Mitten im schwarzen Fleck

02.05.2012, Lesezeit 6 Min.
1

Während der Fertigstellung dieser Ausgabe kam die Meldung, dass der Ministerpräsident der Niederlande, Mark Rutte, zurücktreten musste, weil er ein Sparpaket nicht in seiner Regierungskoalition durchsetzen konnte. Am Tag zuvor war bereits die Regierungskoalition in Tschechien geplatzt – eigentlich wegen anhaltender Korruptionsaffären, doch nicht zufällig direkt nach einer massiven Demonstration gegen Sozialkürzungen. Wiederum am Tag davor verlor Nicolas Sarkozy die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen. Das sich abzeichnende Ende der Ära Sarkozy ging mit einem historischen Sieg der Front National einher, die sich in der Krise als „Anti-Establishment“-Partei profilieren konnte.

Seit Beginn der Krise sind acht nationale Regierungen der Euro-Zone gescheitert. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ spricht bereits von einer Legitimitätskrise der Regierungen in ganz Europa.

Doch während Generalstreiks und Massenproteste Regierungen in anderen Ländern zu Fall bringen, herrscht in Deutschland eine unheimliche Ruhe – wie ein schwarzer Fleck auf einer Landkarte, die zunehmend rötlich aussieht.

Aber diese Ruhe ist trügerisch.

Das aktuelle Wirtschaftswachstum in Deutschland ist sehr stark von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängig. Die sich vertiefende Wirtschaftskrise in verschiedenen Ländern der Europäischen Union (aktuell besonders in Spanien) wird früher oder später auch in Deutschland eintreffen. Denn der deutsche Imperialismus nutzt die Krise, um den Ländern der europäischen Peripherie sein Diktat aufzuzwingen und somit seine Hegemonie in Europa zu verstärken. Die sozialen Angriffe auf die ArbeiterInnen und Jugendlichen werden quasi „exportiert“ und erstmal nicht in Deutschland durchgeführt. Das bildet die Grundlage für die relative Ruhe dieser Tage.

Aber das Programm der Angriffe durch die deutsche Bourgeoisie wird, wenn es in Griechenland, im Spanischen Staat, in Italien und anderen Ländern voll durchgesetzt werden kann, mit voller Wucht auch gegen die ArbeiterInnen und Jugendlichen hierzulande angewendet werden. Ein Erfolg der herrschenden Klasse Deutschlands bedeutet also keine Verbesserungen für die Arbeitenden hier (in Form von Gewinnbeteiligungen oder ähnlichem) sondern nur eine kurzzeitige Verschiebung der Angriffe. Jetzt schon fordern UnternehmerInnen einen härteren Sparkurs von der Regierung.

Deswegen brauchen wir eine klare und praktische Solidarität mit den Kämpfen in anderen Ländern Europas. Besonders vom europäischen Aktionstag am 19. Mai in Frankfurt muss ein starkes Signal des Widerstandes gegen die Pläne der deutschen Regierung ausgehen.

Währenddessen gibt es auch in Deutschland Anzeichen einer Legitimitätskrise: Es wächst die Unzufriedenheit mit den Institutionen, die den deutschen Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg verwalten. Diese Unzufriedenheit findet bislang nur verzerrten politischen Ausdruck – etwa durch die Occupy-Bewegung mit ihrer Losung „Wir sind die 99%!“ oder die Piratenpartei mit ihrer Vorstellung, dass der Kapitalismus demokratischer und transparenter gemacht werden könnte.

Manche Streiks zeigen auch Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen in der Arbeitswelt – etwa der 13-wöchige Streik bei der Charité Facility Management (CFM) in Berlin oder der Streik der VorfeldarbeiterInnen am Frankfurter Flughafen. Doch die Warnstreiks im Öffentlichen Dienst, die die Gewerkschaftsbürokratie mit einem schlechten Ergebnis beenden konnte, zeigen gleichzeitig dass die massiven Apparate noch immer stark sind, wenn es darum geht, Kämpfe zu deckeln – auch wenn sie allmählich ihre Basis verlieren.

In diesem Moment besteht die dringende Aufgabe darin, Solidarität zu organisieren: zwischen verschiedenen Kämpfen in Deutschland und vor allem international. Diese Solidarität muss gerade in die ArbeiterInnenbewegung hineingetragen werden – auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie mit ihrem starken Standortpatriotismus kein Interesse daran hat, gemeinsame Kämpfe mit unseren Klassengeschwistern in Griechenland zu organisieren. Aber internationale Solidarität liefert gerade eine Grundlage für einen antibürokratischen Kampf in den Gewerkschaften.

Gleichzeitig müssen wir die wichtigsten Lehren aus der 200-jährigen Geschichte der ArbeiterInnenbewegung wieder aufgreifen, um uns für kommende, harte Auseinandersetzungen zu wappnen. Die wichtigsten dieser Lehren sind im Programm der Vierten Internationale aufgehoben, welches wir im Klassenkampf zu einer lebendigen und schlagkräftigen Bewegung wiederaufzubauen versuchen.

Durch die Occupy-Bewegung ging eine Stimmung gegen das reichste 1% der Bevölkerung rund um die Welt. Diese Stimmung führt leicht zur Schlussfolgerung, dass die 99% sich verbinden müssen. Doch wer sind diese 99% und was könnten ihre gemeinsamen Interessen sein? Leo Trotzki schrieb bereits 1931 zur Losung der „Volksrevolution“:

„Natürlich werden 95, wenn nicht 98 Prozent der Bevölkerung vom Finanzkapital ausgebeutet. Aber diese Ausbeutung ist hierarchisch organisiert: es gibt Ausbeuter, Nebenausbeuter, Hilfsausbeuter usw. Nur dank dieser Hierarchie herrschen die Oberausbeuter über die Mehrheit der Bevölkerung. Damit sich die Nation tatsächlich um einen neuen Klassenkern reorganisieren kann, muß sie ideologisch reorganisiert werden, und das ist nur möglich, wenn sich das Proletariat selbst nicht im ‘Volk‘ oder in der ‘Nation‘ auflöst sondern im Gegenteil ein Programm seiner proletarischen Revolution entwickelt und das Kleinbürgertum zwingt, zwischen zwei Regimen zu wählen.“[1]

Der Sturz des 1% geht also nicht durch eine Sammlung der 99% um ein diffuses Programm der Demokratie (egal, ob es sich „echte“ oder „direkte“ Demokratie nennt). Nur die ArbeiterInnenklasse hat das soziale Gewicht, den Kapitalismus zu überwinden, indem sie die Produktionsmittel den KapitalistInnen entreißt; nur die ArbeiterInnenklasse hat die politische Macht, alle unterdrückten Sektoren gegen die 1%, ihre HelferInnen und ihre HelfershelferInnen zu vereinigen. Aus diesem Grund ist eine Perspektive, die auf die Gewinnung der ArbeiterInnenklasse für ein revolutionäres Programm ausgerichtet ist, keine Spaltung der Protestbewegung, sondern im Gegenteil eine Voraussetzung, um auch andere Unterdrückte mit einer klaren Perspektiven zusammenzubringen. Wir denken, dass der Kampf für eine klare revolutionäre Strategie der wichtigste Beitrag in diese Richtung in der jetzigen – noch viel zu ruhigen – Zeit ist.

Fußnote
[1]. Leo Trotzki: Thälmann und die „Volksrevolution“.

Mehr zum Thema