird Putin einen atomaren Angriff wagen und ist ein Atomkrieg wahrscheinlich? Kommt es zu einer Generalmobilmachung und wäre diese ein Eingeständnis der (vermeintlichen) Schwäche Putins?

Zumindest letztere Überlegung nimmt nun insofern weniger spekulative Züge an, als Putin am Mittwoch, den 21.09.2022, eine Teilmobilmachung in Russland verkündete. Über seinen Verteidigungsminister Sergej Schoigu ließ er mitteilen, dass sich die Maßnahme zunächst auf 300.000 Reservisten beschränke; allerdings stünden insgesamt bis zu 25 Millionen bereit. Weiterhin versicherte Putin, dass es sich bei der jetzigen Teilmobilmachung nur um diejenigen handle, die sich derzeit ohnehin in der Reserve befinden und zudem über einschlägige militärische Erfahrung verfügen. Außerdem würden alle Eingezogenen eine zusätzliche militärische Ausbildung durchlaufen. Diese wenig detaillierten, vagen Ankündigungen sind auch deshalb undurchsichtig, weil Artikel 7 von Putins Erlass, in dem genauere Ausführungen zur Anzahl der Mobilisierten vermerkt sind, unter Geheimhaltung steht . Es ist wahrscheinlich, dass das Verteidigungsministerium befugt ist, die Anzahl ohne Beschränkungen zu erhöhen.

How to break your arm

Eine erste, indirekte Ankündigung der Teilmobilmachung erfolgte einen Tag zuvor. Bereits am Dienstag, den 20.09.2022, verabschiedete das russische Parlament im Eilverfahren eine Gesetzesänderung, mit der das Strafrecht deutlich verschärft wurde, was insbesondere die Erhöhung von Haftstrafen für das freiwillige Eintreten in Kriegsgefangenschaft und für Plünderungen umfasst. Der Duma zufolge seien Zeiten der Mobilmachung und des Kriegszustandes besonders anfällig für Verbrechen. Weshalb es Putin und das russische Parlament so eilig hatten, die Gesetzesänderung vor der Teilmobilmachung vorzunehmen, zeigte sich im Verlauf des Mittwochs: In 38 Städten des Landes kam es zu Demonstrationen und nach bisherigen Einschätzungen zu etwa 1350 Festnahmen. Allein in St. Petersburg und Moskau kamen jeweils etwa um die 500 Demonstrierende in Gewahrsam. Ihnen droht eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren.

Die Möglichkeiten, dem Krieg, der allgemeinen und durch die westlichen Sanktionen verschärften Armut, den Repressionen und der nun beschlossenen Teilmobilmachung zu entkommen, werden für die russische Bevölkerung zunehmend geringer. So waren bereits am Mittwoch keine Direktflüge mehr von Moskau nach Istanbul, Tashkent, Baku oder Jeweran erhältlich. Der Preis für den billigsten Flug von Moskau nach Dubai stieg auf 350.000 Rubel, was in etwa 5.000 Dollar entspricht. Eine Summe, die nur für die wenigsten überhaupt bezahlbar sein wird. Zugleich zeigt sich in dieser Situation abermals die fatale Wirkung westlicher Sanktionen. In vier von fünf EU-Mitgliedsstaaten, die an Russland angrenzen, bekommen russische Staatsbüger:innen kein Tourist:innenvisum mehr. Worüber medial teilweise gespottet wurde – als sei Urlaub wichtig, wenn der eigene Präsident Krieg führe -, erweist sich nun als Falle für all diejenigen, die nicht über die notwendigen finanziellen Mittel oder Kontakte verfügen, um das Land auf andere Weise zu verlassen. Stattdessen müssen nun alternative Überlegungen angestellt werden: So zeigen Google-Statistiken, dass Suchanfragen wie etwa „Wie vermeidet man die Einberufung“, aber auch „Wie man sich den Arm bricht“ nach Putins Ansprache zur Teilmobilmachung drastisch anstiegen . Mehr als deutlich wird der Kontrast zwischen denjenigen, die in den Krieg geschickt werden, und denjenigen, die den Krieg führen.

Heroisch vs. Menschenverachtend

Für westliche Politiker:innen und bürgerliche Medien ist wie so oft in den letzten Monaten eindeutig, dass Putins Vorgehensweise menschenverachtend ist und selbstverständlich verurteilt gehört. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen – wenn es sich nicht um eine einseitige Dämonisierung handeln würde. So bestand eine von Selenskyjs ersten Reaktionen im Februar 2022 darin, ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter die Ausreise zu verbieten. Schließlich müssen in der Ukraine ja europäische Werte und die Freiheit des Westens verteidigt werden, womit es sich auch nicht um teilweise zum Kampf gezwungene, sondern um heroische Soldat:innen handelt. Schon allein aufgrund dieser ehrenhaften Gesinnung sind Waffenlieferungen selbstredend das Mindeste, wozu sich die NATO-Staaten verpflichtet sehen.

Eskalation als notwendiges Mittel

Derweil ist auch unabhängig von der Teilmobilmachung kein Ende des Eskalations-Potenzials in Sicht. Dabei besteht Putins Beitrag in den angekündigten (Schein)referenden, die vom 23.-27.09.2022 in den Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischja abgehalten werden sollen. Regional gibt es bei der Abstimmung Unterschiede. So kann in Luhansk und Donzek lediglich zwischen „ja“ und „nein“ bzgl. des Beitritts zur russischen Föderation gewählt werden, während es in Cherson und Saporischja drei Fragen gibt, Austritt aus der Ukraine, Gründung eines unabhängigen Staates und Beitritt zu Russland, die ebenfalls mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten sind. Dmitri Medwedew zufolge diene der Anschluss der neuen Gebiete dazu, alle Kräfte zur Selbstverteidigung einzusetzen . Beobachter:innen außerhalb Russlands dagegen sehen darin eine Reaktion auf die Gegenoffensive der Ukraine. Damit einhergeht, dass die genannten Gebiete, sollten sie angeschossen werden, unter dem atomaren Schutz Russlands stünden.

Auf der UN-Generalversammlung in New York reagierte Olaf Scholz umgehend darauf, indem er klar stellte, dass die (Schein)referenden nicht akzeptiert werden könnten und vom Völkerrecht nicht gedeckt seien. Herrscht in dieser Angelegenheit also der übliche Widerspruch, so verhält es sich bzgl. der Eskalations-Bereitschaft ähnlich wie bei Putin. Macron etwa rief dazu auf, maximalen Druck auszuüben, während Baerbock kritisierte, dass der russische Präsident seinen Krieg nun auch mit Angst führe . Dabei scheint sie vollkommen vergessen zu haben, dass die Kriegstreiberei ihrer eigenen Partei bzw. der Ampelkoalition maßgeblich auf Angst beruht, sei es nun vor einem atomaren Angriff oder dem (abstrakten) Verlust westlicher Freiheiten. Wenn Angst als Strategie zur Rechtfertigung von immer weiteren Waffenlieferungen dient, scheint das wohl eine ganz andere Sache zu sein.

(K)ein endloser Krieg?!

Sicherlich sind die Teilmobilmachung und die (Schein)referenden ein neuer Schritt, den Putin in diesem Krieg geht. Allerdings ist es keine sonderliche Überraschung, wenn man die Gesamtsituation betrachtet: Längst handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg, der für Herrschende und Kapitalist:innen mit Profiten einhergeht. Je länger der Krieg andauert, desto größer die Gewinne. Verluste und Leid treffen hingegen diejenigen, die den Krieg offensichtlich nicht wollen. Weder in der Ukraine, noch in Russland. Es ist daher notwendig, entgegen der propagierten Vereinfachungen zu begreifen, dass Sanktionen und Waffenlieferungen kein Ende des Kriegs bedeuten, sondern Eskalationen und Verlängerung zur Folge haben. Sie müssen daher notwendigerweise eingestellt werden! Weiterhin gilt, sich weder auf die Seite Putins, noch auf die der NATO zu stellen. Die Solidarität muss den Demonstrierenden gelten ebenso wie Reservist:innen, Zivilist:innen, Soldat:innen und Arbeiter:innen, die entschieden gegen diesen Krieg kämpfen.
Schluss mit dem Krieg. Weder Putin noch NATO. Sanktionen und Waffenlieferungen beenden. Keine 100 Milliarden für Aufrüstung!

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