Marokko rebelliert – Chronik der achtmonatigen Protestwelle (Teil I)

22.06.2017, Lesezeit 4 Min.
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Seit fast acht Monaten erschüttern massive Proteste Marokko. Ausgelöst durch den Tod eines Fischhändlers richten sie sich gegen das repressive Regime von König Mohammed VI. und die schlechten Lebensbedingungen. In diesem zweiteiligen Artikel werden wir die Ausmaße der aktuellen Proteste und ihre sozialen und historischen Ursachen behandeln.

Seit dem Arabischen Frühling 2011 gab es solche Proteste in Marokko nicht mehr. Über ein halbes Jahr protestiert die Bevölkerung der ländlichen Region Rif an der bergigen Mittelmeerküste nun schon kontinuierlich. Die Antwort des Regimes ist die harte Repression gegen Demonstrationen und die Festnahme der Anführer*innen der Proteste. Doch die Bewegung scheint noch kein Ende gefunden zu haben.

Auslöser: Gerechtigkeit für Fikri

Am 28. Oktober 2016 starb der Fischhändler Mohsin Fikri aus al-Hoceima, einer ärmeren Stadt in der Rif-Region. Er hatte sich geweigert, die Polizei zu bestechen, woraufhin diese seine Fische beschlagnahmten und in den Container eines Müllwagens schmissen. Als sich Fikri daraufhin selbst in den Müllwagen stellte, um seine Ware wiederzubekommen, befehligte die Polizei, die Müllpresse trotzdem zu starten. In Marokko nennt man eine solch würdelose und tragische Form des Todes „Hogra“.

Noch am selben Abend zogen in al-Hoceima tausende Menschen auf den zentralen Platz der Märtyrer und forderten Gerechtigkeit für Fikri. Es wurde ein Protestcamp gestartet und am darauffolgenden Tag fand eine Demonstration mit 50.000 Menschen statt. Die Bewegung breitete sich aus und in vielen Städten der Region sowie anderen Städten des Landes fanden große Proteste statt.

Seitdem finden regelmäßig Aktionen der Bewegung statt, die sich den Namen „Hirak“ gegeben hat. Zentrum der Proteste ist die Stadt al-Hoceima, aber auch in vielen anderen Städten der Rif-Region wie Taounate, Tanger, Meknès oder Tétouan und weiter entfernten Städten wie Agadir, Kenitra, Casablanca, Marrakesch entstanden Bündnisse, die Demonstrationen, Straßenblockaden und andere Proteste organisieren.

Folgen: Ausweitung und Radikalisierung

Die Protestierenden sind jedoch nicht bei ihren ursprünglichen Forderungen stehen geblieben, sondern haben eine ganze Reihe von sozialen Forderungen als Motor der Bewegung entwickelt, die sich gegen das Regime von König Mohammed VI. richtet. Auf den Demonstrationen hört man Sprüche wie „Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit“, „Wir geben nicht auf“, „Das Volk will das Ende der Korruption“, „Wir haben zwei Meere und Phosphor, doch das Volk lebt in Armut“.

Da auch nach so langer Zeit die Proteste weiter anhielten, verschärfte das Regime in den letzten Monaten die Repression. Auch wenn Polizeigewalt nicht nur bei den aktuellen Demonstrationen zum brutalen Alltag in Marokko gehört, hatte die Regierung zu Beginn versucht, die Bewegung im Zaum zu halten. Sie entsandte Minister in die Region und versuchte, den Protesten von den Moscheen aus die Legitimität abzusprechen.

Doch all dies führte zu nichts – die Proteste gingen weiter. Deshalb gab die Regierung Mitte Mai eine Erklärung ab, in der sie die Demonstrant*innen beschuldigte, die Ordnung der Region zu zerstören, sich von Marokko abzuspalten und vom Ausland gesteuert zu sein. Zudem setzte sie zum ersten Mal seit 2005 das Militär zur Repression im Inland ein: 25.000 Soldat*innen wurden in die Region verlegt – das ist eine*r auf jede*n zwölfte*n Einwohner*in! Mitte Mai wurden mehr als 40 Aktivist*innen festgenommen, zu denen auch die Anführer*innen der Proteste gehören. Seitdem sitzen sie in Casablanca im Gefängnis. Anfang Juni wurden erneut auf Befehl des Königs, der sich zu den Forderungen der Bewegung ausschweigt, dutzende Demonstrant*innen festgenommen.

Schon 2011 hatte das Regime es geschafft, durch Folter, Verhaftung und Ermordung der führenden Köpfe der Bewegung, die Proteste niederzuschlagen. Doch allem Anschein nach steigern die repressiven Maßnahmen nur die Wut und entfachen neue Proteste. So gab es nach der Verhaftungswelle in Mai einen Generalstreik der informellen Arbeiter*innen der Region, sowie zahlreiche Demonstrationen in den verschiedenen Städten. Am 11. Juni gab es eine Solidaritätskundgebung in der Hauptstadt Rabat mit bis zu 50.000 Menschen, die sich hinter den Protest in Rif und gegen die Festnahmen stellten.

Als am 15. Juni dann die ersten Strafen, die bis zu 18 Monaten Haft gegen die Aktivist*innen vorsehen, verkündet wurden, brach der Unmut erneut aus. Neben Demonstrationen in al-Hoceima wurde über die sozialen Netzwerke ein Aufruf zu einem dreitägigen Generalstreik vom 16. bis zum 18. Juni verbreitet – und das mitten im Fastenmonat Ramadan!

Im zweiten Teil des Artikels werden wir uns mit den Ursachen der aktuellen Proteste und der Geschichte des Widerstands in Rif auseinandersetzen.

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