In Zeiten von Esoterik und Verschwörungstheorien muss die Linke wissenschaftlich sein

20.03.2017, Lesezeit 10 Min.
1

Esoterik, Verschwörungstheorien, Trump – Irrationalität ist wieder auf dem Vormarsch. Die wissenschaftliche Methode stellt eine Waffe dagegen dar.

Wir leben in Zeiten, in denen immer mehr Menschen die Suche nach einer objektiven Wahrheit aufgeben und sich stattdessen auf eine eigene, eine gefühlte Wahrheit zurückziehen:

Die Erderwärmung ist fake, Zuckerkugeln machen gesund, Echsen regieren die Welt, Die Blume des Lebens energetisiert das Trinkwasser, die Erde ist flach und der Nachbar hat in der Garage die unerschöpfliche Energiequelle gebastelt.

All diese Dinge entpuppen sich bei näherer Betrachtung – aber meist schon aus weiter Ferne – als Unsinn. Und doch glauben Millionen von Menschen daran. Quer durch alle politischen Lager und gesellschaftlichen Schichten. Warum? Und ist das überhaupt besorgniserregend – oder einfach nur Privatsache? Und was hat das mit linker Politik zu tun?

Kein rationales Wesen

Die Antwort auf die Frage, warum Argumente oft hinter Gefühlen zurück bleiben, ist ein bisschen unangenehm: Der Mensch ist kein rationales Wesen. Unser gesamtes Erleben, vom sinnlichen Wahrnehmen bis zum Verarbeiten der Informationen, ist beeinflusst, von unserer frühkindlichen Prägung, dem sozialen Umfeld und unserem bestehenden Weltbild.

Menschen besitzen die Fähigkeit, Informationen nach dem Wesentlichen zu filtern. Das Gehör zum Beispiel wird in jungen Jahren auf die Muttersprache kalibriert. Mit der Folge, dass zwei verschiedene Laute aus einer fremden Sprache für eine*n selbst nicht mehr zu unterscheiden sind. Dieses Filtern, das es uns letztendlich ermöglicht zu abstrahieren, birgt auch die Gefahr, wichtige Informationen auszusortieren. Wir besitzen eine natürliche Tendenz, Informationen, die in unser bestehendes Weltbild passen, mehr Gewicht zu verleihen als anderen.

Dieses Vorgehen kann hilfreich oder hinderlich sein – aber wenn das Weltbild hauptsächlich aus Gefühlen und die Quellen aus willkürlich gewählten Internetforen bestehen, kann das zu sehr abstrusen und oft gefährlichen Schlüssen führen.

Grund zur Sorge

Damit möchte ich mich der zweiten Frage zuwenden: Ja es ist verdammt besorgniserregend! Natürlich schadet es niemandem, wenn jemand sein*ihr Wasser mit einem Sticker ‚energetisiert‘ und sich damit besser fühlt. Aber diese Art, sich völlig der gefühlten Wahrheit hinzugeben, bildet auch den Nährboden für wirklich Gefährliches: Impf-Gegner*innen, Klimawandel-Leugner*innen, Eltern, die ihren autistischen Kindern Bleichmittel einführen, und eben Trump. All diese Dinge haben reale und unangenehme bis tödliche Folgen.

„So ist die menschliche Natur nun mal. Da können wir nix machen!“ Zum Glück nicht! Der Mensch mag kein von Natur aus rationales Wesen sein, doch er hat im Laufe der Jahrhunderte Mittel und Wege gefunden, sich trotz allem ein rationales Weltbild aufzubauen. Der entscheidende Anstoß für diese Entwicklung war die Epoche der Aufklärung.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Immanuel Kant

Die Welt sollte durch die Anwendung der Vernunft, statt durch Aberglauben und Traditionen, erklärt werden. Die moderne Wissenschaft wurde geboren. Sie erkennt die unzulängliche Natur des Menschen an, aber auch, dass die Welt, in der wir leben, eine fundamental rationale ist.

Alles, was die Natur selbst anordnet, ist zu irgendeiner Absicht gut. Die ganze Natur überhaupt ist eigentlich nichts anderes, als ein Zusammenhang von Erscheinungen nach Regeln; und es gibt überall keine Regellosigkeit.

Immanuel Kant

Die Kombination von Theorie und Experiment ermöglicht es, den Regeln, die die Welt bestimmen, auf den Grund zu gehen – bei gleichzeitiger Minimierung der Gefahr, unserem Informationsbias zum Opfer zu fallen. Um Vorhersagen über die Welt treffen zu können, werden Theorien konstruiert, die einen bestimmten Aspekt der Welt mit logisch verknüpften Regeln zu erklären versuchen. In erster Instanz werden Theorien vor allem auf der Basis von Wahrnehmung und Gefühlen konstruiert werden. Solange die Theorie in sich konsistent ist und sich nicht selbst widerspricht, ist das erst mal kein Problem.

Es ist richtig, daß wir im Leben vieles auf Grund bloßer Vermutungen tun, aber es ist falsch, daß unsere Ideen bloß auf Vermutungen beruhen.

Baruch de Spinoza

Doch jetzt kommt das Entscheidende: Das Experiment. Die Vorhersagen der Theorie werden getestet. Trifft die Vorhersage nicht zu, heißt das, die Theorie ist falsch oder fehlerhaft. Trifft sie zu, heißt das, die Theorie ist zumindest gar nicht so schlecht. Sie ist jedoch dadurch nicht bewiesen, denn sobald es eine Beobachtung gibt, die mit der aktuellen Theorie nicht vereinbar ist, greift wieder der erste Fall. Eine neue Theorie muss her, die nun nicht nur die neue Beobachtung erklären muss, sondern auch die vorherigen.

Dieser Kreislauf aus Theorie und Experiment hat den heute bestehenden wissenschaftlichen Kanon hervorgebracht, das über Generationen gesammelte und immer weiter verfeinerte Wissen über die Welt. Die zu erklärenden Beobachtungen sind mit immer ausgefeilteren Mess- und Untersuchungsmethoden exponentiell gestiegen, doch so auch die Komplexität der sie erklärenden Theorien.

Ein solcher sich stets selbst verbessernde und sich an Rationalität ausrichtende Kanon der Wissenschaft sollte das fundamentale Weltbild darstellen, in denen Menschen kritisch versuchen, neue Informationen einzubetten.

Über den Haufen geworfen

Natürlich gab es in der Geschichte der Wissenschaft viele Momente, in denen der bestehende Konsens völlig über den Haufen geworfen wurde und sich damit ganz neue Türen öffneten. Doch wodurch wurde dieser Konsens ersetzt? Durch Theorien, die neue Phänomene erklären konnten und gleichzeitig alles, was davor schon erklärt war. Auch heute noch gibt es in jedem Winkel unserer Welt Dinge, für die wir keine Erklärung gefunden haben und an denen fieberhaft geforscht wird. Das ist ja der Grund, warum es immer noch Wissenschaft gibt. Aber eine solche Erklärung muss sich entweder ohne Widersprüche in den bestehenden Kanon einfügen oder eben eine neue Theorie liefern, die diese Widersprüche auflöst.

Und das ist es, was Esoteriker*innen, Verschwörungstheoretiker*innen und Pseudowissenschaftler*innen eben nicht tun. Es werden keine alternativen Erklärungsmodelle angeboten, die auch nur in sich konsistent wären, geschweige denn nicht vor Widersprüchen zu gängigen wissenschaftlichen Theorien starren würden. Es wird meist nicht mal der Versuch gemacht, die eigene Weltsicht in Einklang mit Wissenschaft zu bringen. Wichtig ist nur, dass es mit der gefühlten Wahrheit übereinstimmt, auch wenn für den Fall der Richtigkeit dieser Wahrheit  wahrscheinlich weder der Mensch, der sie fühlt, noch das Internet, in dem sie verbreitet wird existieren könnten.

Warum also sind Esoterik und Verschwörungstheorien heute immer noch so verbreitet und in der Lage – mit Beispiel Trump und seinen Breitbart-Berater*innen – einige der mächtigsten Machtpositionen in unserer Gesellschaft zu besetzten, obwohl wir doch in einer „aufgeklärten“ Gesellschaft leben sollten?

Bürgerliche Irrationalität

Das erklärte Ziel der Aufklärung war es, die Welt mit der Vernunft zu begreifen und Gesellschaften nach Prinzipien des Naturrechts und der Gleichheit zu organisieren. Unter diesem Banner der Vernunft und im Namen der Gerechtigkeit und des Fortschritts rebellierte die erstarkende Bourgeoisie gegen den in Traditionen erstarrten Feudalismus. So gebar die Epoche der Aufklärung nicht nur die moderne Wissenschaft, sondern auch den modernen bürgerlichen Staat.

Doch die bürgerliche Gesellschaft konnte ihre eigenen Versprechen nicht halten. Die konsequente Anwendung von rationalem Denken, mit dem Ziel einer Gesellschaft, die dem Wohle aller dient, musste zwangsläufig über eine kapitalistische Gesellschaft hinausweisen. Obwohl der Kapitalismus – angewiesen auf ständige Innovation – auch heute noch abhängig ist von akkurater Wissenschaft, so ist diese beschnitten auf Bereiche, die Profite versprechen oder das System selbst stützen. Wie in jeder Epoche der Geschichte werden kritische Gedanken, die das herrschende System in Frage stellen, unterdrückt.

Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.

Karl Marx

Ideale wie universelle Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit haben nur als bloße Hüllen und Phrasen überdauert. Freiheit und Demokratie werden hochgehalten und gepriesen, und gleichzeitig mit Nationalismus, Ausbeutung und chaotischer Produktion gleichgesetzt. In dieser Gesellschaft – die das Erbe der Aufklärung für sich reklamiert, aber nichts als Krisen, Kriege und Ausbeutung produziert – ist es nicht überraschend, dass sich Menschen von diesem Erbe abwenden.

Was bedeutet das alles nun für eine linke Politik? Eine Gesellschaft, die auf der Basis einer nachhaltigen Wirtschaft aufgebaut ist, welche auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist und gelenkt wird durch politische Entscheidungsfindung, die auf dem Austausch und Abwägen von Argumenten basiert, muss verlässlich nach rationalen Prinzipien funktionieren. Nur durch Wissen, gesammelt mit Hilfe der Wissenschaft, können Vorhersagen über die Auswirkungen des Handelns gemacht und damit fundierte Entscheidungen getroffen werden.

Das heißt: Das Ziel linker Politik muss eine Gesellschaft mit wissenschaftlicher Basis sein. Eine, die das Erbe der Aufklärung ernst nimmt, und konsequent bis zum Ende denkt. Wenn wir eine nachhaltigere, sozialere Gesellschaft aufbauen wollen, müssen wir allerdings nicht nur Wissen sammeln, sondern zuerst den Kapitalismus abschaffen.

Doch wie? Mit Moral? Mit guten Vibes? Mit Wahlen? Nein! Mit einer Analyse des Bestehenden und seiner Dynamik, mit einer Wissenschaft der sozialen Umbrüche. Nur wenn wir verstehen, was ist und wie es sich entwickelt, können wir Vorhersagen darüber treffen, wie es zu überwinden ist.

Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen.

Baruch de Spinoza

Diese Wissenschaft muss den gleichen Kreislauf von Theorie, Vorhersage und Praxis durchlaufen, mit der Geschichte als dem entscheidenden Experiment. Marx und Engels haben einst den Beginn des Sozialismus als Wissenschaft eingeläutet und den Weg bereitet für eine Fülle von Theoretiker*innen und Experimentator*innen.

Doch nicht nur die bürgerliche Gesellschaft führt einen Kampf gegen diese Wissenschaft – auch in der radikalen Linken verliert sie heutzutage immer mehr an Bedeutung. Theoriefeindlichkeit aber auch Verschwörungstheorien und Esoterik halten immer mehr Einzug in radikale linke Politik. Theorien wie Reformismus oder Stalinismus, die längst durch die Geschichte als unzureichend oder falsch offenbart wurden, werden immer noch vehement vertreten. Es gibt keinen wissenschaftlichen Konsens, alles scheint Interpretationssache zu sein.

Die radikale Linke steht zerbröckelt und ohne gemeinsames Konzept da. Das muss sich ändern, wenn wir das Feld nicht Trump und Co überlassen wollen. Wir müssen einen Kampf für kritische Wissenschaft an Universitäten und in der Gesellschaft führen, aber auch die eigene Praxis wieder an der wissenschaftlichen Methode orientieren. Eine sozialistische Gesellschaft, die dem Menschen ermöglicht, trotz seiner Natur rationale Entscheidungen zu treffen, lässt sich nur auf einer wissenschaftlichen Grundlage erkämpfen und aufbauen.

Mehr zum Thema