Korrespondentenbericht aus Lützerath: Das Potenzial einer selbstorganisierten Bewegung

13.01.2023, Lesezeit 5 Min.
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Foto: Jonas

Erfahrungsbericht eines Korrespondenten, der aus dem besetzten Dorf Lützerath im Rheinland berichtet. Unter Lützerath befindet sich Braunkohle, die RWE fördern möchte. Die Ampelregierung, auch die Grünen, stimmten für diesen Abbau.

Das seit zwei Jahren von hunderten Aktivist:innen besetzte Dorf wies eine erstaunlich gut strukturierte Organisation auf und die Unterstützung der Menschen aus der Umgebung ist weiterhin groß. Es gab eine Küche, die mehrmals täglich für alle Menschen warme Mahlzeiten bereit stellte, einen Infopunkt für allgemeine Anliegen, ein Awareness-Team, das sich um das Wohlbefinden der Menschen kümmerte, einen Aktionspunkt, an dem die kollektiven Maßnahmen koordiniert wurden, ein Sanitätszelt, an der Mahnwache wurden warme Getränke ausgegeben und die Pressestelle war rund um die Uhr damit beschäftigt, die Anfragen von Medien aus aller Welt zu bearbeiten und aus der Besetzung zu berichten.

Die Stimmung unter den Besetzer:innen war sehr angespannt und verschärfte sich im Abstand weniger Stunden mit jedem Alarm, wenn die Polizei weiter vorrückte. Überall waren Menschen damit beschäftigt, die Zufahrten zu verbarrikadieren, Baumhäuser zu sichern und Konstruktionen zu errichten, auf denen sich Aktivist:innen den Schlägertrupps der Einsatzkräfte möglichst lange entgegenstellen können.

Während die akuten Vorbereitungen gegen die Räumung auf Hochtouren liefen, fand am Sonntagmorgen eine letzte Pressekonferenz an der Mahnwache statt. Es sprachen einige Vertreter:innen des Aktionsbündnisses Lützerath Unräumbar, zu dem ausgeco2hlt, Alle Dörfer Bleiben, Ende Gelände, End Fossil Occupy, Extinction Rebellion, Fridays For Future, Interventionistische Linke, Kirche im Dorf lassen, Kohle ersetzen, Letzte Generation, RWE & Co. enteignen, Scientist Rebellion, … ums Ganze! und Zucker im Tank zählen. Sie sprachen von der Dringlichkeit, mit der wir uns dem Klimawandel entgegenstellen müssen und von Klimagerechtigkeit, denn es sind weltweit die ärmsten Menschen, die am meisten unter den Auswirkungen leiden, während eine verschwindend geringe Zahl von reichen Menschen und ihre Unternehmen für den Großteil der Ursachen verantwortlich ist.

Besonders bewegend war eine Rede von Peter Emorinken-Donatus von Alliance Ökozid, der aufgrund seiner politischen Arbeit als Aktivist gegen den Ölkonzern Shell aus Nigeria fliehen musste und nun im deutschen Exil lebt. Er ermutigte die Menschen, sich dem zerstörerischen System entgegenzustellen mit den Worten, dass jeder kleine Akt des Widerstands Menschenleben rettet. Das bestehende System sei zum Scheitern verurteilt und beim Sturz dieses Systems trage der globale Norden nach Jahrhunderten der Ausbeutung eine besonders große Verantwortung. So habe das kleine Land Deutschland alleine einen größeren jährlichen CO2-Ausstoß, als der gesamte afrikanische Kontinent.

Laut dem Aktionsbündnis kann parlamentarische Politik keine adäquaten Antworten auf die Dringlichkeit der Klimakrise liefern. Es reiche nicht zu demonstrieren und sich wegtragen zu lassen, sondern es sei ziviler Ungehorsam nötig, der zwar illegal, aber angesichts einer Politik, die im Interesse einer ausbeuterischen Minderheit handelt, legitim sei. Dieser Ungehorsam sei historisch notwendig, um soziale Veränderungen herbeizuführen.

Im Anschluss fanden sich an der Mahnwache an der Tagebau-Abbruchkante über tausend Menschen ein, um gegen die Räumung des Dorfes zu demonstrieren – unter ihnen ironischerweise auch Mitglieder der Parteien Die Linke, sowie Die Grünen, die mit ihren Beteiligungen an der Bundes- und verschiedenen Landesregierung mitverantwortlich für das Vorgehen der Polizei und der faulen Bund-Länder-Einigung des Kohlekompromisses sind.

Nachdem abends ein Konzert der Band Annenmaykantereit auf dem Tagebau-Vorfeld stattgefunden hatte und die meisten Beteiligten des „Dorfspaziergangs“ gegangen waren, rückte die Polizei vor und versucht die Aktivist:innen zurückzudrängen. Nachdem daraufhin ausgelösten „mittleren Alarm“ stellten sich ihnen einige hundert Aktivist:innen entgegen und die Polizei wich zurück. Als in mehreren Etappen weitere Hundertschaften der Polizei anrückten, nahmen sie einen von den Aktivist:innen auf dem Feld eingegrabenen Container ein, wobei sie brutal gegen die Menschen vorging, die sich dort aufhielten. In der Folge zogen sich die Aktivist:innen über Nacht bis zum Dorfrand zurück und hielten das weitere Vorrücken der Polizei mit einer Sitzblockade vorerst auf.

Währenddessen intensivierten sich die Vorbereitungen gegen die Räumung weiter – die Einfahrten zu den Höfen wurden mit Containern und Wohnwagen blockiert, die Zufahrten zum Dorf mit zusätzlichen einbetonierten Stahlträgern blockiert und Gehwegplatten/Pflaster aufgenommen, um den Einsatz- und Räumfahrzeugen das Manövrieren zu erschweren.

Der unmittelbare Plan ist, die Räumung bis Ende Februar hinauszuzögern, sodass diese aufgrund von Naturschutzauflagen für Rodungen bis zum Herbst nicht mehr möglich wäre und in der Zwischenzeit genug Druck auf die Politik ausgeübt wird, um das Dorf retten zu können.

Die Aktivist:innen in Lützerath sind nicht alleine. Aus der ganzen Welt erhalten sie Solidaritäts-Nachrichten. So sendeten beispielsweise die junge GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) und die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) Fotos mit Solidaritäts-Bekundungen und Aussagen gegen die Politik der Ampelregierung, die sich nach den Profiten der Konzerne richtet. Sie machen damit einen wichtigen Schritt, um die Kämpfe der verschiedenen Bewegungen und Institutionen zu verbinden, denn nur gemeinsam können wir die nötigen Kräfte sammeln, um uns den ausbeuterischen Mechanismen des Kapitalismus entgegenzustellen.

Ich verlasse Lützerath mit großer Sorge um die Aktivist:innen, die sich der Polizei und damit der Regierung und den Konzernen mutig in den Weg stellen, dem Gefühl, dass Selbstorganisation unglaubliche Kräfte entfalten kann und der Hoffnung, dass auch weitere Gewerkschaften und Gruppen dem Beispiel der jungen GEW und der VKG folgen und zu Solidaritäts-Aktionen, wie Protesten, Arbeitsniederlegungen und Blockaden aufrufen.

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