Jahrzehnt der Prekarisierung

16.02.2015, Lesezeit 5 Min.
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// HARTZ IV: Mit der Agenda 2010 wurde die Prekarisierung massiv vorangetrieben. Doch die Streiks bei Amazon stellen dieses Arbeitsmodell in Frage. //

Die Agenda 2010 war ein bahnbrechendes Programm der herrschenden Klasse zur Flexibilisierung und Disziplinierung von Millionen von Arbeitskräften mit dem Ziel der „Wettbewerbsfähigkeit“ des deutschen Kapitals im Weltmaßstab. Für die Bourgeoisie waren die Agenda und ihr Kernstück Hartz IV ein durchschlagender Erfolg. Das heute vielbeschworene „deutsche Modell“ zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise fußt auf ebendieser massenhaften Prekarisierung ganzer Wirtschaftszweige, der Ausweitung von Befristungen, Leiharbeit und Werkverträgen, und der Schaffung einer massiven „Reservearmee“ von Arbeitslosen.

Die Auswirkungen für die Arbeiter­Innenklasse sind verheerend: Bis 2013 sank die Zahl der Vollbeschäftigungen um 1,4 Millionen, während gleichzeitig 550.000 neue (Solo-)Selbstständige registriert, 770.000 neue geringfügig Beschäftigungsverhältnisse und fast 2,4 Millionen neue reguläre Teilzeitstellen geschaffen wurden. Das „deutsche Jobwunder“ ist somit nichts anderes als die flächen­deckende Umwandlung vormals regulärer Beschäftigungsverhältnisse in prekäre und Niedriglohn-Verhältnisse, mit all den sozialen Auswirkungen, die dies impliziert.

Der Soziologe Klaus Dörre schreibt dazu: „Die Aufwertung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, wie sie mit den ‚Hartz-Reformen‘ verbunden war, schafft auf Seiten der Wirtschaft Anreize, Stellen mit Löhnen anzubieten, die nicht einmal die Existenz der Beschäftigten absichern.“ Deshalb schlussfolgert er: „Prekarität, so lässt sich festhalten, ist offenkundig ein Kontroll- und Herrschaftsmodus, der die Produktion gefügiger Arbeitskräfte fördert.“ 1

Gewerkschaftsbürokratie

Die Durchsetzung dieses Projekts der herrschenden Klasse war nur möglich durch die schändliche Klassenkollaboration der reformistischen Gewerkschaftsapparate, die sich – im Pakt mit der Regierungspartei SPD – abseits einiger symbolischer Mobilisierungen geweigert haben, diesem massiven Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter­Innenklasse und der Jugend entgegenzutreten. Daraus resultierte zum einen eine massenhafte Abwendung von den Gewerkschaften im direkten Nachklang der Einführung von Hartz IV. Vor allem aber wurde die gewerkschaftliche Macht in breiten Sektoren unterminiert, u.a. weil die Ausweitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse die Angst vor Repressalien massiv ansteigen ließ. Paradoxerweise untergruben die Gewerkschaftsapparate damit teilweise ihre eigene soziale Basis.

Hartz IV und Co. stellten auch einen Angriff auf das Bewusstsein der Arbeiter­Innenbewegung dar. Eine ganze Generation von ArbeiterInnen wurde durch diese Niederlage zurückgeworfen, mit dem Resultat des Rückzugs in Frust, Apathie und Ohnmacht. Gerade viele junge Arbeiter­Innen haben nie Erfahrungen erfolgreicher Kämpfe machen können. Im Gegenteil, der von Dörre konstatierte „Kontroll- und Herrschaftsmodus“ spielte sein volles Potential aus. Ihren Teil dazu trugen wiederum die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbürokratien mit ihrer Passivität bei.

Neue Tendenzen

Doch gerade in den letzten Jahren der Weltwirtschaftskrise gibt es Anzeichen für eine Umkehrung dieser Tendenzen. Gerade in prekären Sektoren begannen sich ArbeiterInnen gegen die weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen zu wehren. Dieser Prozess ist sehr widersprüchlich, weil die geringere Organisationsmacht, die effektive Arbeitskampfmaßnahmen sehr erschwert, oft auch mit einer viel geringeren Durchdringung mit sozialpartnerschaftlicher Ideologie einhergeht. Das liegt sowohl daran, dass die ArbeiterInnen in prekären Sektoren weniger Illusionen über die Effektivität der Sozialpartnerschaft hegen, als auch daran, dass die Gewerkschaften überhaupt nicht als „Sozialpartner“ anerkannt werden und deshalb zu weitaus radikaleren Arbeitskampfmaßnahmen greifen müssen. Darin inbegriffen ist – zumindest potentiell – ein größerer Einfluss der Basis der Streikenden auf die Geschehnisse des Streiks selbst.

Gerade weil die Gewerkschaftsapparate in prekären Sektoren stärker auf kreative Kampfformen angewiesen sind, können sich hier schnell Tendenzen zur Aktivierung der Streikenden entwickeln. Wir von RIO waren in den letzten Jahren bei einer Reihe von Streiks dabei (u.a. CFM, Neupack, Einzelhandel), bei denen wir genau diesen Prozess beobachten konnten und versuchten, ihn mit voranzutreiben. Gemeinsamer Nenner war jedoch, neben anderen Problemen, die fehlende effektive demokratische Kontrolle der Streik­führung durch die Streikenden, was gerade in den entscheidenden Momenten zur Demobilisierung führen konnte. Auch wenn viele KollegInnen die Ergebnisse und faulen Kompromisse kritisierten, war die Möglichkeit einer alternativen demokratischen Streikführung nicht erkennbar.

Streiks bei Amazon

Am aktuellen Arbeitskampf beim multinationalen Konzern Amazon kristallisieren sich nun viele der unterschwelligen kämpferischen Tendenzen, die wir in den letzten Jahren in verschiedenen prekären Sektoren beobachten konnten. Außerdem findet der Trend zum Verzicht auf die vermittelnde Rolle der Gewerkschaft bei Amazon einen besonders sichtbaren Ausdruck und zwingt den ver.di-Apparat dazu, irgendwie die Konfrontation zu organisieren.

RevolutionärInnen müssen das Potenzial dieses Kampfes sehen und nutzen, um einen Beitrag zur Rückeroberung der Subjektivität der ArbeiterInnenklasse in Deutschland zu leisten. Dabei ist der Kampf gegen die Befristungspraxis in diesem Konzern sowohl ein Teil des Kampfes für einen Tarifvertrag dort, als auch des Kampfes gegen die Auswirkungen der Agenda 2010 insgesamt.

Fußnoten

1. Klaus Dörre: Das deutsche Jobwunder. Vorbild für Europa? Rosa-Luxemburg-Stiftung. Brüssel 2014.

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