Proteste und Streiks in Belarus – ein zweiter Maidan?

20.08.2020, Lesezeit 10 Min.
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Seit 26 Jahren ist Lukaschenko in der „letzten Diktatur Europas“ an der Macht. Nachdem es Hinweise auf massiven Wahlbetrug gab, haben sich in Belarus große Mobilisierungen entwickelt. Auch die Arbeiter*innenklasse betritt die Bühne. Wird sich Lukaschenko halten können?

Bild: 2020 Belarusian protests — Minsk, 16 August by Homoatrox

Am Sonntag vergangener Woche fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Nachdem das offizielle Ergebnis verkündet worden war – mehr als 80 Prozent für Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, der das Land seit 26 Jahren regiert – gingen seit vergangenem Montag Zehntausende auf die Straße, die das Ergebnis als Wahlbetrug bezeichnen. Seit Donnerstag hat sich auch die Arbeiter*innenbewegung dem Kampf angeschlossen, mit Arbeitsniederlegungen in vielen Betrieben, darunter den größten Staatsbetrieben des Landes, wo die Arbeiter*innen Streikprosten, Kundgebungen und Demonstrationen organisierten.

Die Regierung von Lukaschenko reagierte auf die Proteste mit roher Gewalt: Bereitschaftspolizei, Tränengas, Gummigeschosse, Panzerkonvois, Massenverhaftungen und sogar zwei Tote. In den Medien zirkulierten unzählige Berichte über Folter und Misshandlungen der Verhafteten. Zugleich diffamierte Lukaschenko die Proteste, indem er mutmaßte, dass die „sogenannten Proteste“ von Arbeitslosen getragen wären, die gelangweilt auf der Straße herumlungern würden.

Am vergangenen Mittwoch wurden Beweise für Wahlmanipulationen gefunden, die die Krise noch verschärften. Tatsächlich belegen Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen den Wahlprüfer*innen im Wahlkreis Witebsk im Norden des Landes, dass sie unter Druck gesetzt wurden, Stimmen zu manipulieren. Für viele, insbesondere für die Arbeiter*innenklasse, ist der Wahlbetrug somit zum Tropfen geworden, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Diese Mobilisierung, die ein seit Ende der 1990er Jahre in Belarus nie dagewesenes Ausmaß erreicht hat, findet vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit, der Abwanderung von Arbeitskräften ins Ausland und der Wut über den Wahlbetrug Lukaschenkos statt.

Die liberale Opposition und die Rolle der Arbeiter*innenklasse

Eine parlamentarische Opposition gibt es praktisch nicht. Die Oppositionsparteien sind klein, die offiziellen Gewerkschaften sind extrem stark in den Staat eingebunden und Teil von Lukaschenkos Regime. Die alternativen Gewerkschaften sind noch schwach. Gegen Lukaschenko angetreten waren bei den Präsidentschaftswahlen keine langjährigen Oppositionspolitiker*innen, sondern die Partnerinnen verhafteter Regierungskritiker. Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei Swjatlana Tichanowskaja, die Frau eines Bloggers, der im Gefängnis sitzt, weil er immer wieder über die Missstände in seinem Land berichtete.

Sie hatte ihre Anhänger*innen dazu aufgerufen, am Sonntag zur Wahl zu gehen, nachdem die Wahllokale schon die ganze Woche zuvor geöffnet waren. Am Sonntag dann bildeten sich lange Schlangen an den Wahllokalen. Im Internet kursierten Videos, wie Wahlzettel über Leitern aus Fenstern getragen wurden. Das offizielle Ergebnis lautete, wie schon erwähnt, über 80 Prozent für den seit 26 Jahren amtierenden Präsidenten Lukschenko und weniger als 10 Prozent für Tichanowskaja. Dabei waren ganz offenbar viele ihrer Wähler*innen dem Aufruf gefolgt, ihre Stimme am Sonntag abzugeben.

Während viele Demonstrant*innen in den vergangenen Tagen eine Neuauszählung der Stimmen forderten und offene Unterstützung für die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja zum Ausdruck brachten, sind einige Beobachter*innen der Meinung, dass die Bewegung bei weitem nicht vollständig von den Oppositionsparteien und/oder den (sehr schwachen) alternativen Gewerkschaften kontrolliert wird. All dies stellt eine Bedrohung für die Regierung und das Regime dar – spätestens seitdem die Arbeiter*innenklasse aktiv in die Proteste interveniert:
Zusätzlich zu den Tausenden von Jugendlichen und Frauen, die sich gegen Lukaschenko mobilisieren (trotz der Einschränkungen des Internetzugangs durch die Regierung), gab es Streikaufrufe und Arbeitsniederlegungen gegen das Regime in vielen großen Städten und Industriezentren des Landes: Eisenbahner*innen, Bergleute, Automobilarbeiter*innen, U-Bahnarbeiter*innen und viele andere streikten oder führten verschiedene Protestaktionen durch.

Bei sämtlichen großen Betrieben des Landes legten die Arbeiter*innen die Arbeit nieder und organisierten Versammlungen, wo sie die Bosse zur Rede stellten.

(Wer hat Lukaschenko gewählt? *Die Bosse und der Polizist melden sich*
Wer hat Tichanowskaja gewählt? *Die Arbeiter*innen heben die Hände*)

Diese Streikbewegungen zeigen die Tiefe der Wut auf Lukaschenko und die politische Elite in dem Land. Dennoch ist der Zustand der Arbeiter*innenbewegung in Belarus widersprüchlich: Anfang der 1990er Jahre fand in Belarus – im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten – keine breit angelegte neoliberale Politik der Privatisierung des öffentlichen Sektors statt und noch immer sind 45 Prozent der Unternehmen in staatlicher Kontrolle. Die Gewerkschaftsorganisationen sind in den meisten Fällen den Interessen der politischen Behörden untergeordnet, mit Ausnahme kleiner unabhängiger Gewerkschaftsorganisationen. So beinhaltete der „Sozialpakt“, der geschlossen wurde, die Blockade der Massenprivatisierung, die Erhaltung einer gewissen sozialen Sicherheit und garantierte Beschäftigung im Austausch gegen die Einschränkung der gewerkschaftlichen und demokratischen Freiheiten. Dies garantierte eine Art Legitimation für Lukaschenko. Die politische und ideologische Kontrolle der Regierung und die Politik der totalen Unterordnung der Gewerkschaften unter die Interessen des Regimes hatten große Folgen auf der Ebene der unabhängigen Organisation und der Subjektivität der belarussischen Arbeiter*innenklasse.

Doch seit Anfang der 2000er Jahre und insbesondere nach der internationalen Wirtschaftskrise von 2008 hat die belarussische Regierung eine „verzögerte neoliberale Wende“ vollzogen. Entsprechend haben sich die Lebensbedingungen der Massen immer weiter verschlechtert, und die aktuelle Coronavirus-Pandemie hat diesen Prozess beschleunigt. Gleichwohl stehen bisher nicht die Arbeiter*innen an der Spitze der Proteste, sondern diese werden von Tichanowskaja verkörpert. Während ihres Wahlkampfes forderte sie die Freilassung der politischen Gefangenen und die Organisation fairer Wahlen, nach denen sie zurücktreten und „in ihr früheres Leben“ zurückkehren würde. Ihre „antiautoritäre“ Rhetorik zielte darauf ab, ein klassenübergreifendes Bündnis zu schaffen, an dem Unternehmer*innen, Freiberufler*innen und Arbeiter*innen beteiligt sind. Diese „populistische“ Politik spiegelte sich in ihrem Wahlslogan wider: „Ich/Wir sind die 97 Prozent“. Tichanowskaja war jedoch nicht allein in der Opposition. Sie wurde von zwei weiteren Kandidaten unterstützt, die inhaftiert und daran gehindert wurden, direkt am Wahlkampf teilzunehmen. Es waren Viktar Babaryka, ehemaliger Topmanager der Belgazprombank (ein russisch-belarussisches Joint Venture und eine der größten Banken des Landes) und Valery Tsepkalo, ehemaliger Botschafter in den Vereinigten Staaten. Mit anderen Worten, zwei Personen, die direkt aus dem inneren Kreis des Präsidenten und aus dem Herzen des Regimes selbst stammten.

Auch wenn viele Arbeiter*innen Tichanowskaja sicherlich eher aus Ablehnung gegen Lukaschenko und nicht im Vertrauen in Tichanowskaja gewählt habe, müssen ihre Verbündeten und auch ihr Wahlprogramm eine große Warnung für die belarussische Arbeiter*innenklasse darstellen: „disziplinierte Fiskalpolitik“, die zu einer Einschränkung des Konsums und zur Kürzung der Budgets für soziale Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung usw. führen wird; die Liberalisierung des Arbeitsmarktes; und die Privatisierung von Immobilien und die Schaffung einer Freihandelszone mit der EU und Russland, um ausländisches Kapital ins Land zu holen. Kurzum: ein Paradebeispiel neoliberaler Politik, das auf Kosten der Lebensbedingungend er arbeitenden Bevölkerung gehen würde.

Ein zweiter Maidan?

Schon allein aufgrund der geografischen Lage von Belarus ist ein Vergleich mit den Maidan-Protesten, der von den Regierungen aus Minsk und Moskau ausging, naheliegend. Das nördliche Nachbarland der Ukraine liegt ebenfalls zwischen der EU und Russland. Doch die Maidanproteste in der ukrainischen Hauptstadt Kiew waren viel stärker von einer antirussischen Stimmung geprägt als die Proteste in Belarus. Die Arbeiter*innenklasse in Belarus ist noch nicht vom „EU-Fieber“ angesteckt, will sich aber gleichzeitig nicht hinter Putins Russland stellen, das Lukaschenko nun als Unterstützung gegen die Proteste mobilisieren will (nachdem er Russland erst selbst der Destabilisierung bezichtigt hatte).

Doch in einem Punkt ist der Maidan-Vergleich treffend: Die europäischen Imperialismen und die liberale Opposition in Belarus selbst würden die Proteste gegen Lukaschenko gern nutzen, um den Einfluss der EU auszuweiten. So verabschiedete die EU auf Initiative von Kommissionspräsidentin Von der Leyen neue Sanktionen gegen Lukaschenko und führende Mitglieder der Minsker Regierung. Die Oppositionskandidatin Tichanowskaja war zudem nach der Wahl in das EU-Land Litauen geflohen. Am Mittwoch fand ein EU-Sondergipfel zur Lage in Belarus statt, bei dem die EU-Länder Druck auf das Regime ausübten, indem sie das offizielle Wahlergebnis nicht anerkannten. Zugleich richtet sich dieser Druck auch gegen Putin. Jedoch ist es noch zu früh, um zu sagen, dass die EU sich angesichts der geopolitischen Implikationen vollständig (d.h. bis zu einer möglichen „Regime Change“-Politik) hinter die liberale belarussische Opposition stellen wird.

Eine unabhängige Perspektive der Arbeiter*innen

Wie wir bereits gesehen haben, beteiligen sich die belarussischen Arbeiter*innen aktiv am Protest gegen die korrupte Regierung des Landes. Anders als in vielen anderen Revolten der letzten Monate weltweit tut sie dies auch mit den ihr eigenen Methoden des Streiks. Doch nur, wenn die Arbeiter*innenklasse ein unabhängiges Programm auf die Beine stellt, anstatt sich hinter die liberale Opposition um Tichanowskaja und ihre Verbündeten zu stellen, wird die Bewegung gegen Lukaschenko die sozialen und demokratischen Probleme der belarussischen Arbeiter*innenklasse lösen. Ansonsten läuft sie Gefahr, zum Spielball der Interessen der EU zu werden.

Ein zentraler Aspekt ist die Freilassung aller politischen Gefangenen (einschließlich der bereits vor der Wahl inhaftierten Regimekritiker*innen) und das Ende der brutalen Repression. Die Arbeiter*innen müssen sich unabhängig vom Staat und den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen organisieren und ihre eigenen politischen Organisationen aufbauen, um nicht nur Lukaschenkos reaktionäres Regime, sondern das gesamte System der kapitalistischen Ausbeutung herauszufordern.

Sie müssen sich in Komitees organisieren, die die brennenden ökonomischen, sozialen und demokratischen Fragen diskutieren. Die Arbeiter*innen müssen die Produktion unter ihre Kontrolle bringen, um die Folgen der Pandemie abzuwehren und um darüber hinaus die herrschende Elite des Landes nicht nur politisch, sondern auch materiell zu entmachten. Und natürlich muss sich die belarussische Arbeiter*innenklasse gegen die imperialistische Einflussnahme von außen stellen. Dazu gehört auch, ein internationales Programm mit einem Angebot an die Arbeiter*innen in den Nachbarländern, namentlich natürlich der Ukraine, aber auch gegenüber Polen, den baltischen Staaten und Russland, aufzustellen, und die Frage der Abhängigkeit von Russland und von den imperialistischen Mächten herauszufordern.

Denn der Kampf zwischen den europäischen Imperialismen – allen voran Deutschland – und der Regionalmacht Russland um die Einflusssphäre im ehemaligen Ostblock ist eine zentrale Frage der gesamten Region. In vielen osteuropäischen Ländern erscheint sie als nationale Frage, nachdem der Stalinismus mit einer reaktionären Politik das Recht auf Selbstbestimmung für unterdrückte Nationen negiert und damit auch die Perspektive des Sozialismus in Misskredit gebracht hat. Dabei hatten Lenin und Trotzki selbst die Bedeutung der nationalen Frage in der Russischen Revolution immer wieder deutlich hervorgehoben. Sie war vor allem geprägt durch das zaristische Imperium, das die nationale Frage in Polen, den baltischen Staaten, Belarus, der Ukraine, sowie Finnland brutal unterdrückte und die unter dem stalinistischen Regime fortgesetzt wurde. Mit dem Fall der Sowjetunion dehnte besonders der deutsche Imperialismus seinen Einfluss auf Osteuropa aus und sorgte für eine erneute Unterordnung – diesmal unter ausländisches imperialistisches Kapital. Auch wenn die Opposition in Belarus russisch spricht und die Frage der belarussischen nationalen Identität bisher keine große Rolle in den Protesten einnimmt, ist klar, dass die Proteste gegen Lukaschenko nicht in lautere Rufe nach einer Einmischung ausländischer Imperialismen enden dürfen.

Die Arbeiter*innen in Belarus haben eine historische Aufgabe vor sich: das Lukaschenko-Regime überwinden und gegen die imperialistische Einmischung durch die EU und ihre Handlanger in der liberalen Opposition eine unabhängige, sozialistische Perspektive der Arbeiter*innen voranzutreiben. Die ersten Schritte der Intervention der Klasse auf der politischen Bühne sind getan, sie bewegen sich in der Welle der weltweiten Aufstände der vergangenen Monate. Mit einer unabhängigen Perspektive könnte die belarussische Arbeiter*innenklasse eine Inspiration für die kommenden Revolten sein.

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