Palästinensisches Mädchen festgenommen – ein instrumentalisiertes Kind oder eine Kämpferin?

20.12.2017, Lesezeit 4 Min.
Gastbeitrag

Die 16-jährige Ahed Tamimi aus dem palästinensischen Dorf Nabi Saleh wurde in der Nacht zum Dienstag von israelischen Soldat*innen aus dem Haus ihrer Eltern verschleppt und verhaftet. Während einer Demo im Dorf letzten Freitag verpasste sie einem bewaffneten Soldaten eine Ohrfeige. Der Mut dieser Minderjährigen wird aber in einer bizarren Verdrehung den Palästinenser*innen als etwas Negatives vorgeworfen.

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Als Ahed Tamimi ungefähr zwei Jahre alt war, wurde ihr Vater, der Aktivist Bassem Tamimi, bei einem Verhör dermaßen gefoltert, dass er ganze sieben Tage im Koma lag. Als sie 13 war, wurde ihrer Mutter, der Aktivistin Nariman Tamimi, aus kurzer Entfernung mit einem “Ruger” ins Bein geschossen. Ein Jahr später machte ein Bild ihres jungen Bruders international die Runde: Ein vermummter Besatzungssoldat versuchte ihn zu erwürgen, während die gesamte Familie an ihm zerrte und versuchte, ihren Sohn – der mit eingegipstem Arm auf dem Boden lag – zu befreien.

Anders als bei deutschen Kindern ist Tamimis Erwachsenwerden von dem Kampf ihres Dorfes, und dem ihres Volkes, nicht zu trennen. Es vergeht kaum eine Woche, in der das Haus der Familie nicht von Soldat*innen gestürmt oder angeschossen wird. Tamimi wuchs mit dem Widerstand auf, an einem Ort, wo die Verantwortung von Mama und Papa nicht nur das Ernähren und Bekleiden ihres Kindes ist, sondern auch das Vermitteln von politischem Verständnis und von Standhaftigkeit.

Ihr Vater Bassem meinte mal zu mir: “Die Besatzung wird nicht einfach in ein paar Jahren verschwinden, also ist es unsere Pflicht als Eltern, unsere Kinder auf ihre Zukunft vorzubereiten.” Zusammen mit ihren Altersgenoss*innen wurde Ahed langsam zu einer führenden Figur im Dorf und bereite sich vor, die Elterngeneration abzulösen, wenn diesen die langen Jahre voller Verletzungen, Verhaftungen und Tod zu viel werden.

Die Realität im Westjordanland ist schon für Erwachsene oft unerträglich. Wie dies für ein junges Mädchen ist, kann man sich in Deutschland sicher kaum vorstellen. Unterdrückung ist Teil ihres Lebens – der Kampf dagegen ebenfalls. Am letzten Freitag wurde anscheinend das Fass zum Überlaufen gebracht: Ihrem elfjähriger Cousin Mohammad wurde mit einer mit Gummi verkleideten Kugel ins Gesicht geschossen und liegt nun im Koma. Wahrscheinlich hat dies Ahed an einen anderen Verwandten erinnert, Mustafa, der 2011 durch einen Schuss ins Gesicht ermordet wurde.

Ahed ging zu den Soldat*innen, die neben ihrem Haus standen. Mit unfassbarem Mut schrie sie diese an: “Haut ab!” Dann näherte sie sich und schlug den behelmten Besatzern ins Gesicht. Wahrscheinlich nur wegen der Anwesenheit von Videokameras schlugen die Soldat*innen nicht sofort zurück.

Das Video kursierte sofort in allen Netzwerken, auch in den israelischen Medien. Schnell wurden Rufen laut, das junge Mädchen zur Rechenschaft zu ziehen. Und so kam es auch: In der Nacht zum Dienstag wurde Ahed aus ihrem Haus verschleppt. Was mit ihr passieren wird, ist unklar. Vielleicht sitzt sie jetzt in derselben Zelle wie ihre Mutter oder ihr Vater vor ihr, hat Angst davor, wie ihr Vater ins Koma geprügelt zu werden, möchte zurück in die Schule, oder viel eher zurück in den Kampf. Als ihre Mutter Nariman zum Gefängnis fuhr, um nach ihrer Tochter zu schauen, wurde sie grundlos ebenfalls verhaftet. Am nächsten Tag wurde auch ihren Vater während des Gerichtsprozess festgenommen.

In Deutschland wird den Palästinenser*innen oft vorgeworfen, sie instrumentalisierten ihrer Kinder, indem sie sie auf Demos mitnehmen. Aus der Sicht einer Person, die eine geschützte und freie Kindheit in München oder Berlin genoss, kann es vielleicht auch so aussehen. Tatsache ist aber, dass palästinensische Kinder – genauso wie ihre Eltern – nur zwei Möglichkeiten haben: ihre Freiheit abzugeben, oder Widerstand zu leisten.

Die junge Genossin Ahed entschied sich ihr ganzes Leben für die zweite Möglichkeit, und wurde diese Woche zu einer weiteren politischen Gefangenen im Kampf.

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