Nicht bloß schlaue Bücher – sondern Klassenkampf

27.07.2021, Lesezeit 10 Min.
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Foto: zhu difeng / Shutterstock.com

In der Zeitung analyse&kritik schreibt Sebastian Bähr über seinen Vater. Autobiografisch schildert er dessen Zermürbung angesichts der kapitalistischen Restauration in Ostdeutschland und der neoliberalen Reformen Anfang der 2000er Jahre unter Rot-Grün.

Sebastian Bähr skizziert in seinem Essay „All die klugen Bücher helfen mir hier nicht weiter“ den Leidensweg seiner Eltern. Diese hatten sich nach der kapitalistischen Restauration nach Jahren der Unsicherheit wieder eine Existenz aufgebaut. Sein Vater fand eine Anstellung im Einzelhandel, dessen Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Jahr 2000 aufgehoben wurde. Es begann eine Zeit von Preiskrieg, Lohndumping und Kostenwettbewerb. Insolvenzen, wie die von Schlecker, und Fusionen waren die Folge. Am Ende schaltete sich sogar das deutsche Kartellamt ein. Trotz der Bedenken des Kartellamts winkte die Politik die Fusion von Edeka und Tengelmann durch, die nun über eine erhebliche Marktmacht verfügen und riesige Profite davontragen. Wichtigster Befürworter der Fusion war niemand anderes als Sigmar Gabriel, in seiner Funktion als SPD-Wirtschaftsminister.

Doch ab 2016 wehrten sich die Beschäftigten von Real gegen die Bedingungen im Einzelhandel. Auslöser war die Aufkündigung des Tarifvertrags. Die Geschäftsführung begründete dies mit dem Wettbewerbsnachteil. Aber anstatt die enorme Kampfbereitschaft der Kolleg:innen vollkommen auszunutzen, vereinbarte die Gewerkschaftsbürokratie mit der Geschäftsführung einen sogenannten „Zukunftstarifvertrag“. Doch mit Zukunft war lediglich die Zukunft der Geschäftsführung gemeint.

Als Gipfel der Dreistigkeit setzte die Gewerkschaftsführung den Beschäftigten die Pistole auf die Brust. Entweder diesen Tarifvertrag oder gar keinen. Letztendlich bissen zwei Drittel der Beschäftigten in den sauren Apfel und entschieden sich für das kleinere Übel. Die Bürokratie feierte dies als einen riesen Erfolg. Für die Beschäftigten war es eine bittere Niederlage.

Aber selbst dieses kleinere Übel war bloß eine Farce. Zahlreiche Verstöße gegen den Tarifvertrag wurden von der Gewerkschaftsbürokratie nicht geahndet. Dort wurden Bestandsgarantien für bestimmte Märkte vereinbart, während andere auf die Strichliste wanderten. Bei einer Filiale von Real in München behauptete die Geschäftsführung einfach, das Gebäude sei marode und müsse abgerissen werden. Ohne wenigstens ein Gutachten einzufordern, ließ die Gewerkschaftsbürokratie das Management wortlos gewähren. Einen Verstoß gegen den Tarifvertrag machte sie nicht gelten. Die örtliche SPD machte sich lieber Gedanken über die frei werdende Fläche und sah dies als „Chance“ für Investitionen im Stadtteil.

Letztendlich wurde Real aufgelöst. Aber auch wenn der Kampf in einer Niederlage endete, gelang es, tausende Leser:innen mit linken Ideen in Verbindung zu bringen. Immer wieder haben wir auf Klasse Gegen Klasse über den Arbeitskampf bei Real und die verräterische Politik der bürokratischen Gewerkschaftsführung berichtet. Diese wurden von den Kolleg:innen der Einzelhandelskette gelesen, in sozialen Netzwerken geteilt und diskutiert.

Sebastian Bähr verweist in seinem Text auf das Beispiel der Gewerkschaft Nahrungsmittel Genuss Gaststätten (NGG), die bei Teigwaren Riesa einen Tarifvertrag erkämpfen konnte. Eine Delegation des Traditionsunternehmen aus der sächsischen Stadt Riesa nahm sogar an der #unteilbar-Demonstration in Dresden teil, das sonst eher durch die islamfeindlichen Kundgebungen von Pegida bekannt ist. Daneben gab es noch eine ganze Zahl weiterer Arbeitskämpfe in Sachsen und Ostdeutschland. So zum Beispiel bei Hallberg-Guss in Leipzig oder der Kampf für die Einführung der 35 Stunden Woche der IG Metall in Ostdeutschland.

Leider nehmen bloß wenige linke Gruppen an diesen Arbeitskämpfen teil, wenn überhaupt, und diejenigen, die kommen, machen häufig einen gewaltigen Fehler, nämlich, dass sie die verräterische Politik der Gewerkschaftsbürokratie mittragen oder zumindest nicht offen konfrontieren. Selbst trotzkistische Gruppen suchen nicht selten den Schulterschluss mit unteren Teilen der Bürokratie. Im Zweifel machen sie sich dann zu Anwält:innen der verräterischen Politik der bürokratischen Führung.

Sebastian Bähr verweist auf die Notwendigkeit von Siegen, um die Kampfbereitschaft der Massen zu erhöhen. Jede weitere Niederlage wiegt schwer auf dem Bewusstsein der Massen. Aber es ist die verräterische Politik der bürokratischen Führung, die die Kämpfe in die Niederlage führt und neue Siege verhindert. Deswegen ist es von so zentraler Bedeutung eine oppositionelle Strömung innerhalb der Gewerkschaften aufzubauen, die sich auf die proletarische Basis stützt und sich gegen die bürokratische Führung stellt, selbst ihre untersten Reihen. Nur so lassen sich die Gewerkschaften wieder in Kampforganisationen der Arbeiter:innenklasse verwandeln. Die verräterische Politik der Gewerkschaftsführung ist es, weswegen so viele Arbeiter:innen den Gewerkschaften misstrauen.

Die Kunst ist es also, um die Führung innerhalb der Arbeiter:innenbewegung zu kämpfen. Solange sich jedoch nicht eine neue Führung im Kampf beweist und damit das Vertrauen der Massen gewinnt, bleibt die Führung der Bürokratie ungebrochen. Eher wird sich Frustration und Resignation breit machen, mit schrecklichen physischen wie psychischen Folgen. Bloß unter diesen Bedingungen können rechte Parteien aus dem kapitalistischen Niedergang Profit schlagen.

Für den Kampf um die Führung ist es nötig, öffentliche Figuren aus der Arbeiter:innenbewegung heraus aufzubauen, die sich der verräterischen Politik der Gewerkschaftsbürokratie entgegenstellen und die objektiven Interessen der Arbeiter:innenbewegung vertreten. Nur entstehen diese Figuren nicht spontan, nicht aus sich selbst heraus, sondern es ist die Aufgabe von Revolutionär:innen, solche Figuren aufzubauen und dem bewusstesten Teil der Arbeiter:innenklasse eine Bühne zu verschaffen.

Dabei gibt es einen fundamentalen Unterschied zu Teilen der Linkspartei, der SPD und der außerparlamentarischen Linken, die sich solidarisch mit einzelnen Kämpfen zeigen. Über ein Foto und einige wohlwollende Worte geht es häufig nicht hinaus. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man mit einem Kampf solidarisch ist oder ob man sich an seiner Vorbereitung und Ausführung aktiv beteiligt. Jede:r Idiot:in kann vorbeikommen, sagen: “Schön, dass ihr hier seid“ und wieder gehen. Aber über Jahre hinweg sich als Agitator:in in einem Betrieb zu beteiligen, die anstehenden Kämpfe vorzubereiten und zum Sieg zu verhelfen, dazu ist viel mehr nötig. Dieses Manko betrifft nicht nur Bundestagsabgeordnete, sondern auch ausgesprochen breite Teile der außerparlamentarischen Linken. Um aber langfristig das Vertrauen der Arbeiter:innen zu gewinnen muss man sich aktiv an der Vorbereitung und Durchführung der Kämpfe beteiligen. Das gilt nicht bloß für den einzelnen Arbeitskampf, sondern für den revolutionären Aufstand generell.

Wichtig ist, insbesondere in Ostdeutschland, eine Bilanz des Stalinismus. Das bürokratische Regime der DDR war keineswegs die notwendige Folge einer erfolgreichen Revolution, angeführt von einer Partei. Daher ist es wichtig, sich mit den historischen Umständen vertraut zu machen, die Isolation der Russischen Revolution, die wirtschaftliche Rückständigkeit in Russland. Nur unter diesen Bedingungen konnte die revisionistische Idee vom Sozialismus in einem Land, gestützt auf die Sowjetbürokratie, an Einfluss gewinnen. Die Partei kann, wie jede Waffe, in die Hände des Feindes fallen. Das ist aber kein Grund unbewaffnet ins Feld zu ziehen oder gar den Kampf gleich aufzugeben. Die Kunst des Krieges ist nicht die Niederlage zu verhindern, sondern den Sieg zu erringen.

Ein internationales Phänomen

Der von Sebastian Bähr in analyse&kritik erschiene Text erinnert nicht zufällig an „Wer hat meinen Vater umgebracht?“ von Èdouard Louis. Dieser beschreibt ebenfalls in autobiografischer Weise die Beziehung zu seinem Vater, die über lange Zeit angespannt blieb, bis sie einem liebevollem gegenseitigem Verständnis wich. Louis macht die neoliberale Politik in Frankreich für das Schicksal seines Vaters verantwortlich, der nach einem schweren Arbeitsunfall von den kaputtgesparten französischen Sozialleistungen abhängig ist.

In Frankreich hat Didier Éribon mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ ein ganzes Literaturgenre geschaffen. Dies beschäftigt sich vorwiegend mit dem proletarischen Milieu in den einstigen industriellen Hochburgen, die stark vom Rückgang der Industrie geprägt sind, wie dies auch im „Rust Belt“ der Fall ist, die älteste und größte Industrieregion der USA, wo viele Arbeiter:innen für Donald Trump gestimmt haben. In Frankreich haben sich die ehemaligen Hochburgen der Kommunistischen Partei in Hochburgen des Front National verwandelt. In Sachsen, Thüringen und Teilen von Nordrhein-Westfalen profitiert die AfD vom kapitalistischen Niedergang. Vielerorts geht dies einher mit einem Niedergang der ehemaligen Arbeiter:innenparteien. Wir haben es also mit einem internationalen Phänomen zu tun, zumindest in den entwickelten „westlichen“ Ländern. Daher ist es kein Wunder dass die Bewegung der Gelbwesten auch hier bei vielen zumindest „heimliche Freude“ auslöst.

Wie Édouard Louis und Sebastian Bähr setzt sich auch Didier Éribon autobiografisch mit dem Schicksal seiner Familie und dem proletarischen Milieu auseinander. Früh gerät er, wie auch sein Schüler Édouard Louis, mit seiner Homosexualität in Konflikt mit dem Männlichkeitsideal innerhalb des proletarischen Milieus, welches er als Reaktion auf die äußeren Umstände diagnostiziert. Wenn diese sich verhärten, verhärten sich auch die mit ihnen verbundenen Ideen und Ideale. Ein schottischer Bergarbeiter hat es einmal gut auf den Punkt gebracht: “Wir waren harte Kerle, weil wir es sein mussten.“ [Arte Doku über die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung]

Auch wenn sich die einzelnen Werke im Detail unterscheiden, gibt es doch immer wieder zentrale Gemeinsamkeiten: Die autobiografische Erzählweise, das Männlichkeitsideal innerhalb des proletarischen Milieus, der Rückgang der Industrie, die neoliberalen Reformen, sowie der Aufstieg rechter Kräfte, die aus dem kapitalistischen Niedergang Profit schlagen. Daraus wird die Tragweite von Sebastian Bährs Essay ersichtlich. Es sind nicht einfach tragische Einzelfallbeispiele, sondern sie stehen sinnbildlich für die Geschichte einer ganzen Generation von Arbeiter:innen.

Für viele von ihnen wird es leider schon zu spät sein. Wichtig sind die Schlussfolgerungen, die die neue Generation daraus zu ziehen vermag. Édouard Louis verwandelte die Aussöhnung mit seinem Vater in eine brennende Anklage gegen Konservatismus, Neoliberalismus und die Sozialistische Partei, die – ganz ähnlich zur Agenda-Politik der SPD in Deutschland – selbst neoliberale Maßnahmen wie das neue Arbeitsmarktgesetz vorantrieb. Aber wohin soll diese Wut führen? Trotzki schrieb dazu in seiner Streitschrift über den Terrorismus: “Lerne zu sehen, daß all die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, alle Beleidigungen, denen der menschliche Körper und Geist ausgesetzt sind, entstellte Auswüchse und Äußerungen der bestehenden sozialen Ordnung sind, um unsere ganze Kraft auf einen gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu richten, – das ist die Richtung, in der der brennende Wunsch nach Rache seine höchste moralische Befriedigung finden kann.“

Das Essay „All die klugen Bücher helfen mir hier nicht weiter“ von Sebastian Bähr gibt es hier zu lesen.

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