Österreich im Ausnahmezustand – Kontrollverlust der Herrschenden?

20.03.2020, Lesezeit 8 Min.
Gastbeitrag

Covid-19 hält den Alltag der österreichischen Bevölkerung längst im Zangengriff. Versuch einer Bestandsaufnahme der ökonomischen und politischen Situation im Land. Ein Gastbeitrag von Rosa J. und Viktor A.

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Die Einigung der herrschenden Klasse auf Maßnahmen zur Eindämmung des neuartigen Virus in der Alpenrepublik schien anfangs von einigen Schwierigkeiten begleitet zu sein. Nichtsdestoweniger stoßen die seit Sonntagnacht in Kraft getretenen Ausgangsbeschränkungen, Einführungen von Verbotszonen sowie Schließungen öffentlicher Institutionen und ausgewählter Betriebe des Handels und weiterer Dienstleistungsbetriebe, etwa im Sport- und Freizeitbereich, als bundesweite Strategie der Infektionseindämmung auf bereitwillige Akzeptanz der Abgeordneten, aber auch der Mehrheitsbevölkerung. Das unglückliche Los der Zweitgenannten besteht jedoch darin, sich in existenzieller Abhängigkeit zu den Arbeitsplätzen der betroffenen gesellschaftlichen Sphären zu befinden. Dem ist hinzuzufügen, dass die Wirtschaftskammer1 in ihrer Informationsaussendung zum Coronavirus betont, dass „Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen in keiner Weise Werksschließungen, Produktionsstopps o.ä. für die Industrie oder das produzierende Gewerbe vorsehen oder notwendig machen.“ Es überrascht angesichts der einflussreichen wirtschaftspolitischen Entscheidungen daher nicht, dass die Masse der arbeitenden Menschen auf unterschiedliche Weise von den Mitteln des Ausnahmezustands betroffen ist. Im Folgenden wollen wir uns in drei groben Schritten – auf der Ebene der nationalen Gesamtwirtschaft, der Risikoverteilung auf einzelne Branchen und Betriebe sowie der individuellen Konsequenzen – den ökonomischen Auswirkungen der Corona-Krise in Österreich widmen. Dies soll einen Überblick über die derzeitige Lage im Land ermöglichen, die aufgrund beinahe täglicher Verordnungsänderungen durch die Bundesregierung zunehmend unüberschaubar wird.

Beginnen wir groß: Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Krise zeigen sich einerseits an dem abfallenden Austrian Trade Index (ATX) – d.h. der Kursentwicklung der zwanzig größten österreichischen Unternehmen – der vor einer Woche mit einem Verlust von mehr als zehn Prozent abstürzte. Hinzukommend stieg die Inflationsrate im Februar auf 2,2 Prozent. Aufgrund der vorherrschenden sogenannten kalten Progression beinhaltet die steigende Inflation umso schwerwiegendere Auswirkungen auf die Lebenssituation der abhängig Beschäftigten. Kalte Progression meint die Steuermehrbelastung, die im zeitlichen Verlauf entsteht, wenn die Eckwerte der progressiven Steuertarife nicht an die Inflationsrate angepasst werden. Steigt die Inflation abrupt, d.h. verliert das Geld plötzlich schnell an Wert, hat dies aufgrund der genannten Rahmenbedingungen umso drastischere Konsequenzen für alle abhängigen Bevölkerungsteile: Renten, Löhne und Sozialhilfen verlieren an Kaufkraft, Befreiungen und Zuschläge entfallen bei Verringerung des Realeinkommens. Diese Entwicklung erweist sich somit als zusätzliche Herausforderung für den Versuch, die Kaufkraft im Land aufrechtzuerhalten. Wie reagiert nun die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen auf diese Entwicklungen? Welche Maßnahmen werden zur Abfederung der Milliardenverluste des nationalen Gesamtkapitals in Betracht gezogen?

Nun, die Bourgeoisie verheddert sich diesbezüglich in Fraktionskämpfen, die aber nichtsdestoweniger in eine gemeinsame Richtung weisen. Während der österreichische Nationalbankchef Robert Holzmann mit einem Verweis auf den durch den österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter geprägten Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ dafür plädiert, die derzeitige Krise auch als Reinigungsprozess der Wirtschaft von nicht überlebensfähigen Unternehmen zu betrachten, versprechen die derzeitigen parteipolitischen Machthaber auch Klein- und Mittelbetriebe aufzufangen – „koste es was es wolle“, so der Bundeskanzler Sebastian Kurz am Sonntag vor dem Nationalrat. Dies soll insbesondere durch das seit Montag gültige Kurzarbeit-Modell bewerkstelligt werden, um Betriebsschließungen zu vermeiden. Dabei besteht von Seiten der Arbeitgeber*innen die Möglichkeit, die Arbeitszeit – folglich auch das Einkommen – der Lohnempfänger*innen innerhalb von drei Monaten um bis zu 90 Prozent zu reduzieren. Um die Reallohnverluste auszugleichen, sind im neuen Modell monetäre Zuschläge durch das österreichische Arbeitsmarktservice (AMS), je nach Einkommensstufe bis zu 90 Prozent, für die Arbeitnehmer*innen angedacht – vorausgesetzt natürlich, dass der Betrieb aufgrund eines Insolvenzrisikos nicht gänzlich schließt, so wie es aber zahlreiche Gastronomie- und Kunststätten in den vergangenen Tagen praktizierten. Während diese Maßnahmen für den Handel und die Gastronomie sowie für andere nichtproduzierende Gewerbe Gültigkeit besitzen – ausgenommenen jene Betriebe, die lebensnotwendige Tätigkeiten wie Lebensmittel- oder Medikamentenvertrieb übernehmen – bleibt der Großteil der mehrwertschöpfenden Sphäre von den gesundheitsbezogenen Verordnungen unberührt. Nichtsdestoweniger zeigt das Coronavirus auch hier seinen Einfluss: Aufgrund der abgebrochenen Lieferketten beschloss etwa der Automobilkonzern Magna in Graz bis Ende des Monats seine Tore geschlossen zu halten. Darüber hinaus drängt der derzeitige Kurs der Wirtschaftsvertreter*innen die Beschäftigten in anderen Bau- und Herstellungsbetrieben dazu, Druck aufzubauen und Streiks zu initiieren. So kam es etwa Mittwochfrüh in Oberösterreich trotz Versammlungsverbot zu Streikaktionen an mehreren Standorten gegen die „Unverantwortlichkeit der Firmenleitung“ in Bezug auf die Gesundheitsvorsorge der Arbeiter*innen.

Mit Blick auf die derzeit grassierenden individuellen Konsequenzen, lässt sich ein düstereres Bild erkennen, als durch die von der Regierung beschlossenen Hilfsmaßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit suggeriert: Unzählige Arbeiter*innen und Angestellte haben ihren Arbeitsplatz – gedrängt zur einvernehmlichen Kündigung – verloren. Insgesamt verzeichnet das AMS innerhalb von zwei Tagen einen Anstieg von 50 000 Arbeitslosen in ganz Österreich (Stand 19.0.3.20). Auffällig ist, dass insgesamt die „dynamischen Branchen“ betroffen sind, d.h. jene Bereiche, in denen viele Beschäftigte sehr rasch abgebaut werden, wenn es etwa keine Aufträge gibt: Bau, Leiharbeitswesen und Tourismus. Laut der Gewerkschaft vida hat etwa der Caterer-Riese DO & CO über 1000 Angestellte österreichweit entlassen. Die Tourismusbranche erweist sich überdies am vulnerabelsten: Der Fall um Ischgl als Drehscheibe des Coronavirus und das unverantwortliche Handeln der regionalpolitischen Führung vor Ort, die bis zuletzt versucht hatte, die Profite der Ski-Tourismus-Branche zu sichern, zeigt dies am eindringlichsten.

Aber auch jene Bereiche, die gerade unter der Last des Virus am meisten zu tragen haben, stehen auf Basis der politischen Maßnahmen vor einem Dilemma: Aufgrund der durch die Pandemie verhängten Reisebeschränkungen können zahlreiche Pflegekräfte nicht mehr ihrer Arbeit in Österreich nachgehen. Insbesondere die 24-Stunden-Pflege ist in Anbetracht der zahlreichen ausländischen Beschäftigten von einem Arbeitskräftedefizit betroffen. Obgleich nun verstärkt versucht wird, ehemalige Zivildiener2 zur Deckung der vormals primär durch Frauen aus Rumänien und Ungarn geleisteten Arbeit zu mobilisieren, scheint eine Lösung des Problems aussichtslos. Doch der Ausnahmezustand im Land wirkt bis ins ‚Private‘ hinein: Durch die Ausgangsbeschränkungen und die Schließung staatlich getragener Institutionen sind es Frauen und Mädchen, die verstärkt von den Gefahren häuslicher Gewalt betroffen sind. Hinzukommend sind durch die ausbleibenden Lohnzahlungen die derzeitigen Lebenskosten für viele nicht deckbar – Mietenzahlungen und Kinderversorgung werden zu drängenden Problemen.

Unterdessen schwadroniert Sebastian Kurz vom „Team Österreich“ und betont die Notwendigkeit „zusammenzustehen“ (eine Formulierung, die angesichts der Lage nicht einer gewissen Ironie entbehrt). Mit seinem milliardenschweren „Corona-Paket“, das freie Hand und Steuersenkungen für Unternehmer*innen verspricht, zeigt er allerdings nur, wie eng er mit der österreichischen Bourgeoisie „zusammensteht“. Unklar bleibt bis jetzt, wie drastisch Kleinbetriebe und Selbstständige sich selbst überlassen bleiben. Wie egal Kurz dabei die Arbeiter*innen und Angestellten sind, versucht er mit rührseligen Dankesreden im Fernsehen zu überspielen, in denen er die Heldentaten der Beschäftigten in Handel und Gesundheitswesen anpreist, ohne von finanziellen Zuschlägen zu sprechen. Gleichzeitig verschärfen sich aber die altbekannten Probleme im Gesundheitsbereich: Überstunden, hohe Arbeitsbelastung und mangelhaftes Arbeitsmaterial. Auch in anderen Branchen wird die Krise auf die Beschäftigten abgewälzt: Sofern sie nicht bereits entlassen wurden, pilgern trotz massivem Infektionsrisiko weiterhin Massen von Lohnabhängigen in ihre Betriebe, selbst wenn dort keine überlebenswichtigen Güter hergestellt werden.

Statt nationalem Schulterschluss muss daher mehr denn je ein klarer Klassenstandpunkt eingenommen werden:

  • Keine bedingungslosen Geschenke an das Kapital! Sie sollen für die Krise aufkommen!
  • Betriebliche Selbstorganisierung der Beschäftigten gegen das unverantwortliche und gefährliche Handeln der profitgierigen Betriebsführungen! Linz, Italien und Spanien zeigen den Weg! Wenn sie unsere Gesundheit gefährden, müssen wir durch Streik ihren Profit gefährden!
  • Entlastung und Gerechtigkeit für die Beschäftigten im Gesundheitswesen: Bekämpfung der Personalnot, Arbeitszeitverkürzung und Bereitstellung von Arbeitsmaterial in ausreichender Menge und Qualität!
  • Übergangszahlungen für (Schein-)Selbstständige bei wegfallenden Aufträgen und Wiedereinstellung von bereits gekündigten Angestellten und Arbeiter*innen!
  • Dreimonatiges Kostendeckungsmodell für Personalkosten in Gastronomie und Kulturinstitutionen!
  • Mietenerlass für alle von Arbeitsverhältnisderegulierung und Arbeitslosigkeit Betroffenen für die nächsten drei Monate!
  • Ausbau alternativer Unterstützungsmöglichkeiten zum Schutz von Frauen und Mädchen!

(1) Die Wirtschaftskammer ist eine gesetzlich verankerte Institution der österreichischen Sozialpartnerschaft, die die Interessen der nationalen Bourgeoisie vertritt. Arbeitgeber*innen sind zur Mitgliedschaft in ihr verpflichtet. Ihr gegenüber steht die Arbeiterkammer als verpflichtende Vertretung der Arbeitnehmer*innen sowie der tarifvertragsfähige österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB).

(2) In Österreich gilt die allgemeine Wehrpflicht, wobei junge Männer zwischen militärischem Grundwehrdienst und Zivildienst wählen können.

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