Nach Macrons Äußerungen in Taiwan: Scholz bekräftigt seine Pläne für Europa

17.05.2023, Lesezeit 10 Min.
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Bild: Alexandros Michailidis / shutterstock.com

Am 9. Mai sprach Olaf Scholz vor den anwesenden Europaabgeordneten in Straßburg. Als deutscher Bundeskanzler präsentierte er die Vision des deutschen Imperialismus für die Europäische Union: ein Gleichgewicht zwischen der Ausrichtung hinter den USA und der Verteidigung der eigenen strategischen Interessen.

Am Dienstag, dem 9. Mai, stellte sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz einer für sein Amt ungewöhnlichen Übung. In Straßburg legte er vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments seine geostrategische Vision der Union in einer Zeit der Konfrontation zwischen China und den USA dar.

Scholz bekräftigte dort insbesondere seinen Willen, die Europäische Union auf die Länder des westlichen Balkans und die Ukraine, Georgien und Moldawien auszudehnen, um „den Frieden in Europa nach der Zäsur, die die russische Invasion in der Ukraine markiert, zu sichern“. Olaf Scholz verteidigte die Notwendigkeit, die europäischen Institutionen zu reformieren, und bekräftigte seinen Entschluss, die Einstimmigkeitsregel aufzugeben und zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen, speziell in der Außen- und Steuerpolitik. Eine solche politische Ausrichtung hätte vorrangig zur Folge, dass Paris und Berlin einen größeren Einfluss auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union erlangen würden. Dies würde sich insbesondere auf die Außenpolitik und die mögliche Einschränkung des Vetorechts von Staaten wie Polen und Rumänien auswirken, die als feindseliger gegenüber Russland eingestuft werden.

Der Bundeskanzler nutzte die Gelegenheit, um die endgültige Annahme des Migrations- und Asylpaktes zu verteidigen. Diese Gelegenheit ermöglichte es dem deutschen Imperialismus, sich in seinen Beziehungen zu anderen europäischen Ländern zu positionieren und sich als führende Kraft darzustellen. Gleichzeitig steckt Frankreich in einer tiefgreifenden Regimekrise aufgrund der aktuellen Phase des Klassenkampfes und dem Scheitern von Emmanuel Macrons Tournee sowie seinem Vorschlag einer strategischen Autonomie für die Europäische Union.

Tatsächlich hat der Krieg die internen Spannungen innerhalb der Europäischen Union offengelegt, wofür die jüngste Krise auf dem Getreidemarkt ein Beispiel ist. Die EU hatte beschlossen, vorübergehend Zölle auf Kiews Agrarexporte zu erlassen und ihre Märkte für diese zu öffnen.  Allerdings verboten mehrere osteuropäische Mitgliedstaaten die Einfuhr ukrainischer Agrarprodukte, nachdem es zu massiven Protesten von Landwirten kam, insbesondere in Polen und Rumänien. Diese Landwirte beschwerten sich darüber, dass ukrainisches Getreide und Produkte, die eigentlich nur durch ihre Länder transportiert werden sollten, gelagert und dann auf dem heimischen Markt verkauft wurden.

Diese Krise verdeutlicht lediglich eine von vielen Spannungen, die seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine innerhalb der Europäischen Union zu Diskussionen geführt haben. Jedes Mal besteht die Gefahr, dass diese Spannungen die „europäische Einheit“ in Bezug auf Russland unterminieren. Angesichts dieser Situation war die Rede von Olaf Scholz am Dienstag mit großer Anspannung erwartet worden, insbesondere in Anbetracht seiner früheren Äußerungen an der Universität Prag im August letzten Jahres.

Die Vereinigten Staaten, „Europas wichtigster Verbündeter“

Obwohl Deutschland und Frankreich versuchen, nach den Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine durch verschiedene Austauschprogramme, wie den Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock am 9. und 10. Mai in Paris und Macrons geplanter Reise nach Potsdam am 6. Juni, eine gemeinsame Basis zu finden, wird deutlich, dass die divergierenden Interessen und Pläne bezüglich der Zukunft der Europäischen Union zwischen den beiden imperialistischen Mächten noch lange nicht gelöst sind. Olaf Scholz‘ Rede verdeutlicht diese Situation.

Ohne Frankreich in seiner gesamten Rede auch nur ein einziges Mal zu erwähnen, schickte Olaf Scholz in der Tat eine klare Antwort auf Emmanuel Macron und seine Äußerungen in China. Dieser hatte Europa dazu aufgerufen, den USA nicht „zu folgen“, sich zu weigern, „in eine Block-zu-Block-Logik einzutreten“ und einen „dritten Pol“ gegenüber den USA und China zu bilden. Diese Erklärungen brachten die in mehreren europäischen Ländern bestehenden Bedenken hinsichtlich ihrer Beziehung zu den USA und China zum Ausdruck, ähnlich wie die Besuche von Olaf Scholz, Pedro Sánchez, Charles Michel und Ursula von der Leyen in China. In der Tat haben diese verschiedenen Reisen die Grade der Anpassung zum Ausdruck gebracht, die die Europäer bereit sind, mit der US-Politik vorzunehmen: Abkopplung oder „Risikominderung“? Anpassung an die Position der USA oder Vorstoß in Richtung einer größeren Autonomie, insbesondere in der Taiwan-Frage, wie Macron sie zu vertreten schien? Eines ist sicher: Die Frage der europäischen Interessen und speziell des deutschen Imperialismus in China, der eine völlige Entfremdung seiner Interessen, von denen der USA vermeiden möchte, bleibt der Hauptstreitpunkt zwischen den westlichen Mächten.

Tatsächlich sind die Interessen der Europäer nicht genau dieselben wie die der USA. Der Druck der USA, ihre Beziehungen zu Russland und China abzubrechen, hat in Europa interne Debatten darüber ausgelöst, wie viel Autonomie es bei der Verteidigung seiner Interessen haben sollte. Einige EU-Mächte, vornehmlich Deutschland, sind auf die militärische Unterstützung der USA angewiesen.

Die Entscheidung Deutschlands, einen Tag nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine einen Finanzierungsplan in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Weg zu bringen, verdeutlichte trotz deutlicher Widersprüche die Tatsache, dass Europa einen historischen Wendepunkt erreicht hatte.

Die Ankündigung Deutschlands, Waffen von den USA zu bestellen und ein Projekt für einen „europäischen Raketenabwehrschild“ anzukündigen, löste eine Schockwelle in den Beziehungen zwischen den führenden europäischen Staaten aus. Das Projekt umfasst 15 europäische NATO-Mitglieder, schließt jedoch EU-Mächte wie Italien, Frankreich und Spanien aus. Es beinhaltet den Kauf von Militärgütern von den USA und Israel. Damit sieht Frankreich seine Befürchtung wahr werden, in einer von Deutschland dominierten und hinter den USA stehenden Europäischen Union „satellisiert“ zu werden.

In diesem Zusammenhang gab Olaf Scholz eine klare Antwort an Emmanuel Macron: „Die Vereinigten Staaten bleiben der wichtigste Verbündete Europas.“ Damit beabsichtigte der deutsche Bundeskanzler, die Begeisterung des französischen Präsidenten abzudämpfen und ihm zu verdeutlichen, dass die Schaffung eines „dritten Pols“, der von den USA unabhängig ist, nicht zur Debatte steht. Der deutsche Bundeskanzler nutzte die Gelegenheit, um erneut sein Projekt eines „europäischen Raketenabwehrschildes“ in Partnerschaft mit den USA zu unterstützen. Er betonte: „Das bedeutet, dass wir für unsere transatlantischen Freunde bessere Verbündete sein werden, je mehr wir in unsere Sicherheit und Verteidigung, in unsere zivile Widerstandsfähigkeit, in unsere technologische Souveränität, in die Versorgungssicherheit und in unsere Unabhängigkeit von kritischen Rohstoffen investieren.“

Für eine „multipolare“ Welt

Dennoch trat Scholz in seiner Rede für eine „multipolare Welt“ ein, in der die Europäische Union den USA nicht völlig untergeordnet ist. Zum Thema China sagte der deutsche Bundeskanzler beispielsweise: „Unsere Beziehung zu China wird treffend durch das Triptychon ‚Partner, Konkurrent, Systemrivale‘ beschrieben, auch wenn Rivalität und Wettbewerb zweifellos zugenommen haben. Die Union sieht dies und reagiert darauf: „Ich stimme Ursula von der Leyen zu: Unser Motto ist nicht de-coupling, sondern intelligent de-risking!“. Auf diese Weise lehnt es Deutschland ab, dem Druck der USA auf ein vollständiges „Entkoppeln“ der Beziehungen zu China nachzugeben. Dies steht im Einklang mit dem Besuch von Olaf Scholz in China, der darauf abzielte, die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem asiatischen Riesen aufrechtzuerhalten.

Für den deutschen Bundeskanzler ist es also nicht an der Zeit, sich völlig an einem Pol auszurichten, sondern die Bündnisse und Abkommen zu diversifizieren. „Europa muss sich der Welt zuwenden. Wenn wir das nicht tun, werden andere die Handels- und Umweltstandards diktieren“, sagte er und bekräftigte seine Bereitschaft, neue Handelsabkommen mit Mexiko, Indien, Indonesien, Australien, Kenia und dem Mercosur zu schließen. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung „präsentierte Scholz den EU-Abgeordneten eine Weltsicht, die der klassischen Positionierung der Bundesrepublik treu bleibt, die auf (wirtschaftliche) Zusammenarbeit und amerikanische Sicherheitsgarantien setzt.“

Für Deutschland geht es in der Tat darum, einen Kompromiss zwischen den europäischen Interessen und einem gewissen Grad an Autonomie und einer klaren Abhängigkeit von den USA zu finden, sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht. Der deutsche Kanzler weigert sich zwar, sich im Stil von Emmanuel Macron von den USA zu distanzieren, und erinnert an seine Verbundenheit mit der atlantischen Politik, versucht aber dennoch, den Bedenken hinsichtlich einer zu starken Abhängigkeit von den USA entgegenzuwirken. Vor allem aber sieht er sich mit Widersprüchen insbesondere innerhalb des Landes und innerhalb der deutschen Bourgeoisie selbst konfrontiert, während verschiedene Sektoren des deutschen Industriekapitals tiefer mit dem südostasiatischen Markt verbunden sind und andere viel offener atlantisch eingestellt sind.

Die Führungsrolle in der Europäischen Union zurückgewinnen

Deutschland wurde vom Krieg in der Ukraine hart getroffen, nachdem Russland Europa von einem zentralen Teil seiner Gasversorgung abgeschnitten hatte. Vor diesem Hintergrund neigte Deutschland dazu, seine nationale Industrie und Innenpolitik schützen zu wollen, selbst wenn dies im Widerspruch zur gemeinsamen europäischen Politik stand. Frankreich und die anderen südeuropäischen Länder wollten eine Deckelung der Gasimportpreise und gemeinsame Importmechanismen der verschiedenen europäischen Staaten einführen, um zu verhindern, dass die Energiepreise im Winter noch weiter explodieren. Deutschland blockierte diese Notmaßnahmen wochenlang, weil es befürchtete, dass sie eine Verknappung des Angebots gegenüber der EU zur Folge haben würden. Darüber hinaus stimmte Deutschland für einen 200 Milliarden Euro schweren Energieschild, ohne die europäischen Partner zu konsultieren.

All diese Entscheidungen, mit denen Olaf Scholz einen Alleingang wagte, haben bei einigen der europäischen Partner Deutschlands Irritationen ausgelöst. Vor diesem Hintergrund zielte Scholz Rede auch darauf ab, seine Partner zu beruhigen, indem er eine Ausrichtung auf „Zusammenhalt“ und die Ausweitung von Handelsabkommen nach außen vorschlug. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint jedoch, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde: „Mit einer starken, zukunftsorientierten Rede hätte Scholz die Irritationen vergessen machen können, die sein anfängliches Zögern in Bezug auf [die Waffenlieferungen in die] Ukraine und der Zirkus um das Verbot von Autos mit Verbrennungsmotor auf EU-Ebene hervorgerufen hatten […]. Ist dies wirklich das beste Rezept für die Zukunft Europas? Das kann man zu Recht bezweifeln“.

Es ist offensichtlich, dass diese Rede deutlich die Widersprüche innerhalb der Europäischen Union und generell des westlichen Lagers aufzeigt. Während der Krieg in der Ukraine den Westen, unter der Führung der USA, hauptsächlich gegen Russland vereint hat (trotz der bereits erwähnten Widersprüche), gibt es klare strategische Auseinandersetzungen in Bezug auf die Politik der Europäischen Union gegenüber China. Die deutsche Position könnte einerseits den französischen Vorschlag einer strategischen Autonomie ins Lächerliche ziehen, der von vielen französischen Verbündeten abgelehnt wird und für ein Land wie Frankreich eher wie ein aberwitziges Projekt erscheint. Andererseits könnte sie jedoch auch potenzielle Widersprüche in den strategischen Interessen zwischen Deutschland und den USA verkörpern.

Wie Juan Chingo in unseren Kolumnen erinnerte: „Es ist klar, dass China das wichtigste und schwierigste Thema in den transatlantischen Beziehungen ist. Die USA, Deutschlands wichtigster militärischer Verbündeter und – noch immer – die Hauptheimat der deutschen Industrie im Ausland, intensivieren ihren Machtkampf gegen China massiv und verlangen von ihren Verbündeten bedingungslose Loyalität. So hat die Biden-Administration beispielsweise gerade ein allgemeines Halbleiterembargo gegen China verhängt, um das Land um die fortschrittlichsten Zweige seiner Hightech-Industrie zu bringen und es tiefgreifend zu schwächen (künstliche Intelligenz (KI), Supercomputer, Hochleistungschips). Die Folgen dieser Politik auf beiden Seiten des Atlantiks sind jedoch sehr unterschiedlich. Für die USA bringt der Rückzug Chinas Probleme in der Lieferkette mit sich, geht aber mit dem grundsätzlichen protektionistischen Bestreben einher, ein großes Handelsdefizit zu korrigieren. Für Deutschland hingegen ist China ein lebenswichtiger Markt für viele deutsche Industrieexporteure.“

Dieser Artikel erschien erstmals bei Révolution Permanente.

 

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