Jamaika scheitert: Kleinbourgeoisie rebelliert gegen Merkel

21.11.2017, Lesezeit 5 Min.
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Das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen zeigt die Schwierigkeiten Merkels, die verschiedenen bürgerlichen Interessen und Strategien unter ihrer Führung zu vereinigen. Das Scheitern der Verhandlungen ist für Deutschland Ausdruck einer seit Jahren nicht gesehenen politischen Unsicherheit.

Am Sonntagsbend verweigerten die Königsmacher von der FDP die Krönung. Jahrzehntelang hatten sie als treue Verbündete zu den größeren Parteien, insbesondere der Union, gestanden. Damit machte Christian Linder jetzt Schluss. Das war nicht nur seinem eigenen Ego oder taktischen Spielereien geschuldet. Viel stärker bei der Entscheidung der FDP wiegt die Autoritätskrise des Merkelismus, dessen Integrationskraft bröckelt, die bürgerlichen Parteien anzuführen.

Wie konnte es so weit kommen?

Nach den Wahlen waren sich alle Beteiligten einig, dass es schwierige Koalitionsverhandlungen werden würden. Die FDP hatte von Beginn an offengelassen, die Verhandlungen scheitern zu lassen, wenn sie ihre Punkte in Sachen Steuern, Migration, Energie oder Flexibilisierung nicht durchbekäme. Zuletzt war noch ein Katalog mit vielen ungeklärten Verhandlungspunkten offen. In der Nacht von Sonntag auf Montag sagte Lindner vor den Berliner Kameras: „Es hat sich gezeigt, dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten.“

Während sich die Grünen in Punkten wie Kohleausstieg oder Obergrenze kaufen ließen, schaffte es Merkel nicht, die FDP in ausreichendem Maße zu umgarnen. Der Merkelismus hat ein Problem: Er kann dem Kleinbürger*innentum, das in Grünen, FDP und AfD einen politischen Ausdruck findet, nur einen unzureichenden strategischen Plan für die Entwicklung der Europäischen Union als Vehikel der deutschen Ambitionen anbieten. Die kleinbürgerlichen Parteien haben selbst keine Vorstellungen von der Gestaltung Europas. Doch die großen politischen Visionen der Großbourgeoisie in Vertretung des Merkelismus, denen sie sich anschließen könnten, fehlen. Wie geht es weiter gegenüber China, USA und Russland? Was kann das Auseinanderdriften der EU verhindert werden? Was tun in Fragen der Finanzpolitik? Zu alldem hat Merkel keine Antwort, was sich in der „Flüchtlingskrise“ ausdrückte, die eine Krise des Imperialismus ist. Nur die Grünen, die sich im Merkel’schen Status Quo eingerichtet haben, bleiben als treue Verbündete.

Die Absage der FDP an Jamaika ist deshalb keine plötzliche Laune eines Christian Lindner. Gewiss hat sich die FDP nach ihrem desaströsen Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 mit ihm einen „Modernisierer“ ans Ruder gesetzt, der in der Lage ist, die Partei wieder als Vertretung des Kleinbüger*innentums zu konsolidieren. Dass Lindner mit dem Platzen der Verhandlungen eine politische Krise heraufbeschwört, ist aber weniger seiner Person geschuldet, als vielmehr Ausdruck der politischen Verhältnisse. Merkel konnte besonders in den Fragen der EU keine konsistente kapitalistische Vision anbieten, um ihre hegemoniale Führungsrolle für die deutsche Bourgeoisie als Ganze, der die FDP untergeordnet ist, weiterhin beanspruchen zu können.

Nun, da er eine vierte Amtszeit Merkels vorerst verhindert hat, kann Lindner diesen Triumph populistisch nutzen, um bei AfD-Wähler*innen zu fischen, als auch, um die Grünen bloßzustellen, die als stärkste Verfechter von Jamaika sämtliche ihrer Positionen abgeräumt haben und nun in die Röhre schauen. Aber nicht nur für grüne Kleinbürger*innen, auch für die Bourgeoisie ist das Scheitern eine Niederlage. Nicht umsonst hatten zuletzt alle großen Verlagshäuser auf Schwarz-Gelb-Grün gesetzt, um die Merkel’sche Stabilität noch für eine Zeitlang zu retten. Dass der Bourgeoisie mit ihren zahllosen Netzwerken nicht gelungen ist, die gesellschaftlich relativ unbedeutende FDP in den Sondierungen zu halten, zeigt, wie unklar sie selbst über die nötigen Strategien ist.

Da auf der linken Seite aber niemand steht, die*der die Lücke im Sinne der Arbeiter*innen füllen könnte, wird es noch eine ganze Zeit so weiter gehen – in jedem denkbaren Szenario werden die Rechten gewinnen.

Neuwahlen, GroKo, Minderheitsregierung?

Vom Abbruch der Verhandlungen wurden Grüne und Union weitgehend überrascht. In den kommenden Wochen werden sie und andere Parteien ihre Parteitage abhalten und sich neu sortieren. Es ist davon auszugehen, dass einige Köpfe rollen, aber der wichtigste Kopf– der von Angela Merkel, die im Zentrum der politischen Krise steht – dürfte vorerst mangels Alternative unangetastet bleiben. Statt eines großen Knalls dürfte die deutsche Parteien- und Regierungskrise – als Teil einer Repräsentationskrise und als Ausprägung der Tendenzen zur organischen Krise auf internationaler Ebene – auch länger anhalten. Die geschäftsführende schwarz-rote Bundesregierung wird noch mehrere Monate im Amt bleiben. Solange werden Parteien und Medien an die staatstragende Verantwortung der SPD für eine Neuauflage der Großen Koalition appellieren, die aber momentan keine Anstalten macht, sich zu bewegen. Eine Minderheitsregierung verspricht indes zu wenig politische Stabilität. Um Neuwahlen auszurufen, müsste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Kanzlerabstimmung im Bundestag durchführen lassen. Doch ob sich dadurch die Mehrheitsverhältnisse so stark ändern würden, dass eine einfachere Regierungsbildung ermöglicht würde, bleibt zweifelhaft. Dafür hat Merkel zu wenige Verbündete.

Mit der Ausnahme von Frauke Petry wird sich das rechte Lager mit ihrer vorläufig „zentrifugalen“ Strategie gegen Merkel ins Fäustchen lachen. Das Scheitern der Bürgerlichen, jetzt eine gemeinsame Lösung für ihre kapitalistischen Interessen zu finden, wird die AfD nutzen, um weiter rassistisch mit der Geflüchtetenfrage ins Feld zu ziehen, mit der sie schon ganz 2017 das Parteienspektrum schon nach nachts rückte.

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