Interview mit Jean-Marc Rouillan: Erinnerung, Gefängnis und der Kampf für die Revolution

18.01.2023, Lesezeit 20 Min.
Übersetzung:
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Bild: Nina Guiu Freixes

Jean-Marc Rouillan war Teil der bewaffneten Untergrundgruppe Action Directe und saß für ihre gewaltsamen Aktionen viele Jahre im Gefängnis. In diesem Interview spricht er über Repression, das historische Gedächtnis der Arbeiter:innenbewegung und die Strategie zur Überwindung des Kapitalismus unter den heutigen Umständen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei unserer italienischen Schwesterseite La Vocce delle Lotte. Die Genoss:innen führten dieses Interview mit ihm auf der Sommerakademie von Révolution Permanente in Frankreich.

Jean-Marc Rouillan ist ein französischer Aktivist und Schriftsteller. Er war seit Anfang der 1970er Jahre im Kampf gegen den Franquismus aktiv und gehörte zu den Protagonist:innen jenes Teils der Arbeiter:innen- und revolutionären Bewegung, der den bewaffneten Kampf als Strategie zum Angriff auf den Kapitalismus in Frankreich wählte und ab 1979 in der Action Directe kämpfte. Nach einer Reihe Aktionen, wie der Ermordung von Georges Besse, Präsident von Renault und Gründer von Eurodif, wurden Rouillan und andere Genoss:innen 1989 verhaftet. Jean-Marc wurde zu zweimal lebenslänglich verurteilt (die zweite Verurteilung erfolgte 1994). Es beginnt für ihn nun eine sehr harte Phase der Haft, in der er Gewalt aller Art ausgesetzt ist. Zu diesem Zeitpunkt richtet sich seine Aufmerksamkeit besonders auf die Art des Gefängnisses und das Leben der Insassen, wie in der Kolumne „Chroniques Carcérales“ zu lesen ist, die er aus dem Gefängnis heraus für die sozialkritische Monatszeitschrift CQFD schrieb. Während seiner Haft führt er alle Arten von Protesten für seine Action-Directe-Genoss:innen und andere Gefangene durch. Im Jahr 2007 wurde er auf Bewährung entlassen. Seitdem ist er ständigen Schikanen und Überwachungen durch den Staat ausgesetzt. Diese Überwachung hindert ihn jedoch nicht daran, sich an wichtigen Bewegungen zu beteiligen, wie zum Beispiel an jener, die 2016 gegen das Arbeitsgesetz kämpfte und aus der heraus die Gelbwesten entstanden sind. Im Jahr 2022 unterstützt er die Präsidentschaftskampagne von Anasse Kazib, einem Eisenbahner und Revolutionär, die von der Révolution Permanente organisiert wird.

Jean-Marc, Sie sind heute Gast einer trotzkistischen Organisation, aber Ihr Weg hat Sie dazu geführt, viele Perspektiven aus verschiedenen Bereichen der antikapitalistischen Linken einzunehmen. Warum haben Sie sich entschieden, hierher zu kommen und Ihre Beziehung zu den Genoss:innen von Révolution Permanente weiter zu vertiefen?

Zunächst einmal bin ich kein Trotzkist, aber seit der Spaltung zwischen RP und NPA habe ich mich auf die Seite von Révolution Permanente gestellt. Die Einleitung eines Reformprozesses der radikalen Linken ist eine Aufgabe von grundlegender Bedeutung, und es ist wichtig, dass die Ausarbeitungen, die diesen Prozess leiten, eine Diskussion über die außergewöhnliche Erfahrung von vor zwanzig Jahren beinhalten. Die große politische Stärke von Révolution Permanente liegt in ihrer Fähigkeit, Konfrontation zu suchen und sich in einen Dialog mit der Vergangenheit zu begeben. Man kann einen revolutionären Prozess nicht (ausschließlich) mit Texten aus den 1920er Jahren beginnen. Wenn ich hier stehe, scheint mir klar zu sein, dass es in der Vergangenheit eine breite Reflexion über den revolutionären Prozess und die Ereignisse vor den 1990er Jahren gab; die organisierte Jugend bei Révolution Permanente mit all unseren Überlegungen und Erfahrungen von damals zu wappnen, ist heute eine Pflicht für alle revolutionären Kader.

Wir sind bei einer Sommerakademie, bei der eines der prominentesten Themen der Befreiungskampf der politischen Gefangenen ist. Ich denke an den Fall Italien, wo diese Frage als ein „gelöstes“ Problem beschrieben wird, ein Geist aus der Vergangenheit. Wir wissen natürlich, dass dies nicht zutrifft, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Menschen in den Gefängnissen, die noch immer für die vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren geführten Kämpfe bezahlen müssen, sondern auch im Hinblick auf die Inhaftierung politischer Aktivist:innen wie Georges Abdallah [lebenslänglich wegen Mord an einem US-Leutnant und einem isrealischen Diplomaten in Frankreich inhaftiert; die Taten richteten sich gegen die Einmischung beider Staaten in den Libanon, A.d.Ü.] im Westen oder auf die Risiken, denen kurdische Aktivist:innen und Kämpfer:innen (nicht unbedingt Revolutionär:innen) in allen NATO-Bündnisstaaten ausgesetzt sind. Warum ist es im Jahr 2022 so wichtig, weiterhin die Freilassung der politischen Gefangenen und die Abschaffung der Gefängnisse zu fordern (aus politischer und nicht nur aus humanitärer Sicht)?

Sie haben etwas Wichtiges gesagt – „wie ein Geist“. Man könnte auch sagen „wie ein Gespenst“, und ich würde hinzufügen: „…das über Europa schwebt!“. Gefangene sind genau das: ein Gespenst, das durch Europa streift und die Politik in Angst und Schrecken versetzt. Wir verteidigen keine guten Gefühle: Diese Genoss:innen sind die lebendige Erinnerung an die Kämpfe, die in der Vergangenheit das Kapital auf der ganzen Welt terrorisiert haben. Sie sind letztlich wichtig, weil die Wiedererlangung unserer Erinnerung ein entscheidender Schritt im Kampf aller Revolutionär:innen ist. Kämpfen wir also heute für die Befreiung der Gefangenen aus den Gefängnissen, wie wir es gemeinsam mit Révolution Permanente in Frankreich tun, um den Genossen Georges Abdallah aus dem Gefängnis zu befreien. Alle Genoss:innen aus dem Gefängnis zu holen, bedeutet, einen entscheidenden Teil unserer Klasse dem repressiven System des kapitalistischen Staates zu entreißen.

Sie haben erwähnt, wie wichtig es ist, unsere Geschichte zurückzuerobern, unsere Erfahrungen und den historischen Hintergrund der Arbeiter:innen- und revolutionären Bewegung wieder in den Blick zu bekommen. Welche Rolle spielt diese Ausarbeitung für die Entwicklung der Bewegung heute?

Die bürgerliche Repression hat uns militärisch unterdrückt und auch die Erinnerung an unsere Kämpfe und diese Konfrontation vernichtet. In Frankreich kann man keinen revolutionären Prozess beginnen, wenn man nicht bereit ist, sich mit den Geschehnissen ab ’68 auseinanderzusetzen, so wie es in Italien unmöglich ist, einen revolutionären Kampf der Arbeiter:innenklasse zu beginnen, ohne die Geschichte der Roten Brigaden und der Prima Linea zu kennen, wie alles, was der Klassenkampf wirklich war: Man muss also nicht nur die Bewegungen von ’68 und ’77 kennen, man muss alles verstehen, was in dieser historischen Periode passiert ist. Jede:r Revolutionär:in muss sich die Geschichte dieser Jahre zu eigen machen (sowohl die französische als auch die italienische), mit all unseren Erfolgen, aber auch mit all unseren Fehlern.

Gestern habe ich eine Rede über die Konterrevolution von 1968 gehalten. Darin habe ich erwähnt, dass Sie und die Generation, der Sie angehören, nicht die Phasen des Fordismus der Nachkriegszeit erlebt haben… Sie wurden mit dem Neoliberalismus geboren, und jetzt, da dieser den Höhepunkt seiner Krise erreicht und nicht in der Lage ist, mit den Widersprüchen fertig zu werden, die im Zuge der Globalisierung entstanden sind, steht er auch vor einer ideologischen und politischen Krise. In einer Zeit wie dieser ist es nur natürlich, dass junge Leute kommen und sich fragen, was früher passiert ist: Wenn das passiert, sind wir Zeugen eines „Fehlers“ des Systems, das die Realität nicht mehr verbergen kann und vor allem die jungen Leute nicht mehr davon überzeugen kann, dass es sich nicht lohnt, sich mit Geschichten wie der von Action Directe, den Roten Brigaden, den 1970er Jahren usw. zu beschäftigen. Für mich ist das Auftreten der Révolution Permanente im französischen politischen Kontext gleichbedeutend mit einer ideologischen Krise des Systems, wie auch andere Erfahrungen dieser Jahre, zum Beispiel die der Gelbwesten. Ich fühle mich daher immer verpflichtet, in meinen Diskussionen das Ausmaß des amerikanischen und des NATO-Interventionismus in der italienische Innenpolitik zu erläutern; es ist ein krimineller Interventionismus, der heute zum Beispiel versucht, ein ganzes Land davon zu überzeugen, dass es richtig ist, Waffen in die Ukraine zu schicken, um den Konflikt anzufachen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie Themen wie die Strategie der Spannung erörtern, dass Sie die Mitschuld und den Einfluss der NATO bei all den Anschlägen und Massakern analysieren, die Ihr Land seit Jahren erschüttern.

Unsere Pflicht (die meiner Generation) ergibt sich aus der Tatsache, dass wir in vielen Fällen nicht mehr da sein werden, und wir werden sicherlich nicht mehr zu den Waffen greifen können (zumindest nicht im vollen Sinne des Wortes), aber das bedeutet eben, dass wir die Aufgabe übernehmen müssen, die Erfahrung dessen, was gewesen ist, weiterzugeben, so dass man in der Lage ist zu verstehen, warum es sich lohnt, weiterzumachen, und wie es sinnvoller ist, dies zu tun.

In diesem Zusammenhang haben Sie auch die Unterdrückung von Arbeiter:innenbewegungen erwähnt, wie sie in Frankreich bei den Gelbwesten stattgefunden hat, einem Kampf, der ein sehr hohes Maß an Gewalt erfahren hat. In Italien kam es sogar während der Pandemie zu einem Wiederaufleben lokalerer Arbeiter:innenkämpfe als dem der Gelbwesten, die sich jedoch mit einem neuen repressiven Eifer des Staates konfrontiert sahen (ich denke an den jüngsten Fall der Verhaftung von acht Gewerkschafter:innen im letzten Monat, die durch eine lächerliche Verzerrung des Streikgesetzes zustande kam). In diesem Zusammenhang werden in den Betrieben wie bei den Demonstrationen erneut wichtige Debatten geführt, wie z.B. die über die Frage der Selbstverteidigung der Arbeiter, aber vor allem stellt sich die Frage, wie die politische Ausrichtung der Bewegungen aussehen soll, um auf die Repression zu reagieren und den Sieg anzustreben. Was halten Sie davon?

Der heutige Klassenkampf ist von unverhältnismäßiger Gewalt geprägt (Genosse Umberto fügt hinzu: „Auf der Ebene der Massenbewegung ist die Repression heute viel brutaler als in den 1960er Jahren. Die Jahre der Inhaftierung und der Verurteilung, die wir heute erleben, sind von einer nie dagewesenen Härte“). Eine der Kräfte, die der Neoliberalismus bei seinem Sieg über die Bewegung eingesetzt hat, war die Auferlegung eines Gewaltmonopols. Die revolutionäre Bewegung muss alle Monopole der Bourgeoisie in Frage stellen, wozu natürlich auch das Gewaltmonopol gehört, aber notwendigerweise auch das der Ideologie; in Frankreich zum Beispiel haben wir nach dem Sieg des Neoliberalismus einen Prozess der starken Institutionalisierung und Domestizierung der radikalen Linken erlebt. Heute hat diese institutionelle Linke als einzige mobilisierende Losung den Gewinn von Sitzen und Positionen durch bürgerliche Wahlen. Dieses Phänomen hatte bei den letzten beiden großen Mobilisierungswellen des Proletariats konkrete Folgen: Ich spreche von der Welle aus den Banlieues im Jahr 2005 (eine Bewegung, gegen die die Bourgeoisie schnell den Ausnahmezustand verhängte) und dem Aufstand der Gelbwesten: In beiden Momenten war die radikale Linke fast völlig abwesend, mit vorhersehbaren Folgen. Nur die Révolution Permanente und ihre Aktivist:innen waren präsent, vor allem mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Medienmittel.

Als Sie über das Jahr 2005 sprachen, haben Sie mich dazu gebracht, über die heutige Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse nachzudenken: eine Arbeiter:innenklasse, die sich zunehmend aus Menschen mit Migrationshintergründen, jungen Menschen, Frauen und queeren Menschen zusammensetzt. Wir wissen auch, dass man zum Beispiel als rassifizierte Person einem viel größeren Risiko institutioneller Gewalt ausgesetzt ist. Genosse Vincenzo erinnerte daran, dass es im Libanon normal war, überall an den Wänden von Gebäuden Inschriften zu sehen, die die Rote Brigarden oder die RAF lobten, was eine Vorstellung davon vermittelt, wie diese Phänomene auch über die nationalen Grenzen hinaus anerkannt und als stimulierend angesehen wurden. Ich habe mich heute gefragt, was Sie von der potenziellen Fähigkeit der Arbeiter:innenklasse halten, mit einer starken politischen Führung Verbindungen in der ganzen Welt zu knüpfen und diese für den Kapitalismus so bequemen sozialen Spaltungen zu überwinden.

Auf unserer gestrigen Plenarsitzung begann ein Genosse seine Rede mit dem berühmten Zitat von Warren Buffet, für den der Klassenkampf zwar existiere, aber die Bourgeoisie ihn gewinnen werde. Ich gebe eine andere Interpretation als das Original: Herr Warren Buffet, der Klassenkampf existiert nicht nur, sondern Sie haben ihn bereits verloren, denn Sie haben das Weltproletariat geschaffen. Der Neoliberalismus, die Globalisierung, alle Bemühungen, dem Kapital auf internationaler Ebene den Wert zurückzugeben, wurden von den fünf Punkten von Marx vorhergesehen, als er vom tendenziellen Fall der Profitrate sprach: Einer dieser grundlegenden Punkte ist eben die geografische Ausdehnung der Ausbeutung. Ich bin Marxist: Schon im Manifest steht, dass der entscheidende Moment der Revolution jener sein wird, in dem die Bourgeoisie mit der Existenz eines Weltproletariats konfrontiert wird. Heute ist es soweit: Es ist praktisch geschafft. Die Mehrheit der Welt ist proletarisch (laut offiziellen Zahlen, wohlgemerkt).

Es bleibt jedoch die Frage nach der Identifizierung des Klassensubjekts. In Italien scheint die Identifizierung eine ständig schwierige Aufgabe gewesen zu sein. In den 1960er Jahren versuchten einige Genoss:innen, sie ausschließlich mit dem Proletariat des Südens zu identifizieren; auf der anderen Seite gab es auch Reformisten, die z. B. mit der kommunistischen Partei Italiens (PCI) verbündet waren, die im Proletariat des Südens keine Möglichkeit der politischen Emanzipation sahen. Das Klassensubjekt ist nicht sozusagen die Gesamtheit der Klasse, aber es ist der am weitesten fortgeschrittene Teil von ihr, der sich den härtesten Auseinandersetzungen stellen wird (man könnte auch von der Vorhut der Klasse sprechen). Die Globalisierung der Ausbeutung hat dazu geführt, dass die Mehrheit des Weltproletariats heute völlig prekär ist, und zwar nicht nur, weil sie keinen festen Arbeitsplatz hat („ein:e FIAT-Arbeiter:in könnte als prekär bezeichnet werden, da er:sie zum Beispiel dem Risiko einer Standortverlagerung ausgesetzt ist“, fügt Genosse Umberto hinzu). Die Qualität der Ausbeutung bestimmt die Prekarität. Das Weltproletariat muss sich seiner immer stärkeren Rassifizierung bewusst sein, ebenso wie der Wesentlichkeit seiner weiblichen Komponente (im Weltmaßstab sind Frauen in der Mehrheit) und seiner Wohnkonzentration in den Peripherien der städtischen Räume: Dies sind historische Veränderungen in der Dynamik unserer Klasse.

Wenn ich an so viele meiner Altersgenoss:innen denke, komme ich nicht umhin, an die Tatsache zu denken, dass unsere Generation (nicht ausschließlich) diejenige ist, die am meisten von prekären Verträgen und Phänomenen wie der Gig-Economy betroffen ist, einer Monstrosität des krisengeschüttelten Neoliberalismus. Diese jungen, prekär Beschäftigten sind jedoch auch äußerst schwer zu organisieren, vor allem für die Gewerkschaftsstrukturen, die sich noch immer auf verkümmerte und bürokratische Methoden stützen und die im Laufe der Zeit beschlossen haben, diese Bemühungen fast vollständig aufzugeben. Was könnten Ihrer Meinung nach Anreize und Ideen sein, die Revolutionär:innen helfen, diese neue junge und prekäre Arbeiter:innenklasse zu erreichen?

Heute bin ich in einer Organisation, die die Idee des Generalstreiks vertritt, die die Idee verteidigt, dass es notwendig ist, das prekäre Proletariat zu organisieren: Was diese Organisation zeigt, ist, dass der Zusammenstoß das entscheidende Moment des Aufstands ist. Wenn die Militanten zur Demonstration der Gelbwesten gehen und „Generalstreik“ sagen, kann der prekäre Proletarier, der als Teil der Gelbwesten auf die Straße gegangen ist, die Bedeutung solcher Schlagworte in einem solchen Moment nicht verstehen, weil er sich bereits im Kampf befindet. Es geht nicht darum, den Anspruch des Generalstreiks zu kritisieren, aber er entspricht weder dem Ausbruch der Mobilisierungen in den Banlieues noch dem der Gelbwesten, für die in einem solchen Konfliktmoment eine Losung wie die des Generalstreiks nicht denkbar war. Wir befanden uns inmitten einer sehr konfrontativen Mobilisierung, weshalb die traditionelle Taktik der „Vorbereitung“ bei denjenigen, die bereits ihren eigenen Kampf begonnen hatten, keine Resonanz fand.

Ich möchte auf einen Punkt zurückkommen: Als die institutionalisierte radikale Linke auftauchte, um mit den kämpfenden Genoss:innen zu sprechen (während der Koordinationen der Gelbwesten), äußerten sie etwas, das für mich von einem theoretischen Standpunkt aus inakzeptabel war: Sie bekräftigten die Tatsache, dass der Nationalstaat von der Internationale getrennt sei. Wer so etwas sagt, zeigt, dass er die Formen der Staatlichkeit, die der Neoliberalismus seit Anfang der 1980er Jahre durchgesetzt hat, nicht verstanden hat. Wir wissen sehr wohl, dass die Justiz, die uns vor all den Jahren verurteilt hat, eine im Wesentlichen europäische Justiz war; dass alle konterrevolutionären Politiken, die verfolgt wurden, im Prozess der europäischen Staatlichkeit, in der NATO und in allen Strukturen, die für diese moderne Konterrevolution charakteristisch sind, ein neues Anwendungsfeld und Experimentierfeld gefunden haben.

Es gibt einen Genossen in Italien, Cesare Di Leonardo, der seit vierzig Jahren im Gefängnis sitzt: Er wurde gefoltert, brutal behandelt, als Folge einer Entscheidung, die von NATO-Kadern und nicht von italienischen Richtern oder Staatsanwälten getroffen wurde. Viele der gegen uns angewandten politischen Maßnahmen kamen von der NATO (durch die Orchestrierung der so genannten „Trevi-Gruppe“, einer Art Superministerium innerhalb der europäischen Gemeinschaft). Die Staatlichkeit sah bereits in den 1980er Jahren die unmittelbare Übernahme staatlicher Beziehungen durch suprastaatliche Organe vor. Wir behaupten eindeutig nicht die Auflösung des Nationalstaates, sondern vielmehr die Existenz anderer Strukturen, die sich in der Verwaltung dessen, was einst in der Verantwortung des einzelnen Staates lag, überschneiden. Diese Strukturen sind unmittelbar funktional für den Prozess der Globalisierung und der Globalisierung des Kapitals und damit für die Bildung geostrategischer Interessenzonen. Heute kann die Klassenopposition gegen diese Tendenz nicht auf die Erfahrungen des Stalinismus der Vergangenheit zurückgreifen, wo es bestenfalls kosmetische Formeln gab (wie die der so genannten „Schwesterparteien“ des Ostblocks), ohne tatsächlich ein Niveau revolutionärer Koordination zu bieten, das ausreicht, um der Konterrevolution vor Ort zu begegnen. Es ist notwendig, darüber zu diskutieren, wie man diese Proletarier:innen in den Ländern des globalen Südens, in Südostasien wie in Südamerika, erreichen kann, wie man konkrete Beziehungen zu ihnen knüpfen kann, denn die Stärken und Schwächen von Organisationen zeigen sich immer in der Praxis und nie nur in der Theorie.

Zwischen den 1970er und den frühen 1980er Jahren konnte der Italiener Livio Maitan als Hauptstratege der Organisation angesehen werden, die formell die Vierte Internationale beerbt hatte, das Vereinigte Sekretariat. In dieser Zeit entwickelte er die Theorie der drei Regionen der Weltrevolution, denen unterschiedliche Strategien entsprachen (kurz gesagt: der fortgeschrittene „Westen“, die so genannte „sozialistische“ Welt und die postkoloniale Welt). In dieser Zeit war das Sekretariat in Lateinamerika stark, nach der Krise der von Juan Posadas geführten Spaltung im Jahr 59 und vor dem Aufstieg der internatinale Arbeiter:innenliga LIT-CI von Nahuel Moreno. Die Strategie der Vierten führte häufig zur (auch physischen) Zerstörung der in diesen Gebieten tätigen Organisationen. Mich würde interessieren, welche Überlegungen Sie damals anstellten, auch im Hinblick auf die Eroberung des linken Flügels der ETA durch die Vierte im Jahr 1976.

Wie gesagt, da ich kein Trotzkist bin, kenne ich nicht alle ideologischen Bezüge, die diese Tradition bereichert haben. Aber auch dank der Beiträge von Genossen wie Vincenzo hatten wir bereits zwischen ’79 und ’80 verstanden, dass die revolutionären Bemühungen nicht innerhalb der nationalen Grenzen eingesperrt bleiben konnten. Auch in diesem Sinne hatten wir eine Politik der Vereinheitlichung auf der Ebene der Organisationen eingeleitet: Es war die Aussicht auf die anti-imperialistische Front, eine Initiative, die darauf abzielte, die kämpfenden Organisationen auf die Ebene des Raums zu bringen, in dem sie kämpften; ein Raum, in dem sich die wichtigsten Politiken der Bourgeoisie konzentrierten. Zu dem, was Sie über die Politik der Vierten Internationale sagten, würde ich antworten, dass die Globalisierung von zentraler Bedeutung für den revolutionären Kampf ist. Im Laufe der Geschichte verlagert sich die revolutionäre Zentralität von England nach Deutschland und in andere Länder, wie es auch in der Vergangenheit der Fall war. Heute ist es wichtig, die Frage zu stellen, wo diese zentrale Bedeutung unserer Klasse liegt. 68 gab es sechzig Millionen Arbeiter: heute sind es Milliarden, die sich vor allem außerhalb Europas befinden (das schon lange nicht mehr das Klassenzentrum ist). Es liegt auf der Hand, dass Europa angesichts der hohen Kapitalkonzentration in seinen Ländern eine echte strategische Bedeutung behält. Auf diesem Kontinent haben wir eine noch größere politische Verantwortung, die planetarische Kontrolle der Bourgeoisie zu verhindern, die Bourgeoisie zu zerschlagen, um die Revolution voranzutreiben. Ich antworte Ihnen anders als der Vierte: Für mich zählt die revolutionäre Zentralität. Mit anderen Worten: Was ist unsere Rolle als Revolutionäre? Ich hoffe, ich habe Ihre Frage beantwortet.

Wir danken den Genossen Umberto und Vincenzo, die als „historische“ italienische revolutionäre Aktivisten zu Besuch waren, für die Übersetzung und die nützlichen Einblicke, die weit über die Grenzen dieses Artikels hinausgingen, sowie den Genoss:innen von Révolution Permanente, ohne die nicht nur dieses Interview unmöglich gewesen wäre, sondern auch die Stunden intensiver Diskussionen, die wir an ihrer Sommeruniversität führen konnten.

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