Polizeigewalt in Mannheim: „Entzieht der Polizei die Gelder!“

11.05.2022, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Ayrin Giorgia (KGK)

Am 2. Mai wurde in der Mannheimer Innenstadt ein 47-Jähriger von Polizist:innen mutmaßlich ermordet. Auf einer Kundgebung in München sprach Liam als Student über rassistische Polizeigewalt im Kapitalismus. Er forderte eine unabhängige Untersuchungskommission.

In Reaktion auf den mutmaßlichen Polizeimord in Mannheim am 2. Mai fanden vergangene Woche bundesweit Proteste statt. Auch in München wurde gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert. Für Klasse Gegen Klasse hielt Liam auf der Abschlusskundgebung eine Rede, in der er eine unabhängige Untersuchungskommission zur lückenlosen Aufklärung des Falls forderte. Wir dokumentieren die Rede hier im Wortlaut:

Die Polizei sucht am Nachmittag des 2. Mai in Mannheim einen psychisch erkrankten Mann. Die Beamten überwältigen ihn und schlagen ihn, obwohl er wehrlos am Boden liegt. Was ist passiert, nachdem dieser in die Klinik gebracht werden musste? Seit Dienstagmorgen ist in der Presse die nüchterne Rede von einem Toten, von einer Leiche. Wieder einmal wird ein Mensch mit Migrationshintergrund, ein Mensch mit psychischer Erkrankung augenscheinlich durch die Polizei umgebracht.

Dem mutmaßlichen Mord ging der Kontakt eines Arztes des Zentralinstituts für seelische Gesundheit mit der Polizei voraus. Er informierte sie, dass ein Patient Hilfe brauche. Als sich die uniformierten und bewaffneten Einsatzkräfte dem Mann näherten, wehrte sich dieser gegen den Versuch der Kontrolle und dagegen, körperlich bedrängt zu werden. Die Videos, die wir alle sehen konnten, sprechen für sich. Die Body-Cams, die die Polizeibeamten trugen, waren hingegen zum Tatzeitpunkt zufälligerweise nicht in Betrieb. Sie erinnerten mich an ein Interview, welches ich letztens mit Justine und Kai geführt habe, den Eltern von Sammy Baker, einem 23-jährigen Fitness-Influencer, der in Amsterdam in Folge einer Psychose mit vier Kugeln von der Polizei kaltblütig ermordet wurde. Bis heute kämpfen sie um Gerechtigkeit.

Der angebliche „Freund und Helfer“ als repressiver, rassistischer, mörderischer Staatswächter – das gehört untrennbar zur deutschen Geschichte. Aus den letzten Jahren kennen wir den Fall von Oury Jalloh, einem Geflüchteten aus Sierra Leone, der im Gefängnis lebend verbrannt wurde. Wir kennen die Fälle von Qosay K., Giorgios Zantiotis, Dominique Koumadio und mindestens 182 Todesfällen von Rassismus betroffenen Menschen in deutschem Polizeigewahrsam seit 1990, wie die Recherche von Death in Custody zeigte. Wir kennen die Morde überall in der EU, wie im Fall von Adama Traoré in Paris oder Ibrahima B. in Brüssel. Dies sind keine Einzelfälle, aber nicht nur aufgrund der Anzahl. Es sind vielmehr die Verschwiegenheit der Behörden, die intensive Bemühung der Polizei und der Justiz, das Täter-Opfer-Verhältnis zu verdrehen, Fakten zu verschleiern und bei jedem Fall, in aller Scheinheiligkeit, immer einen Grund aufzustellen, weshalb es so sein musste. Diesmal hieß er „unmittelbarer Zwang“.

Das Landeskriminalamt wies gleich darauf hin, dass der mutmaßlich Ermordete kein türkischer Staatsbürger sei, um sich von einem möglichen Vorwurf des Rassismus reinzuwaschen. Doch wir kennen ihre rassistische Praxis und haben kein Vertrauen in die Polizei. Letztlich zeigt der Fall in Mannheim die Spitze eines Systems, welches die Würde des Menschen und das Versprechen der Menschenrechte als vollkommene Illusion und falsches Versprechen offenbart.

Der gleiche Staat, der diese rassistische Gewalt anwendet, unterhält ein rücksichtsloses Abschieberegime und militarisiert die europäischen Außengrenzen mit Frontex. Diese Politik führte dazu, dass die Zahl der verstorbenen Menschen im Mittelmeer sich von 2020 auf 2021 verdoppelte. Der strukturelle Rassismus nach außen setzt sich auch im Inneren durch, wo heute Geflüchtete selbst in „gute“ und „schlechte“ gespaltet werden. Der Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten zeigt, dass es durchaus möglich ist, Menschen aufzunehmen, ihre Abschlüsse anzuerkennen sowie ein Bleiberecht zu garantieren. Als Teil der Initiative „Unis gegen Krieg, Rassismus und Aufrüstung“ fordern wir die Erweiterung dieser Rechte auf alle Geflüchteten. Auch müssen wir uns für die Abschaffung der Lager einsetzen, in denen geflüchtete Menschen untergebracht werden. An den Bedingungen dort wird seit Jahrzehnten zu Recht Kritik geübt. Weil es aber genau derselbe Staat ist, der diese Gewalt anwendet, ist es das gemeinsame Interesse geflüchteter und nicht-geflüchteter Menschen, ihm den Kampf anzusagen.

Über den rassistischen Kern der Polizeigewalt hinaus zeigt der Fall in Mannheim wieder einmal, dass dieser Staat Menschen mit Behinderungen und psychischen Problemen, wie den letzten Dreck behandelt. Während die Statistiken zeigen, dass fast jeder Vierte hierzulande an psychischen Krankheiten leidet, kommt es zu einer gesellschaftlichen Krise nach der nächsten. Das macht auch vielen von uns Jugendlichen eine enorme Angst. Das miserable psychotherapeutische Angebot des Staates bedeutet eine ultralange Suche und etliche Absagen nach Hilfe. Stattdessen geraten immer wieder Hilfsbedürftige als angebliche „Gefahr für die Gesellschaft“ ins Visier der Staatsgewalt. Die sind entsprechend ihrer Rolle in der Gesellschaft überhaupt nicht dazu in der Lage, den Interessen Schutzbedürftiger zu dienen. Denn ihre Rolle ist es einzig und allein, die Interessen des Staates zu wahren.

Die gewerkschaftsnahe Organisation DIDF-Jugend forderte in einem Instagram-Post eine unabhängige Beschwerdestelle. Wir müssen uns fragen, von wem und was unabhängig? Gerechtigkeit – wenn nach solchen Fällen überhaupt davon die Rede sein kann – kann nicht durch die Polizei und die bürgerliche Justiz erreicht werden. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen jetzt schon auf einen „Verdacht der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge“ hinaus, ein juristisches Framing, welches jedwede Absicht außer Acht lassen soll. Im Gegensatz fordern wir Ermittlungen zu einem Mord, die aufzeigen, welche Motive sich hinter den Geschehnissen verbergen. Dies wird zeigen, wieso wir von strukturellem Rassismus und Ableismus sprechen.

Wir schlagen dafür eine unabhängige Untersuchungskommission vor, die sich aus Betroffenen von Polizeigewalt und deren Angehörigen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zusammensetzt. Während das Landeskriminalamt in seinen eigenen Ermittlungen in aller Tradition bestenfalls Halbwahrheiten präsentieren wird, soll eine unabhängige Kommission zeigen, was wirklich passiert ist.

Eine solche Kommission, bei der die mächtigen deutschen Gewerkschaften mitmachen, kann ihre Kraft in Form von Demonstrationen oder Streiks einsetzen. Sie kann die Veröffentlichung von unter Verschluss gehaltenen Akten oder ein Ende der Straffreiheit für Gewalttäter:innen in Uniform fordern, wenn die Justiz wieder einmal beweist, auf wessen Seite sie steht. Dafür aber muss der Deutsche Gewerkschaftsbund auch endlich die Gewalttäter:innen aus seinen eigenen Reihen hinauswerfen: Raus mit der Gewerkschaft der Polizei aus dem DGB!

Wie die „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA müssen wir auch hierzulande fordern: Entzieht der Polizei die Gelder! Geld für Soziales, Gesundheit und Bildung statt für die Militarisierung der Gesellschaft!

All das sind Schritte, um das zu erkämpfen, was eine junge Frau bei der Kundgebung am Montag am Mannheimer Marktplatz forderte: „Nieder mit der rassistischen Polizeigewalt!“

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