Nach Alleingang Macrons öffnet sich in Frankreich eine enorme politische Krise

17.03.2023, Lesezeit 5 Min.
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Foto: Steven L.J. Reich / Shutterstock.com

Am Donnerstag sah sich die Regierung unter dem Druck der Massenbewegung gezwungen, ihre Rentenreform mit dem Verfassungsartikel 49.3 durchzusetzen. Es stellt eine antidemokratische Offensive von Präsident Emmanuel Macron und Regierungschefin Élisabeth Borne da, womit sich eine tiefe politische Krise öffnet.

Weniger als ein Jahr nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten und nach sechs Monaten der Verhandlungen und Kompromissen mit den Republikanern gelingt es Emmanuel Macron nicht einmal, eine Mehrheit in der Nationalversammlung zu finden, um die „Mutter aller seiner Reformen“ zu verabschieden. Während die Regierung versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, zeigt sich, wie schwach die soziale Basis von Macron ist. Er schafft es nicht die Bevölkerung zu überzeugen, die seine Reform mit großer Mehrheit ablehnt. Selbst im Parlament ist er in der Minderheit.

Auf diese Demonstration der Schwäche reagierten Menschen in ganz Frankreich am Donnerstag mit spontanen Mobilisierungen. In Paris hatte die fakultäts- und universitätsübergreifende Koordinierung Inter-Facs aufgerufen ab 14 Uhr vom Place de la Sorbonne zur Concorde zu laufen, wo sich bereits zahlreiche Protestierende versammelt hatten. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzte. Nach ihren Angaben verhaftete sie 217 Personen. In Marseille versammelten sich die Demonstrant:innen vor der Präfektur, bevor sie zu einer unangemeldeten Demonstration aufbrachen. Auch in Grenoble, Lyon, Straßburg, Lorient, Clermont-Ferrand und in vielen anderen Städten nahmen Tausende an nicht genehmigten Aktionen teil.

Diese Versammlungen, zu denen Gewerkschaften und politische Organisationen aufgerufen hatten – oder auch nicht –, waren sehr spontan und radikal und zeigten den Willen, die Mobilisierungen fortzusetzen. „Wir müssen auf den Ruf der Geschichte antworten. Heute Abend hier zu sein, ist nur der Anfang von dem, was passieren kann. Wir können noch härter werden. Pazifistisch zu streiken ist nicht mehr tragbar“, erklärte Jordan Robichon von der CGT Energie auf der Place de la Concorde. Diese Stimmung wurde von den Demonstrant:innen weitgehend geteilt, nachdem die Mobilisierung zwei Monate lang von den Führungen der Gewerkschaften streng reguliert wurde.

Die Antwort der Gewerkschaftsspitzen auf die krisenhafte Situation und die spontanen Aktionen hätte kaum zurückhaltender ausfallen können. Am Abend schlugen die Gewerkschaftsführungen als einzige Perspektive nur einen nächsten landesweiten Streik- und Mobilisierungstag am 23. März vor. Am Donnerstag entlud sich überall in Frankreich die Wut und am Montag sollen Misstrauensanträge behandelt werden, bei denen theoretisch die Regierung gestürzt werden könnte. Doch der Gewerkschaftsverband entschied sich absichtlich dafür, weder am Samstag noch am Montag zur Mobilisierung aufzurufen, um eine Radikalisierung der Proteste zu verhindern.

Die Gewerkschaftsführungen zeigen damit eine „verantwortungsvolle“ Haltung. Sie weigern sich weiterhin, den Kampf um die Renten zu „politisieren“. Ebenso verzichten sie darauf, ein starkes Kräfteverhältnis durch Streiks auf der Straße aufzubauen. Genau das Gegenteil ist es, was wir angesichts einer geschwächten Regierung brauchen. Wir müssen die Wut und die Stärke unserer Klasse weiterhin zum Ausdruck bringen, um die sofortige Rücknahme der Reform, den Abgang von Élisabeth Borne, aber auch den Rücktritt Macrons zu fordern, wie es früher schon die Gelbwesten und gestern viele Demonstrant:innen sangen. Die Schwäche der Regierung ist eine Chance, in die Offensive zu gehen, vorausgesetzt, wir schlagen Perspektiven vor, um ein günstiges Kräfteverhältnis aufzubauen, indem wir uns auf die Sektoren im verlängerbaren Streik stützen, die weiterhin einen Teil der Wirtschaft blockieren: von der Müllabfuhr über die Raffinerien bis hin zu den Energieversorgern und den Eisenbahnen.

Es ist nicht möglich, bis zum nächsten Donnerstag zu warten, um den Kampf fortzusetzen: Die kämpferischen gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die entschlossen sind, die Regierung zurückzudrängen, die Generalversammlungen und branchenübergreifenden Versammlungen und die Netzwerke der Streikenden müssen die Rahmen für Selbstorganisation und Koordination stärken und zu Aktionen ab diesem Freitag und in den kommenden Tagen aufrufen. Macron ist in großen Schwierigkeiten: Man muss den Vorteil nutzen, damit die Reform zurückgezogen wird, aber auch damit beginnen, endlich die Frage zu stellen, wie man viel mehr herausholen kann.

Seit Beginn der Bewegung sind die Bestrebungen an der Basis vielfältig: bei den Renten, den Löhnen, den Arbeitsbedingungen, den öffentlichen Diensten usw. Es sind all diese Herausforderungen, die wir stellen müssen, indem wir die Forderungen der Bewegung ausweiten. Am Ende eines Tages mit einer erneuten Anwendung des 49.3-Artikels, müssen wir auch die Frage stellen, ob wir mit der Figur des Präsidenten, dem Senat und dem gesamten antidemokratischen Regime der Fünften Republik Schluss machen sollen. In Anlehnung an unsere revolutionäre Geschichte, den Konvent von 1793 oder, noch radikaler, die Pariser Kommune, sollten diese verrottenden Institutionen durch eine einzige Kammer ersetzt werden, in der die legislative und exekutive Macht konzentriert ist und deren gewählte Vertreter:innen nach dem Medianlohn entlohnt werden und abwählbar sind.

Wie die Demonstrationen der letzten zwei Monate gezeigt haben, hat die Massenbewegung die Kraft, dies durchzusetzen, wenn sie eine Strategie entwickelt, die mit der bisherigen radikal bricht.

 

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