Revolutionäre im Heiligen Land

25.09.2017, Lesezeit 6 Min.
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"Matzpen" (Kompass) hieß die kleine linksradikale Gruppe, die in den 60er und 70er Jahren ganz Israel aufwirbelte. Ein neues Buch des jungen Historikers Lutz Fiedler arbeitet die Geschichte der neuen Linken im heiligen Land auf.

Hal’a HaKibbush!“ (Nieder mit der Besatzung!) Am 1. Mai 1969 demonstrierten junge Menschen mit roten Fahnen von Jaffa nach Tel Aviv. Sie forderten den Abzug der israelischen Armee aus Ostjerusalem, dem Golan, der Westbank, dem Gazastreifen und der Sinai-Halbinsel – alles zwei Jahre zuvor im Sechstagekrieg erobert. Auf der prächtigen Dizengoffstraße in Tel Aviv trafen sie auf einen anderen Aufzug mit roten Fahnen – und nach wenigen Sekunden kam es zu Tumulten. Die Stangen der roten Fahnen wurden zu Knüppeln.

Diese Szene verdeutlicht den tiefen Graben zwischen der „alten“ und „neuen“ Linken in Israel. Auf der einen Seite waren die Anhänger der moskautreuen Israelischen Kommunistischen Partei. Die KP hatte den Krieg unterstützt und sich auf ihrer Kundgebung zum 1. Mai gerade beim Militär bedankt. Auf der anderen Seite war die Israelische Sozialistische Organisation, besser bekannt unter dem Namen ihrer Zeitung „Matzpen“ (Kompass). Und sie lehnte die Besatzung ab.

Bereits am 22. September 1967 hatten die jungen Linksradikalen in und um Matzpen eine breite Erklärung in der Tageszeitung „Haaretz“ veröffentlicht: „Besatzung führt zur Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung. Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror“ hieß es darin. „Das Behalten der besetzten Gebiete wird uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln.

Heute, ziemlich genau 50 Jahre später, klingt dieses kleine Manifest wie eine Prophezeiung. Die anhaltende Besatzung führt zu immer größerem Leid – und die israelische Politik wird komplett von religiösen und nationalistischen Fanatikern dominiert. Die Tradition der antizionistischen Linken, die für ein ganz anderes Israel kämpften, darf nicht in Vergessenheit geraten.

Vom Stalinismus ausgeschlossen

Matzpen wurde 1962 von Intellektuellen gegründet, die aus der KP ausgeschlossen wurden. Dazu gehörte unter anderem Akiva Orr (der als Karl Sebastian Sonnenberg in Berlin geboren wurde). In den 50er Jahren hatte Orr einen sechswöchigen Streik der Seemänner mit angeführt, bis er von der Regierung Ben Gurions brutal unterdrückt wurde. Diese wollten auch die Geschichte der israelischen Kommunistischen Partei aufarbeiten – zahlreiche Führungsmitglieder waren in stalinistischen Säuberungen verschwunden.

Aber schnell versammelten sich Aktivisten aus verschiedenen Traditionen bei Matzpen. Jakob Taut, der in der Ölraffinerie in Haifa arbeitete, war bereits seit den 30er Jahren als Trotzkist in Palästina aktiv. Jabra Nicola, ein palästinensischer Intellektueller, der die Klassiker des Marxismus ins Arabische übersetzte, war genauso lang als Internationalist aktiv.

Matzpen stützte sich nicht nur auf radikale Studierende in Israel, sondern befand sich auch in einem ständigen Austausch mit der neuen Linken in England, Frankreich und auch Deutschland. Daniel Cohn-Bendit bereiste Israel im Jahr 1970 zusammen mit Matzpen-Mitgliedern – sie sollen ihm eine Gehirnwäsche verpasst haben, hieß es in der Presse zu Cohn-Bendits antizionistischen Reden.

Ihr Ziel wäre die Vernichtung Israels – so hieß es von der Regierung. Doch natürlich waren die Aktivisten nicht auf Selbstmord aus. Nach der Dekoloniserung Algeriens und der Vertreibung der französischen Bevölkerung aus dem Land waren die Matzpen-Gründer überzeugt, dass das zionistische Regime nicht lange in der arabischen Welt überleben könnte. Sie dachten an ihre Zukunft.

Matzpen zeigte bedingungslose Solidarität mit dem Widerstand der Palästinenser – verlangte aber gleichzeitig eine Anerkennung der Rechte jüdischer Menschen in der Region. Ihr Ziel war ein binationaler sozialistischer Staat im Rahmen einer Föderation des Nahen Ostens. Deswegen bemühte sich die Gruppe um Bündnisse mit linken palästinensischen Kräften wie der DFLP.

„Trotzkistisch“ war Matzpen nie im strengen Sinn, obwohl sie zeitweilig eine Sektion der Vierten Internationale war, sondern hatte ein breites linkes Selbstverständnis. „Antikapitalistisch und antizionistisch“ war man, wie es Gründer Moshe Machover im Rückblick definierte. Aus der Gruppe gingen zahlreiche Spaltungen hervor, mehrere trotzkistische Fraktionen und auch eine halbmaoistische Gruppe. Die heutige NGO „Alternative Information Center“ stammt indirekt von Matzpen ab.

400 Seiten

Der Dokumentarfilm „Matzpen“ von Eran Torbiner aus dem Jahr 2003 erzählte diese Geschichte bereits für ein heutiges Publikum. Fiedlers Buch mit über 400 Seiten ist wesentlich detaillierter – aber dreht sich stärker um Kultur als um Politik. Von den konkreten Aktivitäten der Gruppe erfährt man wenig – nicht ein Wort über die Mitgliederzahl. Stattdessen geht es um die Dichter*innen und Autor*innen im subkulturellen Milieu der 60er, in dem die neue Linke gedeihen konnte.

Fiedler präsentiert dieses linksradikales Projekt als ein notwendiger Teil der Entstehung der israelischen Nation. Auf dem Titelbild steht eine Menora – für die Geschichte einer kommunistischen Gruppe etwas irritierend. Denn Matzpen war ein internationalistisches Projekt. Die führenden Denker saßen nicht nur in Tel Aviv und Jerusalem, sondern auch in London und Paris – teilweise wegen der Repression in Israel.

Eine heute beliebte Interpretation der weltweiten Revolte von 1968 sagt, dass alles auf eine Erneuerung kapitalistischer Herrschaft zielte. Und dieses Buch bläst ins gleiche Horn, als ob Matzpen nur ein „anderes Israel“ wollte. Aber in Wirklichkeit setzte das Projekt jüdische revolutionäre Traditionen von vor dem Zweiten Weltkrieg fort.

Für Fiedler war das bestenfalls ein Anachronismus, denn mit dem Holocaust hätte man „das Scheitern der einstigen universalistischen Zukunftshoffnung“, also der sozialistischen Weltrevolution, einsehen müssen. Und auch wenn der Stil des Buchs von akademischer Distanz geprägt ist, blickt dieser tiefe Pessimismus überall durch.

Einstige jüdisch-israelische Kommunist*innen hatten nach den Gräueln des Stalinismus jede Hoffnung auf die Weltrevolution aufgegeben und wurden zu resignierten Zionisten. „Wir wollten den Menschen ändern, und sind gescheitert“, sagte etwa Leo Trepper. Die Barbarei des modernen Antisemitismus war nicht mehr zu besiegen, sondern höchstens mit den Mauern und Zäunen eines jüdischen Nationalstaats zurückhalten.

Die gesamte Region rückt scheinbar unaufhaltsam nach rechts. In den 70er Jahren hatten säkulare Kräfte sowohl in Israel wie in Palästina das Sagen – inzwischen ist religiöser Obskurantismus überall hegemonial. Genau davor haben die jungen Gründer*innen von Matzpen vor 50 Jahren gewarnt, und ihre Thesen sind aktueller denn je. Die nächste Generation der israelischen Linken muss aus diesen Erfahrungen lernen. Und aufgrund der Emigration der letzten Jahre können wir sicher sein, dass Berlin eine Brutstätte für neue linke Strömungen in Israel sein wird. Wir dürfen alle gespannt sein

Lutz Fiedler: Matzpen. Eine andere israelische Geschichte. Göttingen 2017. 408 Seiten. 70,00 Euro.

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