Massenproteste und politische Krise in Peru

13.11.2020, Lesezeit 8 Min.
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Bild: "Für eine Freie und Souveräne Verfassungsgebende Versammlung". Banner der CST, Schwesterorganisation von RIO in Peru

Mit der Absetzung des Präsidenten Martin Vizcarra durch den peruanischen Kongress und dem Amtsantritt von Manuel Merino ist das Land in eine tiefe politische Krise gestürzt. Was sind die Hintergründe und die Perspektiven in der aktuellen Situation?

Am Donnerstag vereidigte der neue peruanische Übergangspräsident Manuel Merino sein neues Kabinett. Am Tag zuvor wurde mit Ántero Flores Aráoz ein Ultrakonservativer zum Premierminister ernannt, der Rest der Regierung besteht aus ehemaligen Minister:innen konservativer und neoliberaler Regierungen sowie Vertreter:innen von Großkonzernen. Als Antwort auf diese politischen Manöver, die der Bevölkerung ihre Entscheidungsmacht über “ihre” Regierung verweigern, finden seit Tagen starke Proteste statt.

Das politische Establishment versucht, eine Vertiefung der Krise zu verhindern, die bereits zu heftigen Protesten geführt hat. Doch das Problem geht tiefer und betrifft die Grundsäulen des peruanischen Staates.

In den letzten Jahren scheint die peruanische Politik keine Stabilität zu finden. Nachdem der Ex-Präsident Pedro Pablo Kuczynski (PPK) aufgrund von Korruptionsfällen abgesetzt wurde, übernahm sein Funktionär Martín Vizcarra das Amt. Nun musste Vizcarra aus den gleichen Gründen zurücktreten und eröffnete so den Weg zu einer ungewählten Technokrat:innenregierung.

Eine Übergangsregierung aus bekannten (und korrupten) Gesichtern

Das zentrale Ziel dieses neuen Kabinetts ist der Versuch, eine Regierung zu konsolidieren, die sich seit ihrer Amtsübernahme Mobilisierungen entgegen sieht, die für ihren Sturz kämpfen.

Um Kontinuität zu zeigen, versicherte Merino während der Vereidigung, dass er während der Übergangszeit, die er nach dem Abtritt von Vizcarra nun bis zum 28. Juli nächsten Jahres führen soll, keine „traumatischen Veränderungen“ vornehmen werde. Doch die Proteste auf den Straßen und die Diskreditierung des Parlaments, das gerade für die Entlassung von Vizcarra gestimmt hat und damit die Amtsübernahme Merinos veranlasste, sind der Grund für die massiven Mobilisierungen, die die neue Regierung in Frage stellen.

Was die vereidigten Minister:innen verbindet, ist, dass die meisten von ihnen an der Regierung von Pedro Pablo Kuczynski (PPK) und Martin Vizcarra teilgenommen haben, entweder als Minister:innen oder als deren Berater:innen. So läuft gegen José Arista Arbildo, der in das Wirtschafts- und Finanzministerium berufen wurde, wegen angeblichen Stimmenkaufs für PPK im ersten Anlauf seiner Amtsenthebung eine Untersuchung.

Der Premierminister Flores Áraoz hat auch eine lange Geschichte der Politik im Dienste der Konzerne: Zwischen 2007 und 2009 war er Verteidigungsminister in der umstrittenen zweiten Regierung von Alan García (der sich 2019 das Leben nahm, um dem Knast zu entgehen) und einer der Architekten des Massakers an Indigenen im so genannten „Baguazo“ im Jahr 2009. Damals protestieren Indigene verschiedener Nationalitäten gegen die Durchsetzung des Freihandelsabkommens mit den USA, welches die natürlichen Ressourcen privatisierte und es transnationalen Minenkonzernen erleichterte, das Amazonasgebiet auszubeuten. Um seine mörderische Politik zu rechtfertigen, konnten rassistische Kommentare nicht fehlen: “Wir können nicht die befragen, die nicht lesen und schreiben können”.

Landesweite Proteste und brutale Repression

Etliche weitere unbeliebte Gesichter finden sich in Merinos Kabinett. Kein Wunder also, dass die Antwort nicht auf sich warten ließ: Seit fünf Tagen protestieren Zehntausende in Lima, Ayacucho, Cajamarca und anderen Städten. “Merino ist nicht mein Präsident” und “er wurde nicht gewählt” riefen die Demonstrierenden. Viele fordern zudem ein Ende der Korruption und eine Erneuerung in der Politik.

Die Polizei reagierte mit brutaler Represssion: Die Medien sprechen von 40 Gefangenen und mehreren Schwerverletzten, während der Gesundheitsminister Abel Salinas dies leugnet, doch die Bilder sprechen für sich:

Nachdem nationale und internationale Organisationen in den vergangenen Tagen die exzessive Gewaltanwendung der Polizei gegen die Demonstrierenden verurteilt hatten, forderte der Ombudsrat (defensoría del Pueblo, etwas wie die Bürgerbeauftragten in deutschen Bundesländern) die Regierung Merinos auf, die Ausübung des Rechts auf friedliche Mobilisierung zu garantieren.

„Wir respektieren diejenigen, die eine abweichende Meinung haben, aber wir rufen zur Ruhe auf, damit jede Demonstration in Ruhe ablaufen kann“, sagte Merino in Bezug auf den neuen landesweiten Protesttag.

Vertreter:innen seiner neuen Regierung sagten jedoch später, dass die Mobilisierungen von oppositionellen politischen Gruppen gefördert wurden und brachten sie sogar mit “extremistischen Bewegungen” in Verbindung.

„Es ist kein spontaner Protest, ich habe gesehen, dass es Anstachelung gibt, es gibt Plakate, es gibt Aufrufe“, sagte die neue Justizministerin Delia Muñoz, bevor sie hinzufügte, sie habe gesehen, „dass es in den sozialen Netzwerken reichlich Propaganda gibt”.

Wie man sieht, sind die konservativen Mitglieder des neuen Kabinetts bereit, den kriminalisierenden Diskurs gegenüber den Demonstrierenden zu wiederholen und somit Repression und Verfolgung auf die Proteste zu entfesseln, wenn die Mobilisierungen ausgeweitet werden.

Eine tiefe Krise erschüttert also das Regime der Verfassung von 1993, die unter der Regierung des ultrarechten Alberto Fujimori eingeführt wurde. Um diese zu verstehen, benötigt es jedoch einen Rückblick in die letzten Jahre der peruanischen Politik.

Ein kurzer Abriss der letzten Jahre

Kurz nachdem der Ex-Präsident Kuczynski 2016 ins Amt kam, begann die Krise: Geleakte Daten über den brasilianischen Baukonzern Odebrecht deckten einen Haufen an Korruptionsfällen auf, in denen viele lateinamerikanische Politiker:innen verwickelt waren. Der Konzern hatte in einem Dutzend Ländern jahrzehntelang Politiker:innen und Funktionär:innen bestochen, um sich Verträge zu sichern.

So hatte die von Kuczynski gegründete Consulting-Agentur Westfield Capital zwischen 2004 und 2007 von Odebrecht Aufträge in Höhe von fast 800 Millionen US-Dollar erhalten. Zu dieser Zeit war der Politiker erst Wirtschaftsminister und dann Vorsitzender des Kabinetts unter der Regierung Alejandro Toledos gewesen.

Als die Korruptionsakte an die Öffentlichkeit kam, leugnete PPK zuerst die offensichtlichen Verstrickungen mit Toledos Regierung und seiner selbst. Eine Untersuchungskommission veröffentlichte jedoch im Dezember 2017 Daten, die er nicht mehr leugnen konnte.

Rund ein Jahr nach Kuczynskis Amtsantritt begann so ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, angestoßen vom Kongress, der von der rivalisierenden rechten Partei Fuerza Popular angestoßen wurde, die die Mehrheit innehatte.

Mit der Anklage wegen “moralischer Unfähigkeit” begann also am 15.Dezember 2017 eine schier endlose parlamentarische Debatte über die Zukunft der Regierung. Schließlich konnte PPK sich, wenn auch stark geschwächt, im Amt halten, da er mit Keiko Fujimori, Tochter des Ex-Präsidenten, einen Deal gemacht hatte: Er würde Alberto Fujimori eine präsidentschaftliche Begnadigung ausstellen.

Dies löste jedoch den Wut der Bevölkerung aus. Fujimori saß seit 2007 im Gefängnis und war aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und Korruption zur Höchststrafe von 25 Jahren Haft verurteilt worden und ist verantwortlich für den paramilitärischen Terror, der Linke, Bäuer:innen und Arbeiter:innen ermorderte und folterte.

Trotz der Proteste wurde Fujimori (aus “gesundheitlichen Gründen”) begnadigt und kam pünktlich zu Weihnachten aus dem Knast frei. In einem zweiten Prozess erhielt die Opposition die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit und konnte PPK absetzen. Das Amt übernahm Martín Vizcarra, der Transportminister und Vizepräsident gewesen war. Nun wird er nach zwei Jahren im Amt, und mit noch fast 8 Monaten bis zum Ende seiner Amtszeit, vom Kongress abgesetzt, weil er ebenfalls Teil des korrupten Apparats im Dienste der Konzerne ist. Das Paradoxe ist, dass die meisten Mitglieder dieses Kongresses ebenfalls in Korruptionsskandale verwickelt sind.

Wie unsere Genoss:innen der Sozialistischen Arbeiter:innenströmung (CST) in Peru schreiben:

Diese Fakten zeigen deutlich, wie das Interesse der Kapitalist:innen die Gesamtheit der peruanischen Staatsgewalt und ihrer Institutionen vollständig durchdringt. Auf diese Weise kontrollieren die Geschäftsleute die Politiker:innen, selbst jene, die wie Martin Vizcarra als „Anführer gegen die Korruption“ gelten. Somit ist Marx‘ Definition des Staates als „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Kapitalistenklasse verwaltet“ gültiger denn je.

In diesem Sinne beendet der Abtritt von Martin Vizcarra nicht die politische Krise, sondern eröffnet vielmehr ein neues Szenario von Streitigkeiten innerhalb des Establishments, das so konfiguriert ist, dass es die Interessen des Imperialismus und der herrschenden Klassen begünstigt. Erinnern wir uns daran, dass dieses Regime 1993 von Alberto Fujimori durchgesetzt wurde und seine rechtliche Unterstützung die aktuelle politische Verfassung des Staates ist, der sich diejenigen anschließen, die die Absetzung Vizcarras und den neuen Präsidenten Manuel Merino verteidigen, genauso wie diejenigen, die sich auf die Seite von Martin Vizcarra stellen oder Lösungen vorschlagen, die als Zwischenlösung betrachtet werden, wie das Konsenskabinett.

Diese Rechtsordnung, die in der Verfassung von 1993 zum Ausdruck kommt, steht im Dienst der Bourgeoisie, weil sie vor allem die Verteidigung des Privateigentums wahrt, und ist zudem undemokratisch, weil sie die Beteiligung der Werktätigen an der Entscheidungsfindung einschränkt. Aus diesem Grund hat der Staat seitdem verschiedene politische Initiativen umgesetzt, die die Rechte der Arbeiter:innen erheblich eingeschränkt haben, was insbesondere die Ausplünderung nationaler Bodenschätze und die Bereicherung der großen nationalen und ausländischen Kapitalist:innen begünstigt hat.

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