Historischer Sieg: Arbeiter:innen gründen die erste Amazon-Gewerkschaft in den USA

05.04.2022, Lesezeit 8 Min.
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Foto: @illuminator99

Vor wenigen Tagen haben die Amazon-Beschäftigten im JFK-Versandlager auf Staten Island, New York, für die Gründung einer Gewerkschaft gestimmt. Damit hat das Versandlager die erste US-amerikanische Gewerkschaft in der Geschichte des Unternehmens gegründet.

Am 1. April stimmten die Amazon-Beschäftigten des JFK8-Versandlagers auf Staten Island in New York für die Gründung einer Gewerkschaft. Damit hat das Lager die erste US-amerikanische Gewerkschaft in der Geschichte des Unternehmens gegründet. Die Amazon-Arbeiter:innen gründeten eine unabhängige Gewerkschaft, die Amazon Labor Union (ALU).

Die Bedeutung dieses Sieges kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Amazon ist der zweitgrößte Arbeitgeber in den Vereinigten Staaten und sowohl für seine brutalen Arbeitsbedingungen als auch für seine äußerst wirksamen Kampagnen zur Zerschlagung von Gewerkschaften (union-busting) bekannt. Das Unternehmen hat mehr als 4 Millionen Dollar für gewerkschaftsfeindliche Beratung ausgegeben, während es gleichzeitig immense Gewinne aus der extremen Ausbeutung seiner Belegschaft zieht. Aber heute haben die Arbeiter:innen im Versandlager Staten Island den Amazon-Koloss besiegt.

Das endgültige Abstimmungsergebnis lautet 2.645 zu 2.131.

Die Gewerkschaftsinitiative in Staten Island wurde nicht von einer der großen Gewerkschaften angeführt. Vielmehr wurde sie von ehemaligen Amazon-Beschäftigten angeführt, darunter Chris Smalls, der 2020 von Amazon entlassen wurde, nachdem er eine Arbeitsniederlegung organisiert hatte, um gegen die Bedingungen in dem Lagerhaus zu protestieren.

Left Voice sprach mit Smalls bei einer Arbeitsniederlegung bei Amazon vor zwei Jahren:

Die Amazon Labor Union ist vom National Labor Relations Board als unabhängige Gewerkschaft anerkannt. Sie war in der Lage, den Amazon-Goliath mit Geldern zu besiegen, die hauptsächlich über GoFundMe gesammelt wurden.

Amazon wandte verschiedene union-busting Taktiken an, darunter gewerkschaftsfeindliche Schilder, bezahlte union busters, obligatorische anti-Gewerkschaft-Versammlungen und die illegale Bedrohung von Beschäftigten, die versuchten, sich zu organisieren.

Eine Amazon-Angestellte aus Staten Island, Tasha Jones, sagte, dass sich die Manager:innen in den Tagen vor der Abstimmung mit den Beschäftigten trafen, um ihnen ausdrücklich zu sagen, dass sie mit Nein stimmen sollten. „Sie haben uns nicht von Anfang an gesagt, dass wir mit Nein stimmen sollen“, sagte sie. „Aber ich muss sagen, das letzte Treffen war etwas anderes.“ Dennoch wies die Mehrheit der Beschäftigten die gewerkschaftsfeindliche Propaganda von Amazon zurück und stimmte für eine gewerkschaftliche Organisierung.

Letzten Monat wurden ein Gewerkschaftsorganisator und zwei Arbeiter:innen wegen „unerlaubten Betretens“ bei Amazon verhaftet. Chris Smalls wurde wegen „Hausfriedensbruchs, Behinderung der Staatsgewalt und Widerstand gegen die Festnahme“ angeklagt. Smalls war in das Lagerhaus gegangen, um Gewerkschaftsmaterial und Lebensmittel zu liefern. Dies war eine klare Einschüchterungstaktik eines zunehmend verzweifelten Amazons.

Die Amazon-Beschäftigten gehören zu den am stärksten ausgebeuteten Arbeiter:innen des Landes, die unter langen Arbeitszeiten und Schwerstarbeit leiden. In den Worten von Francis Wallace, einem Arbeiter, der letztes Jahr von Left Voice in Bessemer, Alabama, interviewt wurde: „Es ist extrem anstrengend, das gebe ich zu. Natürlich muss man sich die ganze Zeit bücken und aufstehen. In meinem Bereich gibt es eine Leiter, da ich belade. Ich klettere die Leiter hoch und runter, bücke mich und hebe die Kisten auf. Wenn man das 10 Stunden am Stück macht und nur drei, vielleicht 15-Minuten Pausen hat, wird es wirklich anstrengend.“ Eine andere Arbeiter:in berichtete von extrem heißen Lagerhallen ohne Belüftung.

Im vergangenen Jahr sind mehrere Beschäftigte bei der Arbeit in Amazon-Lagern ums Leben gekommen. Sechs starben während eines Tornados, der im Dezember den Mittleren Westen heimsuchte, und zwei starben am Standort Bessemer. Ein Arbeiter erlitt einen Schlaganfall, nachdem ihm von der Geschäftsleitung mitgeteilt worden war, dass er die Arbeit nicht verlassen könne. Stunden später starb ein weiterer Mitarbeiter. „Es gibt keinen Stillstand. Es gibt keinen Moment der Stille. Es gibt keine Zeit, sich hinzusetzen und zu beten“, erklärte Perry Connelly. „Einige Leute, die direkt mit ihm zusammengearbeitet haben, waren schwer erschüttert und wollten nach Hause gehen, was ihnen nicht gestattet wurde.

Dieser plötzliche Sieg der Gewerkschaft stellt die Gepflogenheiten traditioneller gewerkschaftlicher Kampagnen in Frage, welche sich auf große, mit der Demokratischen Partei verbundenen Gewerkschaften, jahrelange persönliche Treffen und Arbeit im Schneckentempo stützen. Die ALU reichte bei der NLRB (National Labor Relations Board) einen Antrag ein, wobei nur 30 Prozent der Belegschaft die Gewerkschaft mit ihrer Unterschrift unterstützten, was weit unter den 80 Prozent liegt, die in der Regel für eine gewerkschaftliche Organisierungskampagne empfohlen werden.

Der Sieg der Beschäftigten in Staten Island ist Teil einer landesweiten Welle von Gewerkschaftsgründungen. Neun Starbucks-Filialen haben sich in den letzten Monaten gewerkschaftlich organisiert, und an weit über 100 Standorten wurden Gewerkschaftswahlen beantragt. Sie sind Teil einer neuen Generation von Angestellten, die wissen, dass sie eine Gewerkschaft brauchen. Die Washington Post erklärt: „Viele Anführer:innen der Bewegung sind Anfang 20; sie spielen mit dem Spitznamen ‚Generation U‘, was für ‚union‘, also Gewerkschaft, steht. Laut einer aktuellen Gallup-Umfrage ist die Zustimmung für Gewerkschaften mit 68 Prozent so hoch wie seit 1965 nicht mehr – unter Amerikaner:innen im Alter von 18 bis 34 Jahren liegt sie sogar bei 77 Prozent.“

Möglicherweise erleben wir eine Generation von Beschäftigten, die sich weigern, sich an die Regeln zu halten, welche der Neoliberalismus der Arbeiter:innenbewegung seit Jahrzehnten auferlegt hat. Es handelt sich um eine prekäre Generation, die hoch verschuldet ist und wenig zu verlieren hat. Es ist eine Generation, die hochgradig politisiert ist, den Status quo in Frage stellt und hofft, dass die Gewerkschaften ein demokratisches Instrument zur Verteidigung ihrer Interessen gegen die Bosse sein können.

Dies ist auch eine Generation, die die Black-Lives-Matter-Bewegung miterlebt und daran teilgenommen hat, und viele stellen die Verbindung zwischen dem Kampf für Black liberation und dem Kampf für die gewerkschaftliche Organisierung her – eine Verbindung, die bei den gewerkschaftlichen Organisierungsbemühungen in Bessemer deutlich wurde. Die Belegschaft von Staten Island Amazon ist überwiegend Schwarz und lateinamerikanisch, und diese Gewerkschaftskampagne wurde von Schwarzen und lateinamerikanischen Arbeiter:innen geführt. Der Arbeitskampf und der Kampf für die gewerkschaftliche Organisierung sind Teil des Afroamerikanischen Befreiungskampfes.

Staten Island ist nicht das einzige Amazon-Versandlager, in dem diese Woche Stimmen ausgezählt werden. In Bessemer, Alabama, hat die NLRB die letzte Gewerkschaftsabstimmung aufgrund der umfangreichen illegalen Gewerkschaftsunterdrückungstechniken von Amazon verworfen, einschließlich des Anbringens eines Briefkastens auf dem Amazon-Gelände, obwohl sie ausdrücklich angewiesen wurden, dies nicht zu tun. Während das Votum gegen die Gewerkschaft im letzten Jahr ein erdrutschartiger Sieg für Amazon war, ist die Abstimmung dieses Mal zu knapp ausgefallen. Das aktuelle Ergebnis lautet 993 zu 875 gegen die Gewerkschaft, und 416 Stimmzettel wurden angefochten, um in einer Anhörung überprüft zu werden.

Der heutige Sieg der Gewerkschaft steht auch im Zusammenhang mit anderen Mobilisierungen bei Amazon: Erst vor wenigen Wochen legten drei Amazon-Lagerhäuser die Arbeit nieder. Mehr als 60 Beschäftigte an zwei Lieferstationen in Queens, New York, und einer außerhalb von Washington, D.C., legten die Arbeit nieder, um eine Lohnerhöhung von 3 Dollar pro Stunde zu fordern. Dies ist die erste staatenübergreifende Arbeitsniederlegung in Amazon-Lagern in den USA.

Dieser Sieg muss im Zusammenhang mit einem Bewusstseinswandel in der Arbeiter:innenklasse infolge der Pandemie gesehen werden: Die Arbeiter:innen sind unverzichtbar, sie wissen es, und sie verdienen es, dementsprechend behandelt zu werden. Zu diesem Kontext gehört auch der weit verbreitete Hass auf Jeff Bezos und die Milliardär:innen, die von der Hyperausbeutung der Beschäftigten profitieren und deren Vermögen während der Pandemie in die Höhe geschnellt ist. Vor diesem Hintergrund haben wir auch die Great Resignation erlebt, bei der einige Menschen aus Frustration über Arbeitsbedingungen gekündigt haben. Ein weiteres Ereignis war der Striketober, bei dem es zu Streiks bei John Deere, Kellogg, der Columbia University und einer Reihe kleinerer Streiks kam. Nach dem Lehrer:innenstreik in Minneapolis, der letzte Woche zu Ende ging, streiken nun auch die Lehrkräfte in Sacramento.

Der Sieg der Arbeiter:innen von Staten Island wird sicherlich andere Amazon-Beschäftigte auf nationaler sowie internationaler Ebene inspirieren. Wie die Welle der gewerkschaftlichen Organisierung bei Starbucks zeigt, kann eine einzelne Gewerkschaft Hunderte von anderen inspirieren. Die Arbeiter:innenklasse verfügt in diesem Moment über ein enormes Potenzial.

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