New York: Kampf für das Recht auf Schwangerschafts­abbruch

11.05.2022, Lesezeit 15 Min.
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Foto: leftvoice.org

Am 3. Mai ließen in New York Hunderte von Menschen ihrer Empörung Taten folgen und gingen für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf die Straße.

Auf den Straßen von New York City war die Botschaft an den Obersten Gerichtshof, die extreme Rechte, die Kirche und die Republikanische Partei klar: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Mit allem, was wir haben, werden wir unser Recht auf Selbstbestimmung verteidigen. „Not the Church and not the State –  The people must decide our fate“ („Nicht die Kirche und nicht der Staat, die Menschen müssen ihr Schicksal entscheiden“) schallte es durch die Straßen, als fast eintausend Menschen vergangene Woche demonstrierten.

Die Demonstration wurde als Reaktion auf den geleakten Gesetzesentwurf des Obersten Gerichtshofs organisiert, der verspricht, „Roe v. Wade“ zu kippen. Das historische Urteil von 1973 erlaubt es Frauen in den USA derzeit noch, eigenständig über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Sollte „Roe v. Wade“ gekippt werden, bleibt es den einzelnen Bundesstaaten selbst überlassen, Schwangerschaftsabbrüche fortan gänzlich zu verbieten. Die rechten Fanatiker:innen der Republikanischen Partei arbeiten bereits jahrzehntelang darauf hin, die Abtreibungsrechte, die unter anderem auch durch das „Roe v. Wade“-Urteil erkämpft wurden, anzugreifen. Dagegen sind diejenigen von uns, die legale Abbrüche unterstützen, nicht nur die Mehrheit in diesem Land, sondern seit dem geleakten Gesetzesentwurf auch wütend. Der Angriff auf die Abtreibungsrechte ist an sich schon verheerend, doch wenn „Roe v. Wade“ gekippt werden sollte, stehen die Rechte von LGBTQIA+ zweifellos als Nächstes an. Sogar Errungenschaften aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung, wie das Recht auf Eheschließung von Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen, könnten bedroht sein, wenn wir zulassen, dass der rechte Flügel weiter vorankommt. Die endgültige Entscheidung wird im Juli fallen, wenn der Oberste Gerichtshof sein abschließendes Urteil veröffentlicht.

Ob Entwurf oder nicht – dass fünf nicht gewählte Personen denken, sie hätten die Macht, unsere Zukunft wegzuwerfen, unsere Körper zu kontrollieren und uns zu Kanonenfutter für politische Zwecke zu machen, zeigt das Papier deutlich. Der Leak löste in den gesamten Vereinigten Staaten Empörung aus. Bereits Stunden nach dem Bekanntwerden wurden im ganzen Land Proteste für den nächsten Tag angekündigt.

Der New Yorker Protest startete auf dem Foley Square zu einer Kundgebung unter der Leitung des „Women’s March“. Dies ist die Organisation, die 2017 Millionen von Menschen auf die Straße brachte, um gegen Donald Trump zu protestieren, die es aber seither versäumt hat, mit Nachdruck zu mobilisieren, obwohl das Recht auf Schwangerschaftsabbruch unter der Regierung Bidens angegriffen wird. Stattdessen rief „Women’s March“ lediglich dazu auf, „Blau [zu] wählen“. Dabei scheinen sie zu vergessen, dass die Demokraten bereits sowohl die Legislative als auch die Exekutive kontrollieren.

Eine Stunde vor Beginn des New Yorker Protests hatten sich bereits mehrere hundert Menschen auf einem kleinen Platz vor einer Reihe von Regierungsgebäuden versammelt. Als die Reden begannen, waren es Tausende. Alle waren in Grün gekleidet, der internationalen Farbe für Abtreibungsrechte – ein Nachbeben der erdrückenden marea verde („grüne Welle“), die Millionen von Menschen in Argentinien das Recht auf Schwangerschaftsabbruch erkämpfte, in Mexiko und Kolumbien die Entkriminalisierung bewirkte und darüber hinaus den Kampf für Abtreibungsrechte in Irland inspirierte.

„Abort the Supreme Court!“ („Treibt den obersten Gerichtshof ab!“), riefen die Demonstrant:innen. Richter Samuel Alito, der Verfasser des geleakten Entwurfs, hätte Angst vor unserer Wut gehabt, die wir angesichts seiner Argumentation empfinden, dass „ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch nicht tief in der Geschichte und den Traditionen der Nation verwurzelt ist“. Mit dieser Argumentation versucht er, die langjährige Tradition des Kampfes der feministischen Bewegung, der queeren Bewegung, der Schwarzen Feministinnen und der Gewerkschaften auszulöschen.

Viele von uns, die an der Kundgebung teilnahmen, haben die historischen Kämpfe nicht selbst miterlebt. Wir sind in unseren Zwanzigern oder jünger. Aber wir bewundern diese Kämpfe und haben sie studiert. Wir haben aus deren Geschichte gelernt, damit uns die Urheber von Frauenfeindlichkeit, Bigotterie und Unterdrückung nicht täuschen können.

Auf der Kundgebung sprachen viele Redner:innen davon, dass es notwendig sei, den Obersten Gerichtshof zu demokratisieren. Entsprechende Schilder waren ebenfalls auf dem Platz zu sehen. Auf anderen stand: „Biden hat versprochen, Roe v. Wade gesetzlich festzuschreiben“.

Tausende von jungen Menschen haben genug von den Demokraten und dem Obersten Gerichtshof. Wir halten es für inakzeptabel, dass neun nicht gewählte Personen, die auf Lebenszeit ernannt werden – ganz zu schweigen von elf, zwanzig oder dreißig – in der Lage sind, zu diktieren, was mit dem Leben und dem Körper von Millionen von Menschen geschieht. Wir haben es satt, dass der Senat, der dazu dient, die Regierung durch eine Minderheit zu bewahren, Entscheidungen für uns trifft. Diese Säulen des kapitalistischen Staates ähneln der katholischen Inquisition – nicht nur, was ihr Denken angeht, sondern auch in der Art ihrer Entscheidungen. Die amerikanische „Demokratie“, die von den USA genutzt wird, um der Welt ihren Willen aufzudrücken, ist eine Farce.

Die Demokraten versprechen immer wieder, dass sie sich wehren werden, aber unsere Rechte und unsere Lebensbedingungen haben sich im Laufe der Jahre stets verschlechtert. Jahr für Jahr wurden Abtreibungseinschränkungen verabschiedet und Kliniken geschlossen. Die Demokraten selbst haben das „Hyde Amendment“ unterstützt und verabschiedet, welches Menschen mit geringem Einkommen den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen über das Gesundheitsfürsorgeprogramm für arme Menschen Medicaid verwehrt. Die Demokraten hatten zahlreiche Gelegenheiten, mit einer Mehrheit im Kongress ein Bundesgesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs zu verabschieden, aber es kam nie dazu. Dass „Roe v. Wade“ kippen könnte, ist ein weiteres Recht, dessen mögliche Abschaffung sie instrumentalisieren, um den Menschen Angst zu machen, damit sie die Demokraten wählen.

Als wir uns auf dem Foley Square versammelten, hielten diese Politiker und ihre Verbündeten in den pro-demokratischen NGOs dieselben müden Reden, die sie schon seit mehreren Jahren halten. Eine Rede nach der anderen zog sich in die Länge; sie waren Teil einer Kundgebung, die darauf ausgerichtet war, zu demoralisieren und zu demobilisieren.

Doch die Energie in der Menge war kämpferisch und es war klar, dass die Menschen etwas tun wollten, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen, anstatt geduldig Reden zu hören. Wir kamen zu der Kundgebung, bereit zu marschieren. Wir wissen, dass wir den Rechten zeigen müssen, dass wir stark sind und zurückschlagen werden.

Anstatt aufzugeben und nach Hause zu gehen, organisierten wir uns nach der Kundgebung mit den anderen anwesenden Sozialist:innen und Abtreibungsrechtsorganisationen – wie Socialist Alternative und „NYC for Abortion Rights“ – zu einer Demonstration. Wir verließen den Platz der Kundgebung und gingen auf die Straße. Wir forderten die Menschen um uns herum auf, sich uns anzuschließen, indem wir „We want to march!“ („Wir wollen demonstrieren!“) riefen. Schilder wurden gemalt und diejenigen, die mit uns marschieren wollten, versammelten sich. Viele hatten auf diesen Moment gewartet und schlossen sich unserer Gruppe an. Als wir genug Menschen versammelt hatten, gingen wir los.

Ehe wir es uns versahen, waren wir bereits mit Tausenden auf der Straße und marschierten in Richtung Washington Square Park. Die Dutzend Polizist:innen, die für die Kundgebung zusammengezogen wurden, konnten uns nicht aufhalten. Wir bauten auf der Erfahrung auf, die wir während „Black Lives Matter“ in New York gemacht haben: Wir haben uns die Straße zurückerobert, wir bitten nicht mehr um Erlaubnis, um zu protestieren. Wir marschieren nicht mehr im Gänsemarsch auf dem Bürgersteig. „Whose streets? Our streets!“ („Wessen Straße? Unsere Straße!“)

Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen aus dem langen Protestsommer 2020 traten Dutzende von Menschen in Aktion – Radfahrer:innen blockierten den Verkehr, andere Demonstrant:innen sorgten dafür, dass wir zusammen blieben, und Trommler:innen hielten unsere Energie hoch, während wir Forderungen riefen und Block für Block marschierten. Nachdem wir zwei Stunden lang stillgestanden und leeren Worten zugehört hatten, war die Atmosphäre des Marsches kämpferisch aufgeladen mit der Energie, die uns die Entscheidung, unseren Kampf in die eigenen Hände zu nehmen, gab.

Als wir im Washington Square Park ankamen, organisierten wir unsere eigene Kundgebung, um die Stimmen der Demonstrant:innen zu hören, die für die Verteidigung der Abtreibungsrechte marschierten. Wir hatten zwar keine große Soundanlage, aber wir haben uns Gehör verschafft. Durch „Call and Response“ klangen unsere Reden in einem Park wieder, der in den letzten Jahren zu einem Ort des Widerstands und des Kampfes für „Black Lives Matter“-Demonstrant:innen, junge Menschen und Obdachlose geworden ist, die das Recht auf die Nutzung des Platzes einfordern.

Unsere Stimmen wurden entfesselt und nicht länger von Bürokrat:innen und Politiker:innen unterdrückt, die vorgeben, uns zu vertreten, während sie gegen unsere Interessen handeln. Wir haben unsere eigenen Perspektiven dargelegt, weil wir es sind, die unter den Folgen der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, den Angriffen der Rechten und der Komplizenschaft der Demokraten leiden werden.

Tatsache ist, dass der einzige Weg zu einem freien, sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch – auf Wunsch und ohne Entschuldigung – ein Kampf von unten ist. Es ist ein Kampf im Geiste der Millionen von Feminist:innen auf der ganzen Welt, die sich in ihren Schulen, Universitäten und an ihren Arbeitsplätzen organisiert haben, um auf die Straße zu gehen und das Recht auf Abtreibung zu fordern.

Die Protagonist:innen in diesem Kampf sind nicht die Demokraten oder die NGOs. Wir dürfen uns nicht einreden lassen, dass sie das geringere Übel sind. Aus verschieden Lagern kommt Zweifel an den Demokraten auf. Wichtig ist, dass wir trotz aller Meinungsverschiedenheiten gemeinsam auf der Straße gehen und uns gegen die Angriffe der Reaktionären organisieren. Rechte zu erkämpfen, funktioniert nur, indem wir die Kapitalist:innen dort treffen, wo es weh tut: indem wir ihr „Business as usual“ stören. Wir müssen uns unabhängig von den Kapitalist:innen organisieren, uns mit denen solidarisieren, die unter der Bigotterie und Unterdrückung leiden und mit ihnen gegen die Zerschlagung von Gewerkschaften und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Am Tag nach dem Bekanntwerden der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes hat „Starbucks Workers United“, das die Beschäftigten einer der größten Ketten in den USA gewerkschaftlich organisiert, auf Twitter Stellung genommen. Sie schreiben:

Unsere Bewegung kämpft für mehr Autonomie und mehr Menschlichkeit für uns alle – sowohl am Arbeitsplatz als auch darüber hinaus. Kein Boss und kein Gericht sollte jemals das Recht haben, uns zu sagen, was wir mit unseren Körpern tun können. Wir alle in der Arbeiter:innenbewegung müssen für unsere Abtreibungsrechte kämpfen.

Die Worte der „Starbucks Workers United“ zeigen, dass der Kampf für Gewerkschaften und der Kampf für einen freien, sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch eng miteinander verbunden sind – und, dass unsere Forderungen durch unseren gemeinsamen Kampf an unseren Arbeitsplätzen und auf der Straße durchgesetzt werden müssen. Viele von uns, die am Dienstag auf die Straße gegangen sind, sind Teil der Arbeiter:innenklasse, auch wenn wir als Einzelpersonen zu der Kundgebung gekommen sind. Gemeinsam haben wir die Macht, unsere Forderungen durch Mobilisierungen und Streiks durchzusetzen und so die Gesellschaft zu unseren Gunsten umzugestalten.

Um unsere Rechte und unser Leben gegen die Angriffe der reaktionären Regierungen zu verteidigen, müssen wir diese Verbindungen zwischen dem Kampf auf der Straße und dem Kampf an unseren Arbeitsplätzen vertiefen. Wir müssen eine Bewegung organisieren, die für Abtreibungsrechte und gegen alle Angriffe der Rechten kämpft. Aber nicht so, wie die Demokraten es meinen, wenn sie sagen, wir sollen uns organisieren – als kritische Masse an der Wahlurne.

Wir müssen uns demokratisch organisieren, sodass die Tausenden von uns, die bereit sind, in Aktion zu treten, selbst entscheiden können, welche Aktionen wir wollen. Ähnlich wie im Washington Square Park brauchen wir Versammlungen, um unsere Bewegung zu diskutieren und einen gemeinsamen Kurs mit Forderungen festzulegen. Wir brauchen Komitees zur Verteidigung der reproduktiven Rechte in unseren Schulen und an unseren Arbeitsplätzen. In diesen Räumen können wir uns organisieren, um uns gegen die Angriffe der Rechten zu verteidigen, beginnend mit der Forderung, dass ein Schwangerschaftsabbruch kostenlos, legal, sicher und auf Nachfrage gesetzlich verankert werden muss.

Als sich die Menge am Dienstagabend auflöste, war die Energie, die in der Luft lag, elektrisierend. Einige der Redner:innen kündigten ein Treffen an, um die nächsten Schritte zu besprechen und das weitere Vorgehen der Bewegung zu planen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Left Voice.

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