Neue Etappe der Unabhängigkeitsbewegung

17.10.2015, Lesezeit 9 Min.
1

// KATALONIEN: Eine demokratische Bewegung kämpft seit 2012 mit massiven Demonstrationen für das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Die Wahlen zum Regionalparlament am vergangenen 27. September waren eine Abstimmung über die Unabhängigkeit. //

77 Prozent der Katalan*innen haben sich an den Wahlen zum Regionalparlament am 27. September beteiligt. Die Parteien und Bündnisse, die sich für die Unabhängigkeit aussprachen, sind sehr gestärkt daraus hervorgegangen. Das spanische Regime lässt schwere Kaliber gegen das Selbstbestimmungsrecht auffahren, während sich die strategischen Grenzen der Unabhängigkeitsbewegung zunehmend aufzeigen.

Klare Sieger*innen

Vor den Wahlen hatte Artur Mas, der amtierende Präsident und Vorsitzende der bürgerlichen Partei Demokratische Konvergenz Kataloniens (CDC), angekündigt, dass sie weit mehr als nur eine normale Stimmabgabe, sondern ein Volksentscheid über die Unabhängigkeit Kataloniens werden würde. Dafür gründete er die Koalition „Gemeinsam für das Ja“ (Junts pel Sí), bestehend aus CDC, der links-republikanischen ERC und sozialen und kulturellen Organisationen.

Das Wahlprogramm dieser Plattform enthält den Plan, mittels des Aufbaus staatlicher Strukturen (Verfassung, Polizei, Sozialhilfe und Gesundheitssystem, Diplomatie, Bankensystem, Geheimdienst, etc.) innerhalb von 18 Monaten die Gründung eines eigenes unabhängigen Staates zu erreichen – nach Verhandlungen mit dem Zentralstaat. Dieser Plan spaltete die regierende Konvergenz und Union (CiU), die seit dem Ende der Franco-Diktatur fast durchgängig die Autonomieregion im Nordosten des Spanischen Staates regierte, in die bürgerliche CDC, die die Unabhängigkeit befürwortet, und die konservative Demokratische Union Kataloniens (UDC), die den Zentralstaat verteidigt.

Doch trotz der ausgelösten Regierungskrise hatte Mas’ Schachzug zwei gute Gründe: Auf der einen Seite wollte er sich den Wahlsieg sichern, da die Forderung nach Selbstbestimmung unter den katalanischen Massen sehr beliebt ist. Währenddessen wird gegen die Sozialpolitik von Mas, die aus Repression und Prekarisierung besteht, protestiert. Auf der anderen Seite bleibt Mas damit seiner Politik seit dem Ausbruch der demokratischen Massenbewegung 2012 treu: sich an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung zu stellen, um sie kontrollieren und wenn möglich abschwächen zu können. Dieser Plan ging auf: Mit 40 Prozent und 62 Abgeordneten lagen Mas und seine Koalition weit vor allen anderen Parteien und konnten sich als Schlachtpferd im Kampf für die Unabhängigkeit beweisen.

Mas verhinderte die Ausweitung der Mobilisierung und setzte zu jedem Zeitpunkt auf Verhandlungen mit der konservativen Regierung aus Madrid. Er will die Bewegung so lange hinhalten, bis einige Zugeständnisse ausreichen, um den „Prozess“ für beendet zu erklären. Gleichzeitig ist er der „beste Schüler“ der konservativen „Volkspartei“ PP und der Troika, wenn es um die Durchsetzung von Spardiktaten und Kürzungen geht.

Gegenoffensive

Für das spanische Regime ist die demokratische Massenbewegung, die am katalanischen Nationalfeiertag Demonstrationen mit bis zu 1,7 Millionen Teilnehmer*innen organisierte, ein riesiger Dorn im Auge. Denn gemeinsam mit der Infragestellung der Monarchie greift sie einen wichtigen Pfeiler des 1978 entstandenen zentralistischen Regimes an. Aktuell spüren die Herrschenden in Madrid keine Bedrohung durch die Möglichkeit eines echten Bruchs des Spanischen Staates, sondern positionieren sich vielmehr für die kommenden Verhandlungen. Trotzdem starteten sie vor den Wahlen erneut eine offensive Kampagne gegen den Unabhängigkeitsprozess, an dem sich die gesamte spanische Elite beteiligte.

Vom sozialdemokratischen Ex-Ministerpräsidenten Felipe González über die obersten Verfassungsrichter bis hin zum König Felipe hetzten alle vor den Wahlen am 27. September. Auch die katholische Kirche tritt für die Einheit Spaniens ein. Doch an vorderster Front steht die PP-Regierung und ihr Ministerpräsident Mariano Rajoy. Er trug die Kampagne sogar auf die internationale Ebene und holte sich die Unterstützung des US-Präsidenten Obama, des französischen Präsidenten Hollande, des britischen Premier Cameron, des EU-Kommissions-Präsidenten Juncker und der deutschen Bundeskanzlerin Merkel. Damit hat der reaktionäre spanische Nationalismus die Unterstützung der wichtigsten imperialistischen Staats- und Regierungschefs gewiss.

Dies macht sich Rajoy zu nutze, um eine Reihe neuer Gesetze zu erlassen, die ein direktes Eingreifen in die Autonomie Kataloniens ermöglichen. Dazu gehört das neue „Gesetz zur Sicherheit der Bürger“, das der Zentralregierung die Übernahme der Kontrolle über jede autonome Regierung „im Interesse der nationalen Sicherheit“ ermöglicht. Der spanische Verteidigungsminister drohte schon mit dem Einsatz des Artikels 155 aus der Verfassung, der bei schweren Verstößen gegen die geltende Rechtsordnung die Absetzung des katalanischen President und die Suspendierung des Regionalparlaments vorsieht.

Die Vertreter*innen dieser Politik kamen bei den Wahlen auf zusammengerechnet 40 Prozent. Zu ihnen zählt der katalanische Ableger der regierenden Volkspartei (PPC), die mit nur acht Prozent eine herbe Niederlage einfuhr. Auch die Sozialdemokratie (PSC) als Teil dieses Lagers musste Verluste hinnehmen und kam auf 13 Prozent. Der große Sieger der Wahlen aus dem Lager der Unabhängigkeits-Gegner*innen waren die ultra-konservativen und spanisch-nationalistischen Bürger (Ciudadanos), die mit 18 Prozent Dritter wurden.

Direkt nach den Wahlen zeigte die herrschende Klasse erneut ihre Muskeln: Das Oberste Justizgericht von Katalonien klagte Mas wegen Amtsmissbrauch beim Volksentscheid vom 9. November an, an dem sich mehr als zwei Millionen Katalanen beteiligten. Es ist allerdings nur eine Warnung an Mas, damit er die Bewegung auf die Verhandlungsebene bringen und dabei die Hoffnungen von Millionen ersticken kann. Sie verhindern, dass Mas einen unerwarteten Linksschwenk vornimmt oder jemand anderes die Kontrolle über den Prozess bekommt. Mas wiederum kann diese Frontalangriffe auf den „Prozess“ als Ausrede benutzen, warum nicht mehr herauszuholen ist. Tatsächlich macht diese Klage erneut deutlich, dass es eine Illusion ist, durch Verhandlungen das Selbstbestimmungsrecht zu erlangen.

Reformismus im Rückgang

Der große Verlierer war das reformistische Wahlbündnis „Katalonien, Ja wir können!“ (Catalunya sí que es pot), zusammengesetzt aus Podemos, der eurokommunistischen ICV-EUIA und den Grünen (Equo), das nur neun Prozent und elf Sitze zusammenbringen konnte. Bei den Wahlen vor drei Jahren konnte ICV-EUIA alleine 13 Sitze gewinnen. Sie wollten den Wahlerfolg des Bündnisses „Gemeinsam Barcelona“ (Barcelona en comú) aus Podemos, der Vereinten Linken (IU), Equo und zahlreichen Basisinitiativen wiederholen, dessen Vorsitzende Ada Colau in Barcelona zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Sie hatten bei ihrem Wahlkampf die nationale Frage vollkommen außen vor gelassen und soziale Forderungen in den Mittelpunkt gestellt.

Das Selbstbestimmungsrecht soll ihrer Meinung nach in einem verfassungsgebenden Prozess im ganzen Spanischen Staat diskutiert und von der nächsten Zentralregierung angestoßen werden. Diese Haltung setzt auf die Legitimität des Zentralstaates und bindet den „Prozess“ an dessen Gesetze. Pablo Iglesias, der Generalsekretär von Podemos, hat die Unabhängigkeit als eine „Idee der Oligarchie“ bezeichnet. In diesem Sinne rechtfertigte er die Niederlage auch durch den „Staatsgeist“ des Wahlbündnisses. Sein wirkliches Ziel ist es, Präsident einer neuen Regierung zu werden, die Katalonien als Teil des Spanischen Staates behält und sich damit als bester Garant des Regimes beweist.

Unterschiedliche Perspektiven

Die zweite Partei, die klar für das Selbstbestimmungsrecht Kataloniens eintritt, ist die antikapitalistische Kandidatur der Volkseinheit (CUP). Ihr Wahlprogramm besteht aus einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung und dem Ungehorsam gegenüber der spanischen Legalität, verbunden mit einem sozialen Notprogramm, das von der Nicht-Zahlung der Schulden ausgeht. Im Rathaus in Barcelona sind sie die einzige Kraft, die das regierende Wahlbündnis Barcelona en comú von links für ihre „freundliche“ Verwaltung der kapitalistischen Metropole kritisiert. Das erklärt das gute Abscheiden der CUP: Mit acht Prozent und zehn Abgeordneten konnten sie ihr Wahlergebnis von 2012 mehr als verdoppeln und sieben neue Sitze im Parlament erringen.

Gleichzeitig behält die CUP ihre strategische Konzeption der „Volkseinheit“, also der Einheit der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten mit Vertreter*innen der Großbourgeoisie und des Kleinbürgertums in der nationalen Frage bei. Das drückte sich in den letzten Jahren darin aus, dass sie die Führung der Unabhängigkeitsbewegung durch Artur Mas und die CDC nicht in Frage stellten und sich als linker Flügel des Unabhängigkeitsblocks präsentierten. Ihre Anführer*innen bestehen darauf, dass man einen Teil der Bourgeoisie benötigt, um den Abtrennungsprozess zu legitimieren.

Nach den Wahlen kommt ihnen eine entscheidende Rolle zu: Dem Bündnis Gemeinsam für das Ja fehlen zwei Stimmen, um Mas zum President zu wählen. Die CUP lehnt dies bisher ab und fordert eine „Regierung der Zusammenarbeit“ unter einem unabhängigen Präsidenten, also die „nationale Einheit“ unter Führung der Bourgeoisie auf Grundlage der einseitigen Unabhängigkeitserklärung und einem sozialen Notprogramm. Doch schon in den Tagen vor der Wahl ruderten sie im Inhalt dieser beiden Punkte zurück: Die neue Regierung könne mit dem Spanischen Staat verhandeln und ein soziales Notprogramm müsse nicht die Streichung aller Schulden beinhalten.

Mas und die Vertreter*innen der katalanischen Bourgeoisie haben die Bewegung in eine strategische Sackgasse gefahren. Nur durch die Kraft der mobilisierten Arbeiter*innen, Jugendlichen und aller Unterdrückten ließe sich die einseitige Unabhängigkeitserklärung und ein soziales Notprogramm durchsetzen. Wenn sich die CUP als alternativer Pol der Klassenunabhängigkeit präsentiert, kann den Prozess der sozialen Mobilisierung im Kampf für das tatsächliche Recht auf Selbstbestimmung mit einer antikapitalistischen Perspektive verbinden.

Mehr zum Thema