Internationale Konferenz in Buenos Aires

11.06.2015, Lesezeit 15 Min.
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// INTERVIEW: Die neunte internationale Konferenz der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (Fracción Trotskista – Cuarta Internacional, FT-CI) fand vom 28. April
bis zum 3. Mai in Buenos Aires statt. //

Die Internationale Konferenz der FT-CI wurde von Delegationen der Partido de Trabajadores Socialistas (PTS – Partei Sozialistischer ArbeiterInnen) aus Argentinien, des Movimiento de los Trabajadores Socialistas (MTS – Bewegung der Sozialistischen ArbeiterInnen) aus Mexiko, des Movimento Revolucionário de Trabalhadores (MRT – Revolutionäre Bewegung der ArbeiterInnen, früher LER-QI) aus Brasilien, der Partido de los Trabajadores Revolucionarios (PTR – Partei Revolutionärer ArbeiterInnen) aus Chile, der „Courant Communiste Révolutionnaire“ (CCR – Revolutionär-Kommunistische Strömung) in der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA – Neue Antikapitalistische Partei) aus Frankreich, Clase contra Clase (CcC – Klasse gegen Klasse) aus dem Spanischen Staat, der Liga Obrera Revolucionaria (LOR – Revolutionäre ArbeiterInnenliga) aus Bolivien, der Liga de Trabajadores por el Socialismo (LTS – ArbeiterInnenliga für den Sozialismus) aus Venezuela, der Juventud Revolucionaria Internacionalista (JIR – Revolutionäre Internationalistische Jugend) aus Uruguay und der Revolutionären Internationalistischen Organisation (RIO) aus Deutschland besucht.

Um unsere LeserInnen über die Hauptergebnisse dieser wichtigen internationalen Konferenz zu informieren, haben wir Christian Castillo (Argentinien), Sergio Moissens (Mexico), Diana Assunção (Brasilien), Fabián Puelma (Chile) und Daniela Cobet (Frankreich) interviewt.

Diese GenossInnen waren Teil der großen politischen Ereignisse und Klassenkämpfe in ihren jeweiligen Ländern. In Mexiko war dies zum Beispiel die Studierendenbewegung #YoSoy132 („Ich bin 132“) und der Kampf für die lebendige Rückkehr der 43 entführten StudentInnen, in Brasilien die massiven Mobilisierungen im Jahr 2013 und der LehrerInnenstreik in São Paolo und in Chile der massive Kampf gegen das profitorientierte Bildungssystem.

Welche Themen wurden auf der Konferenz diskutiert?

Christian Castillo (CC): Die Tagesordnung der Konferenz deckte sowohl die wichtigsten Fragen der internationalen Lage, als auch die Aufgaben von RevolutionärInnen für den Aufbau von revolutionären ArbeiterInnenparteien und den Wiederaufbau der Vierten Internationale ab. In der ersten Sitzung gab es lange Diskussionen auf Basis eines Dokuments von Juan Chingo über die Definition des Charakters von China, seinen „imperialistischen Zügen“ und seiner möglichen Entwicklung. In der zweiten Sitzung diskutierten wir über momentane Trends der Wirtschaft und über die Theoretisierungen der bürgerlichen WirtschaftswissenschaftlerInnen. Diese Diskussion zeigte, dass wir noch weit von der Siegesgewissheit des Kapitalismus der Vorkrisenzeit entfernt sind. Sie basierte auf einem Dokument, das von Paula Bach vorbereitet wurde. Außerdem diskutierten wir die komplexe geopolitische Situation im Nahen Osten, vor allem in Bezug auf eine Bilanz des „Arabischen Frühlings“. Ausgangspunkt hierfür war ein Papier von Claudia Cinatti. Als letztes sprachen wir über unsere politische Orientierung anhand eines Beitrags von Emilio Albamonte. Die Diskussion ging von den verschiedenen Positionen aus, die wir uns in der ArbeiterInnen- und Studierendenbewegung und in den unterdrückten Sektoren der Jugend und der Frauen erarbeitet haben, ebenso wie von den parlamentarischen Positionen wie die der PTS innerhalb der Front der Linken und ArbeiterInnen (FIT) in Argentinien und den innovativen Werkzeugen, die wir nutzen um revolutionäre Ideen zu verbreiten, wie die Online-Tageszeitung LaIzquierdaDiario. Dies alles muss in den Dienst des Aufbaus von starken, kämpferischen ArbeiterInnenparteien gestellt werden, auf nationaler und internationaler Ebene.

Diese Dokumente, bereichert durch die produktiven Diskussionen während der Konferenz, werden in einer kommenden Ausgabe des Magazins „Estrategia Internacional“ (Internationale Strategie) publiziert werden.

Kannst du uns einen kurzen Überblick über die wichtigsten Diskussionen und Entscheidungen geben?

Sergio Moissens (SM): Auf ökonomischer Ebene haben wir die Entwicklung der kapitalistischen Krise, die 2008 begann, analysiert. Durch verschiedene quantitative Expansionsmaßnahmen der kapitalistischen Staaten, in Europa kombiniert mit harschen Austeritätsprogrammen, konnte der ökonomische Kollaps abgewendet werden. Trotzdem bleiben die Vorhersagen kritisch. Die wirtschaftliche Erholung der Vereinigten Staaten ist stärker als in anderen zentralen Ökonomien, aber immer noch zu schwach, um einen neuen starken Wachstumszyklus anzustoßen. In der EU bleibt es bei der Tendenz zur Stagnation, während in Lateinamerika der Preisverfall für Rohstoffe spürbar wird. Außerdem gibt es eine Verlangsamung des chinesischen Wirtschaftswachstums, welches in der ersten Phase nach der Krise der Motor des wirtschaftlichen Wachstums weltweit war. Obwohl es so scheint, als ob mittlerweile die meisten Brandherde unter Kontrolle sind, ist es immer noch möglich, dass Ereignisse wie die griechische Schuldenkrise oder ein Anstieg der Zinsen in den USA erneut heftige Krisenphasen auslösen.

Der internationale Ausblick ist entmutigend für bürgerliche WirtschaftswissenschaftlerInnen wie zum Beispiel Larry Summers, früherer Finanzminister der USA, die über „säkulare Stagnation“ theoretisieren, das heißt über verlängerte Perioden der Stagnation oder des niedrigen Wachstums, welche nur durch außerökonomische Ereignisse überwunden werden können. Nicht zufällig wirft diese Debatte wieder einmal die Frage nach der Beziehung zwischen Krieg und ökonomischer Erholung auf. Die Wichtigkeit dieser bürgerlichen Pseudo-Theoretisierungen besteht darin, dass sie auf ihre Weise seit langem bestehende marxistische Standpunkte bestätigen.

Diana Assunção (DA): Das ist richtig. Und dies betrifft nicht nur die mangelnde Dynamik des Kapitalismus und seine Notwendigkeit „Blasen“ zu produzieren, um zu funktionieren. In seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (welches ein Bestseller wurde) beleuchtet der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty die Tatsache, dass Ungleichheit dem kapitalistischen System inhärent ist und sie immer weiter wächst. Dabei sind seine Lösungsvorschläge utopisch und reduzieren sich auf die Anwendung von „Vermögenssteuern“. Als ob es irgendwie möglich wäre, den Kapitalismus schrittweise zu verändern. Dieser reformistische Trend drückt sich in Podemos und Syriza politisch aus.

Eine wichtige Diskussion durchzog alle Themen der Konferenz, und zwar die über die Rolle Chinas in der nächsten Periode. Dieses Land, in dem der Kapitalismus unter der Führung der Kommunistischen Partei wieder eingeführt wurde, die weiterhin die Staatsmacht fest in ihren Händen hält, ist zur zweitgrößten Wirtschaft der Welt geworden. Mit unserer Diskussion haben wir einen Austausch unter den Gruppen der FT hin zu einem besseren Verständnis dieses komplexen Landes gestartet. Unsere Definition der Lage Chinas wird viele wichtige programmatische Implikationen mit sich bringen, insbesondere für Afrika und Lateinamerika, wo nicht nur die Anwesenheit chinesischer Firmen zugenommen hat, sondern auch bilaterale Abkommen zwischen China und lateinamerikanischen Regierungen unterzeichnet wurden.

Welche anderen Fragen der globalen Geopolitik wurden auf der Konferenz diskutiert?

Fabián Puelma (FP): Im Kontext der kapitalistischen Krise und dem Niedergang der Hegemonie der Vereinigten Staaten entstanden wichtige geopolitische Konflikte. Zum Beispiel in der Ukraine, wo der „Westen“ (die Vereinigten Staaten und die Europäische Union) und Russland in Konflikt miteinander stehen. Während der Konferenz wurde auch über die Situation im Nahen Osten gesprochen. Dort hängen die heutigen Konflikte und Kriege mit dem reaktionären Kurs, den der „Arabische Frühling“ genommen hat, zusammen, vor allem die tiefergehenden Prozesse wie die in Ägypten und Tunesien. Die Aufstände in Syrien gegen Assad sind zu einem BürgerInnenkrieg zwischen reaktionären Fraktionen geworden, die von Regionalmächten und den imperialistischen Mächten unterstützt werden, wie zum Beispiel im Fall der Freien Syrischen Armee. Als Resultat der Bedingungen, die durch die imperialistischen Interventionen in der Region geschaffen wurden, insbesondere durch den Irakkrieg, ist der Islamische Staat entstanden. Diese vollkommen reaktionäre Kraft hat die Vereinigten Staaten dazu gebracht, wieder einmal militärisch in der Region einzugreifen. Ein anderes wichtiges Element, welches die Lage in der Region verändert, ist das Übereinkommen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran. Dieses Übereinkommen wurde von traditionellen US-Verbündeten, wie Saudi-Arabien und Israel, heftig abgelehnt.

DA: In diesem Kontext haben wir auch die Lehren des „Arabischen Frühlings“ diskutiert. Dieser war, trotz seiner Begrenzungen, der erste revolutionäre Versuch in der Periode, die mit der kapitalistischen Krise begann. Wie wir schon vorher gesagt haben waren die Prozesse tiefergehend in Tunesien und Ägypten, wo die ArbeiterInnenklasse mit ihren Organisationen intervenierte. Dadurch wurde es für die Armee notwendig, Staatsstreiche durchzuführen, um diese Prozesse zu stoppen und ein Regime ähnlich dem Mubaraks wiederherzustellen. Eine der grundlegenden Schlussfolgerungen aus dem „Arabischen Frühling“ ist, dass „demokratische Revolutionen“ nicht siegen können, wie die Mehrheit der linken Strömungen der Welt behaupten (so unter anderem die LIT-CI, die Internationale ArbeiterInnenliga – Vierte Internationale, deren wichtigste Organisation die PSTU in Brasilien ist). Dadurch unterstützten diese Strömungen letztendlich kapitalistische und sogar imperialistische Alternativen, wie in Libyen und Syrien. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass es für den Sieg notwendig ist, dass die ArbeiterInnenklasse, in Verbund mit allen Unterdrückten, dafür kämpft, die ökonomische und politische Macht der KapitalistInnen zu zerstören, um bei der Errichtung einer ArbeiterInnenregierung voranzuschreiten. Das heißt, die Theorie der „permanenten Revolution“ hat sich in der aktuellen politischen Situation bestätigt.

Im Lichte dieser zentralen Themen der internationalen Situation haben wir außerdem die Perspektiven des Aufbaus von „Kampfparteien“, die auf dem Klassenkampf basieren, und die Schritte hin zum Wiederaufbau der Vierten Internationalen diskutiert. Vor allem in Lateinamerika hat die Schwächung und Erschöpfung der „populistischen“ Regierungen und deren Ablösung durch rechte Regierungen reale Möglichkeiten für den Aufbau von revolutionären Organisationen der ArbeiterInnenklasse geschaffen; Organisationen, die nicht nur die dekadenten „nationalen“ Bourgeoisien herausfordern, sondern auch den Imperialismus, der dabei ist, den in den letzten Jahren verlorenen Boden wiederzugewinnen. Dies wird zum Beispiel in Obamas Politik für die Region deutlich, wie sie auf dem letzten Amerika-Gipfel vorgestellt wurde. Ebenso ist Obamas Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Kuba zu verstehen, die einen weiteren Sprung der kapitalistischen Restauration bedeutet – auch wenn dies mit einem „freundlichen“ Gesicht geschieht. Im Kontext der abnehmenden Popularität der verschiedenen post-neoliberalen Regierungen kam es zu einigen sehr wichtigen Kämpfen der ArbeiterInnen. Brasilien ist das Land, in dem ein neuer Zyklus von Kämpfen die nationale Ebene erreicht hat. Der LehrerInnenstreik in Paraná und São Paolo, die Kämpfe bei VW und Mercedes Benz und bei anderen Sektoren haben eine neue Subjektivität des Proletariats in der Region geschaffen.

Welche Herausforderungen haben wir als RevolutionärInnen in dieser Periode?

SM: Wir beobachten die Krise des lateinamerikanischen Populismus ebenso wie beginnende Kämpfe der ArbeiterInnenklasse in wichtigen Ländern wie Brasilien und Argentinien. Dies zeigt für uns die Notwendigkeit auf, unsere Anstrengungen zum Aufbau revolutionärer Organisationen, die in der ArbeiterInnenklasse und dem Klassenkampf verwurzelt sind, zu verdoppeln. Wir gehen dabei von wichtigen Errungenschaften aus, wie dem Aufbau der PTS in Fabriken im Industriegürtel im Norden von Buenos Aires und der Konsolidierung der FIT als politischen Bezugspunkt für wichtige Sektoren der LohnarbeiterInnen. Ein Beispiel dafür ist die Wahl in der Provinz Mendoza am 3. Mai, in der der Kandidat der PTS in der FIT, Nicolás del Caño, die Frente para la Victoria (FPV – Front für den Sieg, das peronistisch-kirchneristische Wahlbündnis) besiegte. Dadurch wurde die FIT die zweitwichtigste politische Kraft in dieser Provinz. Mit dem Wachstum der FIT beginnt eine Tendenz des Bruches von verschiedenen Sektoren der ArbeiterInnenklasse mit Kirchners „Mitte-Links“-Regierung.

Daniela Cobet (DC): Europa wurde von der Krise hart getroffen und wichtige Prozesse des Klassenkampfes begannen. Doch es tauchte der Neoreformismus von Parteien wie Podemos und Syriza auf, der versucht die Klassenkämpfe im Rahmen des Kapitalismus zu begrenzen. Große Teile der klassischen radikalen Linken haben sich an diese reformistischen Phänomene angepasst. Auf der anderen Seite haben unsere Organisationen die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse und die revolutionäre Strategie verteidigt. Wir suchen nach Wegen, um uns gemeinsam mit anderen linken Sektoren dieser Anpassung zu widersetzen. Zum Beispiel hat in Frankreich die CCR in der NPA, wo die GenossInnen der FT aktiv sind, gemeinsam mit der Tendenz „Antikapitalismus & Revolution“ wichtige Schritte im Kampf gegen die Mehrheitsorientierung der NPA in Richtung der reformistischen Phänomene unternommen. Zusätzlich haben wir in Frankreich eine schlagkräftige nationale und internationale Kampagne für die Freiheit unseres Genossen Gaëtan gestartet, der zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil er an einer Demonstration teilgenommen hat. Die Verurteilung ist Teil der rechten Politik der Regierung des Präsidenten Hollande, die gerade ein skandalöses repressives Gesetz eingeführt hat, das den Geheimdiensten und der staatlichen Überwachung freie Hand lässt.

CC: Um in dieser Periode aktiv zu intervenieren und und um unsere Ideen unter Hunderttausenden und zukünftig Millionen von ArbeiterInnen und Jugendlichen zu verbreiten, haben wir das Projekt LaIzquierdaDiario begonnen und ausgeweitet. Dieses Projekt begann in Argentinien und hat jetzt seine eigenen Zeitungen in Brasilien, Chile und Mexiko. Es ist schnell zu einem Bezugspunkt geworden, der selbst die traditionellen linken Zeitungen in seiner Beliebtheit übertroffen hat. Zusätzlich beziehen wir die Gruppen aus Venezuela, Bolivien, Uruguay und dem spanischen Staat in das Projekt mit ein. LaIzquierdaDiario ist in Lateinamerika zu einem System aus sozialistischen Zeitungen und audiovisuellen Medien geworden, mit dem leidenschaftlichen Ziel ein schlagkräftiges Propagandamittel für die Verbreitung kommunistischer Ideen zu werden, im Dienste des Aufbaus von starken revolutionären Organisationen.

Zuletzt beschloss die neunte Konferenz der FT auch, weiter daran zu arbeiten, eine Bewegung für eine Internationale der sozialistischen Revolution (Vierte Internationale) aufzubauen. Dies bedeutet, die Annäherungen der Sektoren des linken Flügels der internationalen trotzkistischen Bewegung, die sich gegen den rechten Kurs ihrer Führungen wehren, voranzutreiben und sich gemeinsam mit ihnen mit den Avantgardesektoren der ArbeiterInnen und der Jugend zu verbinden, um so voranzuschreiten im Wiederaufbau der Vierten Internationalen.

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