Puigdemont im „Exil“: Nur die Arbeiter*innen können die katalanische Republik verteidigen

31.10.2017, Lesezeit 8 Min.
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In seiner Pressekonferenz machte der abgesetzte katalanische Präsident deutlich, warum die bürgerliche Führung den Unabhängigkeitsprozess in eine Sackgasse gebracht hat. Was die Schranken der Unabhängigkeit sind - und wer sie überwinden kann.

Viel war spekuliert worden, warum Carles Puigdemont am Wochenende nach Brüssel gereist war. Auf einer Pressekonferenz am Dienstag legte er seine Gründe offen und griff die spanische Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy scharf an. Doch seine Aussagen machten auch deutlich, dass er angesichts der „höchst aggressiven Offensive“ aus Madrid keine Antworten hat, um die am Freitag vom katalanischen Parlament proklamierte Republik zu verteidigen.

Erklärung aus dem „Exil“

Puigdemont war mit sieben Minister*innen nach Brüssel gereist, um weiter „in Sicherheit und Freiheit zu handeln“. „Der beste Weg, über die Situation in Katalonien zu berichten, ist es, in die Hauptstadt der EU zu gehen“, erklärte der katalanische Politiker. „Der Fall von Katalonien ist der Fall der Werte, auf denen Europa basiert“. In den letzten Wochen hatten sich angesichts des Versuchs der katalanischen Regierung, internationale Unterstützung zu erhalten, alle wichtigen europäischen Regierungen angeführt von Angela Merkel auf die Seite des spanischen Staats gestellt.

Gleichzeitig wolle er mit der Reise die „legitime Regierung von Katalonien“ am Leben erhalten und verhindern, dass die spanischen Parteien PP, PSOE und Ciudadanos, die den Artikel 155 unterstützen, die katalanischen Institutionen zerstören. „Wenn wir geblieben wären und einen gewissen Widerstand ausgeübt hätten, hätte das zu einer enorm gewalttätigen Reaktion der [spanischen] Regierung geführt“, so Puigdemont weiter. Er kritisierte außerdem die Anklagen, die gestern vom Generalstaatsanwalt verkündet wurden und ihm und weiteren Regierungs- und Parlamentsmitgliedern „Rebellion“ und andere Straftatbestände vorwerfen, die insgesamt bis zu 500 Jahre Gefängnis für die katalanischen Politiker*innen bedeuten würden. Erst wenn es „Garantien“ auf ein „faires Urteil“ und „Gewaltenteilung“ gebe, könne Puigdemont nach Barcelona zurückkehren. Mit der Reise will Puigdemont also auch seine eigene Haut retten und eine Festnahme verhindern oder ihre politischen Kosten in die Höhe treiben.

Kein Widerstand gegen Artikel 155

Gleichzeitig erklärte er sich bereit, die „demokratischen Herausforderung“ der vom Mariano Rajoy ausgerufenen Regionalwahlen in Katalonien am 21. Dezember „mit all unserer Kraft“ anzunehmen. „Wir werden das Ergebnis der Wahlen anerkennen, wie wir es immer unabhängig des Ergebnisses getan haben. Wird der spanische Staat dasselbe tun?“ In einer heute veröffentlichten Umfrage vom renommierten Centre d’Estudis d’Opinió stellte sich die Mehrheit der Befragten in Katalonien auf die Seite der Unabhängigkeit. Auch die aktuell regierenden Parteien PDCat und ERC würden gemeinsam mit der linksradikalen CUP mit ihrem separatistischen Block die absolute Parlamentsmehrheit behalten.

Schon am Montag hatten die Regierungsparteien PDCat und ERC nach Vorstandssitzungen verkündet, an den Wahlen vom 21. Dezember teilzunehmen. Damit wird erneut deutlich, dass die bürgerliche und kleinbürgerliche Führung des Unabhängigkeitsprozesses nicht bereit ist, sich gegen die Anwendung der Zwangsverwaltung und den Artikel 155 zu stellen. Mit ihm will Rajoy, mit Unterstützung der Sozialdemokratie und Ciudadanos, dem König Felipe VI., der Justiz und der spanischen Börse IBEX35, einen reaktionären Ausweg aus der katalanischen Krise finden, der weitere anti-demokratische Angriffe ermöglichen würde. Wörtlich akzeptierte Puigdemont, „den Aufbau der Republik zu verlangsamen“.

Die gesamte Führung des „Prozesses“ hat sich dem Artikel 155 gebeugt: Die Präsidentin des katalanischen Parlaments Carme Forcadell hat die Auflösung desselben akzeptiert, der neu aus Madrid eingesetzte Chef der katalanischen Polizei, den Mossos d’Esquadra, hat die „neue Autorität“ des spanischen Innenministeriums anerkannt und keiner der abgesetzten Minister*innen führte am Montag seine Arbeit fort. Puigdemont erklärte aus Brüssel, die Beamten der Ministerien zu nichts aufgerufen zu haben. Auch die Unabhängigkeitsorganisationen ANC und Òmnium haben in den letzten Tagen keine Kundgebungen organisiert und akzeptieren ihrerseits die aufgezwungenen Wahlen im Dezember.

Reformismus verteidigt die spanische Einheit

Doch was der katalanischen Regierung an Courage und Strategie fehlt, dass haben die spanischen Gewerkschaftsbosse und der Anführer der „neuen Linken“ von Podemos an Chauvinismus. Pablo Iglesias lobte Mariano Rajoy dafür, zu Wahlen aufgerufen zu haben und auch die Vorsitzenden der großen Arbeiter*innenorganisationen CCOO und UGT begrüßten gemeinsam mit der Bürgermeisterin Barcelonas, Ada Colau, die Regionalwahlen. Dabei scheinen sie zu vergessen, dass sie unter dem vollkommen undemokratischen Zustand einer polizeilich-militärischen Belagerung, der Ausschaltung aller katalanischen Institutionen und mit zwei politischen Gefangenen (den „Jordis“ Cuixart und Sànches von ANC und Òmnium) und den Anklagen gegen Puigdemont und Co. stattfinden werden.

Iglesias hatte schon am Wochenende gezeigt, wie weit er zu gehen bereit ist, um auf seine Weise zur Wahrung der reaktionären Einheit des spanischen Staats und dessen Verfassung von 1978 beizutragen. In einem parteiinternen Putsch setzte er die Führung des katalanischen Landesverbands von Podemos (Podem) ab, da ihr Vorsitzender Albano Dante-Fachin die Beteiligung an den Wahlen als Widerspruch zur Ablehnung des Artikels 155 empfunden hatte. In einem von Madrid aus angesetzten Referendum der katalanischen Mitglieder soll nun entschieden werden, ob sich Podem erneut Teil des Bündnisses mit „Común“ und anderen Parteien sein wird, das 2015 unter dem Namen „Catalunya Sí Que Es Pot“ (CSQEP) antrat.

In der Partei-Linken sorgte die Veröffentlichung einer Stellungnahme für Aufregung, in der die Strömung „Anticapitalistas“ die „neue katalanische Republik“ anerkannte. Daraufhin folgten die Dementi von wichtigen Figuren wie der andalusischen Aktivistin Teresa Rodríguez. Der spanische Reformismus zeigt im Moment der größten Krise des postfranquistischen Systems, dass er auf der Seite des monarchischen Regimes von 1978 steht. Damit übernimmt er mit einer Ironie, wie sie nur die Geschichte zu bieten hat, das Sprichwort des ultra-rechten und anti-republikanischen Anführers José Calvo Sotelo: „Lieber ein rotes als ein zerbrochenes Spanien.“

Die katalanische Republik muss verteidigt werden – für ein sozialistisches Katalonien

Angesichts der beispiellosen Offensive des Zentralstaats, des komplizenhaften Chauvinismus des Reformismus und der Gewerkschaftsbürokratie und der schändlichen Kapitulation der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führung der Unabhängigkeitsbewegung scheint es, als wäre die katalanische Republik nicht über ihre formelle Proklamierung hinausgekommen.

Doch sie existiert und wird am Leben gehalten durch den Willen und die Bestimmtheit der katalanischen Massen, die am Freitag zu Zehntausenden spontan auf die Straßen und Plätze traten und die Verkündung feierten, die am 3. Oktober den größten Generalstreik seit dem Ende der Franco-Diktatur erlebten, die am 1. Oktober das Referendum verteidigten und sich in den Vorjahren millionenfach für das Recht auf Selbstbestimmung mobilisierten.

Nur durch die Kraft der massenhaften Mobilisierungen und der spontanen Selbstorganisierung konnte es zur Ausrufung der Republik kommen. Doch Puigdemont und Co. haben keinen Plan, wie es weiter geht. Sie wollen keine Maßnahmen treffen, um die Republik zu verteidigen, geschweige denn, die Zwangsverwaltung von Rajoy zu verhindern. Im Gegenteil akzeptieren sie sie und werden an den Wahlen vom 21. Dezember teilnehmen und setzen ihre Hoffnungen in die spanische „Demokratie“, dem größten Feind des Selbstbestimmungsrechts der Völker der iberischen Halbinsel. Als würden Rajoy, Felipe VI. und die spanische und katalanische Bourgeoisie die katalanische Republik anerkennen, nur weil ihre Verfechter*innen die Regionalwahlen gewännen. Wenn eins in den letzten Tagen und Wochen klar geworden ist, dann die Bereitschaft des spanischen Staates, mit aller Gewalt den Willen nach Lostrennung der katalanischen Bevölkerung zu verhindern.

Deshalb kann die Zukunft des Unabhängigkeitsprozesses nicht in der Wahlbeteiligung im Dezember liegen, sondern im aktiven Boykott dieser Farce und des aktiven Widerstands gegen den Artikel 155. Dafür muss die CUP ihre Gefolgschaft gegenüber der katalanischen Regierung aufgeben und gemeinsam mit den Keimelementen der Selbstorganisierung wie den „Komitees zur Verteidigung der Republik“ und der mobilisierten Studierendenbewegung Großdemonstrationen organisieren. Um die Mehrheit der Arbeiter*innen, sowohl in Katalonien als auch im spanischen Staat, für die Sache der Unabhängigkeit zu gewinnen, muss diese zu einem Synonym für einen antikapitalistischen Kampf gegen das Regime von 1978 und für alle demokratischen und sozialen Forderungen werden. Deshalb ist es unabdingbar, um die Einheit der gesamten Arbeiter*innenklasse des spanischen Staats herzustellen, für ein unabhängiges und sozialistisches Katalonien zu kämpfen.

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