Warum mein Erzeuger nicht mein Vater ist

11.05.2020, Lesezeit 4 Min.
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"Mitglied einer 'Patchwork-Familie' zu sein ist sowas wie ein Trostpreis"

Ich mag den Begriff „Patchwork-Familie“ nicht. Patchwork, also „Flickwerk“, impliziert, dass die Familie irgendwann mal „ganz“ war (was auch immer das heißen soll), sie dann auseinanderging und mit Flicken wieder repariert werden musste. Das ist Quark.

Meine frühste Erinnerung ist, wie ich im Alter von wirklich sehr wenigen Jahren heimlich von den Treppenstufen aus dabei zusehe, wie mein Erzeuger meine Mutter in der Küche verprügelt. Erzeuger aus dem Grunde, weil dieser Mensch nie eine Rolle in meinem Leben einnahm, die man irgendwie als Vaterrolle wiedererkennen würde. Ich glaube gar nicht, dass Kinder irgendwie eine Vaterfigur bräuchten, aber wenn es sowas wie eine Vaterrolle gibt, ist sie nicht an den Zeugungsprozess, Erbgut oder irgendwas Anderes dieser Art geknüpft.

Meinen Vater lernte ich erst später kennen und ich kann das Wort „Vater“ bis heute nicht richtig definieren. Was ist ein Vater? Nicht zwangsläufig einer der Menschen, die mich zeugten. Noch weniger der neue Mann meiner Mutter, denn sonst wäre nun ein anderer Mann wieder mein Vater. Wir können auch nicht sagen, dass wir uns immer verstanden. Paps und ich hatten oft Krach, aber nie kam es klischeehaft dazu, dass irgendjemand sowas sagte wie „Du bist nicht mein echter Vater/Sohn“ o.ä.. Das stand auch nie infrage, ich wusste immer, dass mein Vater mein Vater ist. Und ich denke, das ist der Punkt. Ich war ein Kind mit vielen Störungen. Soziale Phobie, Depression, schlechter Musikgeschmack. Mein Vater ist eine Frohnatur, ein Stehaufmännchen und liebt es, unter Leuten zu sein. Wir waren in fast jeder Hinsicht grundverschieden, aber ich hab nie daran gezweifelt, dass dieser Mann mein Vater ist.

Meine Eltern trennten sich, ich und meine Geschwister gingen mit meiner Mutter, und auch im folgenden Rechtsstreit war ich auf Seiten meiner Mutter. Es vergingen Jahre ohne wirklichen Kontakt zu meinem Vater, obwohl es die Zeit war, in der er mich am meisten gebraucht hätte.

Streitigkeiten mit dem neuen Freund meiner Mutter führten irgendwann dazu, dass, als ich „nachhause“ kam, der Schlüssel nicht mehr passte. Wohin? Unter der Woche lebte ich in einem Berliner Internat, aber jedes zweite Wochenende schloss es, und wir gingen nach Hause. Nach Jahren rief ich also meinen Vater an, sagte „Hey, Mutter hat mich rausgeworfen“ und er sagte mir ohne großes Nachdenken, dass ich mich auf den Weg machen solle, er käme mir mit dem Auto entgegen.

Er hätte das nicht tun müssen, es brachte ihm nicht mal irgendwas. Er nahm einen jungen Mann bei sich zuhause auf, gab ihm Essen und ein Zimmer, ohne dass es ihm irgendwas brachte. Wir sind nicht miteinander verwandt, ich hatte kein Geld und auch sonst war ich mehr Fluch als Segen, aber ich wusste, dass ich bei ihm zu Hause bin, und er auch.

Familie ist ein Konstrukt, und im Wetteifern darum, dieses Konstrukt am besten zu verkörpern, ist Mitglied einer „Patchwork-Familie“ zu sein sowas wie ein Trostpreis. Wenn mir Menschen – und ich habe noch viele Erinnerungen an Lehrer*innen, die mir das früher in der Schule sagten – sagen ich sei Teil einer Patchwork-Familie, dann sagen sie mir nicht mehr als „Oh, du hast ja fast eine RICHTIGE Familie“. Aber ich will diesen Wettstreit gar nicht mitmachen, ich habe gar nicht das Ziel, Teil irgendeiner durch Leitsprüche wie „Blut ist dicker als Wasser“ verbundenen Gruppe zu sein. Es ist vollkommen abstrus, die Vaterrolle oder Mutterrolle daran festzumachen, dass diese Personen Körperflüssigkeiten austauschten und mensch infolgedessen das Licht der Welt erblickte. Das qualifiziert einen Menschen doch gar nicht für diese Rollen.

An meinen Erzeuger erinnert mich heute nur noch Neurodermitis, die Halbwaisenrente und das Versprechen an mich selbst, nie so zu werden wie er. An meinen Vater jedoch erinnert mich das Gefühl von Sicherheit, dass ich, sollte ich im Leben richtig hart scheitern, immer einen Platz, habe wo ich sicher bin und Luft holen kann.

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