Nakba: 75 Jahre israelische Gewalt gegen Palästina

18.05.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Achmed/ Demonstrant:innen auf einer Demo gegen die Justizreform in Tel Aviv

Dieses Jahr jährte sich am 15. Mai die Staatsgründung Israels und damit die Nakba zum 75. Mal. Während die Gewalt gegen Palästinenser:innen und die Vertreibung fortdauert, werden in Berlin jegliche Gedenkversammlungen an die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung durch die Polizei verboten.

Die Nakba bezeichnet konkret die Ereignisse von 1947/48, in denen organisierte zionistische Milizen etwa 750.000 Palästinenser:innen vertrieben und 531 Dörfer und Städte ethnisch säuberten, um das zionistische Projekt eines jüdischen Staates auf dem Boden Palästinas zu verwirklichen.

Begonnen hat die Kolonisierung Palästinas mit der zionistischen Bewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. 1896 veröffentlichte der österreichische Journalist Theodor Herzl die Schrift „Der Judenstaat“. Das Buch wurde zur ideologischen Grundlage der zionistischen Idee. Beeinflusst vom britischen Kolonialismus und den europäischen Nationalbewegungen, beschreibt er das Bestreben nach einem jüdischen Nationalstaat. Auch wenn es schon vor Herzl jüdische Migration nach Palästina gab, prägte er den kleinbürgerlichen Klassencharakter und vereinheitlichte das Verständnis vom modernen Zionismus. Seiner Vorstellung nach war die sinnvollste Reaktion auf den Antisemitismus nicht der Kampf um allgemeine Emanzipation, sondern die Errichtung eines dezidiert ethnisch-jüdischen Staates um sich so, in seinem Verständnis, vor Antisemitismus zu schützen. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Europa war zu dieser Zeit nicht von seinen Ideen überzeugt. Sie kämpften entweder für die Gleichberechtigung in den jeweiligen bürgerlichen Heimatstaaten oder schlossen sich der kommunistischen Bewegung an, um Nationalstaaten an sich und die kapitalistische Klassengesellschaft, die maßgeblich für Rassismus und Antisemitismus verantwortlich sind, zu überwinden.Sie waren geprägt von einem marxistischen Antisemitismusverständnis, dass dieser kein über Gesellschafts- und Produktionsformen hinweg bestehendes, von außen kommendes Unheil war, sondern der rassistische Ausdruck von Klassengesellschaft. Anstatt einen Ethnostatt mit kapitalistischer Produktionsweise zu errichten, der notwendigerweise Ausbeutung und Unterdrückung beinhalten musste, wollten sie Ausbeutung und Unterdrückung insgesamt bekämpfen.Besonders hervorzuheben ist hierbei die Organisation „der Bund„, die sich dezidiert als antizionistisch verstand, genauso wie der sozialistische Revolutionär Leo Trotzki, der ebenfalls sein ganzes Leben gegen Antisemitismus gekämpft hat.

Nichtsdestotrotz schaffte es die zionistische Bewegung mit Unterstützung der europäischen Kolonialstaaten und der Etablierung des regelmäßig stattfindenden Zionistenkongresses seit dem ersten Treffen 1897 in Basel, ihre Thesen weiter zu verbreiten. Ein großer Schritt zur Verwirklichung des zionistischen Projektes war die Balfour-Deklaration. Arthur Balfour war ein britischer Adeliger und konservativer Politiker, der den Zionisten damit die Unterstützung Großbritanniens auf eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“ zusicherte. Protest gegen die Balfour-Deklaration im Parlament kam von Edwin Montagu, einem antizionistischen jüdischen Abgeordneten, der die rassistischen und antisemitischen Motive hinter der britischen Unterstützung erkannte:

„Ich gehe davon aus, dass es bedeutet, dass Mohammedaner [Muslime] und Christen den Juden Platz machen sollen und dass die Juden in alle bevorzugten Positionen gebracht und auf die gleiche Weise mit Palästina in besonderer Weise verbunden werden sollten, wie England mit den Engländern oder Frankreich mit den Franzosen, dass Türken und andere Mohammedaner in Palästina als Ausländer betrachtet werden, genauso wie Juden künftig in jedem Land außer Palästina als Ausländer behandelt werden. Vielleicht darf auch die Staatsbürgerschaft nur aufgrund einer Religionszugehörigkeit verliehen werden.“

Als sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs das britische Mandatsgebiet Palästina nicht mehr als Kolonie eignete, zogen sich die Briten zurück. Die britische Bourgeoisie war zu diesem Zeitpunkt gespalten, ein Teil von ihnen unterstützte die Errichtung eines jüdischen Staates, ein anderer Teil verbündete sich mit der arabischen Bourgeiosie. Von den westlichen Staaten trat insbesondere die USA als Unterstützung für das zionistische Projekt hervor. Ihre Bewaffnung der  jüdischen Milizen war zentral bei der Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina. Sie taten dies, um mit dem zionistischen Projekt einen “Flugzeugträger” für ihre Interessen im Nahen Osten zu installieren. Diese Funktion erfüllt der israelische Staat bis heute konsequent. In dieser Zeit spielte jedoch auch der Stalinismus eine sehr unrühmliche Rolle. Die Sowjetunion unter Stalin  rüstete über den Umweg Tschechoslowakei die zionistische Miliz Haganah aus und leistete so einen entscheidenden Beitrag für den vorläufigen Sieg des zionistischen Kolonialprojekts. Auch im Falle des Stalinismus war der Antrieb, geopolitische Vorteile für den sowjetischen Block herausschlagen in Konkurrenz mit dem Imperialismus. Mit proletarischem Imperialismus hat dies nichts zu tun. Dem entgegen stand die Position der vierten Internationale, die sich konsequent gegen die Besatzung Palästinas stellten.

Nachdem die Vereinten Nationen 1947 die Teilung Palästinas festgelegt und 52 Prozent des Territoriums an den Zionismus abgetreten hatten, verübten die zionistischen Milizen grausame Massaker. Sie löschten 500 palästinensische Dörfer von der Landkarte und zwangen etwa eine Million Menschen ins Exil. Eine Zahl, die sich im Laufe der Jahre auf mehr als sieben Millionen Geflüchtete ausweiten würde, denen nicht einmal das Recht auf Rückkehr in ihr Land gewährt wird.

Eines der größten Verbrechen der Nakba war das Massaker von Deir Yasin am 9. April 1948, bei dem über 100 palästinensische Zivilist:innen ermordet wurden. Der Rest der Dorfbevölkerung musste fliehen. Der ehemalige israelische Premierminister und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin, der das Massaker militärisch leitete, sagte später dazu: „Das Massaker von Deir Jassin hatte nicht nur seine Berechtigung – ohne den ,Sieg‘ von Deir Jassin hätte es auch niemals einen Staat Israel gegeben.“

Gegen das zionistische Kolonialprojekt und den daraus entstandenen israelischen Staat gab es immer wieder vielfältige Formen des palästinensischen Widerstands. Ganz besonders hervorzuheben ist hier die erste Intifada 1987. Angesichts des massiven Siedlungsdrangs der Zionisten, die Anzahl der Siedler:innen stieg von 1975 bis 1985 von 2.500 auf 60.000, gab es Aufstände insbesondere von jungen Palästinenser:innen, die sich bewaffnet mit Molotvcocktails und Steinen israelischen Soldaten in den Weg stellten. Inspiriert von ihrem heroischen Kampf steckten sie breite Teile der palästinensischen Massen an, unter der Führung der PLO und Yassir Arafats trat die palästinensische Bevölkerung in den Generalstreik und verteidigte sich auch weiter militärisch. Israel antwortete mit brutaler Repression, zum Beispiel der Anordnung des israelischen Verteidigungsministers Yitzak Rabin, Palästinenser:innen “alle Knochen zu brechen”, was die Armee an Gefangenen Palästinenser:innen auch gnadenlos durchführte.  Unerschrocken von dieser massiven Repression setzte sich der Aufstand jedoch fort. Letzten Endes sorgte ihre Führung jedoch für die Niederlage der ersten Intifada, indem sie den Kampf von den Straßen an den Verhandlungstisch lenkte, und im Rahmen des Oslo-Abkommens zentrale Forderungen wie das Rückkehrrecht der 7 Millionen in der Diaspora lebenden Palästinenser:innen aufgab. Dennoch bleibt die erste Intifada Inspiration für zukünftige Kämpfe, indem sie zeigt, wie ein aufständischer Massenstreik den Zionismus extrem in Bedrängnis bringen konnte und zukünftig auch in der Lage sein wird ihn zu besiegen. Entscheidend wird sein, dass er von der Arbeiter:innenklasse angeführt wird, anstatt einer ihr außerhalb stehenden kleinbürgerlichen Führung wie der exilierten PLO. So könnten sie auch israelische Arbeiter:innen anführen und mitreißen, die natürlich in einer vergleichsweise privilegierten Situation leben, aber dennoch ausgebeutet werden und ein Klasseninteresse an einer sozialistischen Produktion teilen.

Die Nakba dauert an

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die Nakba (arabisch für Katastrophe), also die Vertreibung, Ermordung und Entwurzelung der palästinensischen Bevölkerung von ihrem eigenen Land keineswegs vorbei ist. Es fühlt sich an wie eine Endlosschleife, die sich jedes Jahr wiederholt: Angriffe auf das Al-Aqsa Gelände und die Altstadt Jerusalems während Ramadan und Ostern, Massaker der israelischen Armee in der Westbank, die Vertreibung von Palästinenser:innen aus ihren Häusern, um illegale zionistische Siedlungen zu errichten und zuletzt die flächendeckende Bombardierung Gazas.

Heute hat Israel eine der  rechtesten Regierungen seit der Staatsgründung mit einem starken Einfluss faschistischer Kräfte. Die erneute Bombardierung Gazas kam auf Betreiben des rechtsextremen, kahanistischen Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir zustande, der Premierminister Netanyahu drohte die Regierung zu verlassen, wenn es keine Militäroperation in Gaza geben würde.

Es ist das zweite Mal in kurzer Zeit, dass der Sicherheitsminister sich durchsetzen konnte. Vor einigen Wochen hatte er mit Netanyahu ausgehandelt, dass er seine Privatarmee bekommt, die vor allem in der Westbank gegen die palästinensische Bevölkerung eingesetzt werden soll. Dafür wurde die Umsetzung der umstrittenen israelischen Justizreform, gegen die es massive Proteste gab, erst einmal aufgeschoben.

Die Justizreform hat in der israelischen Bevölkerung eine politische Massenbewegung ausgelöst. Seit Monaten gehen Hunderttausende, vor allem in Tel Aviv, auf die Straßen, um dagegen zu protestieren. Wer diese Demos besucht, wird sehen, dass sie aus einem Meer an israelischen Flaggen bestehen. Bis auf den Antiokkupations-Block spielen die Rechte der palästinensischen Bevölkerung gar keine Rolle. Vielmehr kämpft die linksliberale jüdische Bevölkerung, die Intellektuellen und die Wirtschaftselite um den Erhalt des Status quo. Israel ist jedoch weiterhin auf Unterstützung  zum Beispiel der USA angewiesen. Um die Strategie, die israelische Apartheid und den Siedlerkolonialismus als “einzige Demokratie im nahen Osten” zu verteidigen, kam es zu so absurden Momenten, wie der Teilnahme von McDonalds am Generalstreik. Regelmäßig kommt es auf den Demos zu Angriffen gegen Personen, die eine palästinensische Flagge tragen.

Dass die aktuelle politische Situation eine Folge des Zionismus und damit der Kolonialisierung und Unterdrückung der Palästinenser:innen ist, bleibt leider eine Minderheitenposition, weshalb man nicht zu viele Hoffnungen in die Anti-Regierungsdemos setzen sollte. Diese sind einzig darauf ausgerichtet, eine bestimmte Form bürgerlicher Herrschaft zu verteidigen, und tragen genau diesen Klassencharakter. An der brutalen Unterdrückung der Palästinenser:innen etwas zu ändern liegt nicht in ihrem Interesse.

Am sogenannten Unabhängigkeitstag Israels hat es die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich nicht nehmen lassen, eine Lobrede auf den zionistischen Staat zu halten. Das wohl absurdeste Zitat der Rede: „You literally made the desert bloom“. Damit wird ein uraltes koloniales Narrativ bedient. Die zivilisierte europäische und westliche Kolonisierung befreit die Region von den “Wilden” und etabliert eine funktionierende demokratische und wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft. Die EU ist sich im Klaren, dass Israel im Nahen Osten ihre klarste Interessenvertretung ist und verklärt deshalb weiter das dortige Apartheidsregime als „ganz normale Demokratie“.  Dem entgegen steht die Tatsache, dass mittlerweile sogar liberale Menschenrechtsorganisationen Israel richtigerweise als Apartheidstaat benennen.

Aber auch „linke“ Politiker:innen hierzulande, wie Dietmar Bartsch (DIE LINKE) zeigen ihre bedingungslose Solidarität gegenüber dem israelischen Staat. So tweetete er am Unabhängigkeitstag: „75 Jahre Unabhängigkeit Israel: Herzlichen Glückwunsch & alles Gute für die Zukunft! Israel ist seit seiner Gründung ein bedrohter Staat, seine Bürger müssen ihre Sicherheit, Rechtsstaat & Demokratie zu jeder Zeit verteidigen können. Dafür unsere uneingeschränkte Solidarität! David Ben-Gurion und die anderen Gründungsväter des jüdischen Staates haben 1948 ein robustes Fundament geschaffen, das auch und gerade 2023 keinerlei politischem Opportunismus und schon gar nicht dem eigenen persönlichen Vorteil Einzelner geopfert werden darf. #YomHaatzmaut

Das zeigt ein weiteres Mal den Opportunismus und die tiefe Verankerung der Partei DIE LINKE  in den bürgerlichen, kapitalistischen und imperialistischen deutschen Staat.

Letztes Jahr hatte die rot-grün-rote Regierung Berlins alle Demonstrationen zum Gedenken an die Nakba verboten. Die Prozesse, gegen diejenigen, die es sich trotz allem nicht nehmen lassen haben, ihren Protest auf die Straße zu bringen, laufen im Moment. Und auch dieses Jahr wurden die Nakba Demonstrationen und jede Form des öffentlichen Gedenkens ein weiteres Mal verboten. Begründet wird dies mit vermeintlichen Antisemitismusvorwürfen. Diese sind nicht nur haltlos, sondern auch gefährlich, weil sie den palästinensischen Widerstand direkt mit Antisemitismus gleichsetzen und so auch echten Antisemitismus verharmlosen bzw. dem Begriff seiner kompletten Bedeutung rauben.

Der Kampf gegen die Nakba, den Zionismus und die Kolonisierung Palästinas ist ein zentrales Anliegen internationalistischer Sozialist:innen. In Deutschland bedeutet dies, sich gegen die Repressionen palästinasolidarischer Demonstrationen zu stellen und sich für ein uneingeschränktes Recht auf Versammlungsfreiheit, genauso wie gleiche Staatsbürger:innenrechte für alle einzusetzen, damit Palästinenser:innen aufgrund ihres fehlenden Passes nicht weiter Unterdrückung erfahren. Außerdem müssen sämtliche Waffenlieferungen an das zionistische Kolonialprojekt beendet werden, genauso wie sämtliche Kooperationen über Rüstungsforschung.

Die einzige wahre und mögliche Lösung, die ein friedliches und geschwisterliches Zusammenleben von Palästinenser*innen und Juden und Jüdinnen ermöglicht, besteht darin, den zionistischen und proimperialistischen Staat Israels auf der Grundlage eines gemeinsamen Kampfes bis auf die Grundmauern zu zerstören. Dieser Kampf ist untrennbar mit dem Kampf für das Ende der imperialistischen Herrschaft über die Region verbunden. Als Schritt auf dem Weg zu einer Föderation Sozialistischer Republiken des Nahen Ostens, vertreten wir als revolutionäre Marxist:innen die Perspektive eines sozialistischen, laizistischen und multiethnischen Palästina auf dem gesamten historischen Gebiet Palästinas. Dies bedeutet auch ein uneingeschränktes Rückkehrrecht für alle vertriebenen Palästinenser:innen.

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