Gehaltstransparenz schadet uns nicht (nur den Bossen)

27.02.2020, Lesezeit 9 Min.
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Auf Twitter wurden vor einigen Tagen Gehälter der IT-Branche offen gelegt. Nicht alle sind glücklich darüber. Warum das Unsinn ist, erklärt Anja Bethaven.

Bild: Christina @ wocintechchat.com on Unsplash

Offene Gehälter – gut oder schlecht?

Twitter-Nutzer*innen, die in der IT arbeiten, legten ihre Gehälter offen – mit Informationen über Ausbildung, Berufserfahrung, Standort, Berufsbezeichnung, Gehalt und teilweise Informationen über besondere Qualifikation oder Sub-Branchen.

Über 700 Nutzer*innen trugen sich in wenigen Tagen in eine Tabelle ein, die genaue Zahl der beteiligten ist aufgrund eines fehlenden Hashtags schwer zu schätzen. Dieser Vorstoß wird von vielen gefeiert, aber es gibt auch kritische Stimmen: Zu sehen, wie viel mehr jemand anderes verdiene, sei demoralisierend. Die teilweise extremen Unterschiede zwischen verschiedenen Standorten (zum Beispiel Kairo und London) würden schmerzhaft auf die Ungerechtigkeit in der Welt hinweisen.

Nicht eure Kolleg*innen nehmen euch Gehalt weg, sondern die Bosse!

Aber woran liegt sie, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit? Entscheiden Informatiker*innen in München, teilweise mehr als 100.000€ im Jahr zu verdienen, und tun sie dies auf Kosten der Informatiker*innen in Nigeria oder Ägypten oder Serbien? Oder bekommen Erzieher*innen mehr Geld davon, dass Informatiker*innen weniger bekommen?

Eines der Hauptargumente gegen Gehaltstransparenz ist der Neid. Und ja, das ist etwas, das man täglich mitbekommt. “Warum verdient Kolleg*in x mehr als ich, obwohl sie ein halbes Jahr nach mir angefangen hat?” usw. Frust und Neid ist verständlich in einer Gesellschaft, in der Geld so eng mit Wertschätzung verknüpft ist, und in der fast alle Arbeiter*innen materielle Sorgen haben. Doch wir sollten uns alle klar machen, wer in diesem Fall der Gegner ist. Nicht die Kolleg*in, die mehr verdient als wir, sondern die Chefs und Kapitalist*innen, die auf Kosten unserer Löhne ihren Profit maximieren.

Wenn man die Gelder anschaut, die in der IT Branche fließen, wird einem schnell klar, dass selbst Mond-Löhne, wie sie im Silicon Valley oder manchen Münchner Unternehmen gezahlt werden, ein verschwindend geringer Anteil dieses Geldes sind. Der Rest fließt auf die Konten der Firmenbesitzer*innen. Google LLC fuhr beispielsweise, laut offiziellen Zahlen, also noch nach Steuertricks und Grauzonenausnutzung, im Jahr 2017 über 11 Millarden Dollar Gewinn ein, auf knapp 250 000 Mitarbeiter*innen würden das gleichmäßig verteilt mehr als 44.000 US-Dollar mehr im Jahr für die Gehälter der Mitarbeiter*innen bedeuten.

Die IT hat es doch gut?

Ja, die IT ist eine der aktuellen Boom-Branchen. Allein in Deutschland werden über 90 Milliarden Euro pro Jahr in der IT umgesetzt, von einem durchschnittlichen Einstiegsgehalt von 47.000 € für studierte Informatiker*innen können die meisten Branchen nur träumen. Auch der Umgang mit Mitarbeiter*innen ist relativ freundlich – größere Firmen locken mit gesunden Kantinen, flexiblen Arbeitszeiten, hochwertiger Ausstattung …, um auf dem leergefischten Fachkräftemarkt die Konkurrenzfirmen auszustechen.

Allerdings ist die IT-Branche auch eine der Branchen mit der niedrigsten gewerkschaftlichen Organisierung überhaupt. Dies liegt unter anderem an einem materiell relativ guten Stand der Branche an sich, verbunden mit einer fehlenden Historie der Arbeitskämpfe, wie sie zum beispielsweise die Facharbeiter*innen der Schwerindustrie hatten und von denen sie bis heute profitieren (beispielsweise durch halbwegs durchgängige 36-Stunden-Wochen in älteren Schwerindustrie-Firmen wie BMW oder Siemens).

“Wenn es mir hier nicht passt, dann gehe ich halt woanders hin”, ist eine oft gegebene Antwort in Bezug auf Arbeitskämpfe, besonders in noch gefragteren Teilbereichen wie IT-Beratung oder IT Security. Auf die einzelne Person und den aktuellen Zustand der Branche betrachtet ist das wahr: Ein Jobwechsel bietet etwa 10-20% mehr Gehalt, etwas, das durch reguläre Gehaltsverhandlungen fast nicht zu schaffen ist, auch “Benefits”, wie Kitas, vom Arbeitgeber bezahlte Fortbildungszeit, Dienstwagen … sind inzwischen im Repertoire von Recruiter*innen üblich und werden immer öfter zugestanden.

Mit dieser Taktik steht man allerdings auf sehr wackeligen Füßen: Aktuell gibt es zwar keine Anzeichen dafür, dass der Aufwärtstrend der Branche so schnell abbricht. Im Gegenteil, die IT steckt aktuell die Probleme verwandter Branchen wie der Automobilindustrie ziemlich gut weg – wohl auch, weil es recht leicht ist, sich umzuorientieren, wenn eine Kundenbranche ins Wackeln kommt. Dennoch gibt es Probleme: Überstunden und Überarbeitung sind in der Branche an der Tagesordnung, ebenso enorme Belastungen durch viele Dienstreisen, einer extremen Verdichtung der Arbeit und häufigen Wechseln innerhalb der Branche. Hinzu kommt, dass mit der Zeit immer mehr Teilsektoren durch Automatisierung oder Outsourcing ersetzt werden können. Und auch schon heute sind einige Teilsektoren wie Systemadministration oder Betriebsdienstleister, zumindest im Vergleich zum Rest der Branche, recht prekär. Dass der IT-Sektor wirklich prekär wird, liegt wohl noch in weiter Ferne, doch selbst kleineren Verschlechterungen haben die Facharbeiter*innen dieser Branche nichts entgegen zu setzen. “Dann wechsel ich halt” funktioniert nur, so lange das Problem sich auf einzelne Firmen beschränkt und nicht auf den kompletten Sektor.

Und dann stehen wir da, in einer Branche, die sich individualisiert hat, in der ohne Strukturen für Arbeitskämpfe jede*r auf sich selbst gestellt ist und uns nichts anderes übrig bleibt, als die Verschlechterungen einfach hinzunehmen.

Es wird also höchste Zeit, dass die IT-Branche, wenn auch verspätet, aus ihrer rosa Welt der Fortschritts und unbegrenzten Wachstums aufwacht, sich ihrer Situation bewusst wird, sich gewerkschaftlich organisiert und beginnt, ihre Arbeitnehmer*innenrechte einzufordern und zu erkämpfen.

Nicht nur die Löhne, sondern die Geschäftsbücher offen legen!

Dabei ist die Forderung nach Gehaltstransparenz sogar noch eine recht milde, mit recht milden Folgen für die Bosse. Viel mächtiger wäre eine Offenlegung der kompletten Geschäftsbücher, also nicht nur der Löhne, sondern auch Investitionen, laufende Kosten, Mieten, … und letztendlich der abgeschöpfte Mehrwert, den die Firma generiert – und zwar nicht nur für einzelne Firmen, sondern für den ganzen Sektor. Leo Trotzki schreibt dazu in seinem berühmten Übergangsprogramm:

Hier (bei den “geschäftlichen Geheimnissen”, A.d.A.) herrscht der Grundsatz der „Nichteinmischung“. Die Rechnungslegung zwischen dem einzelnen Kapitalisten und der Gesellschaft bleibt das Geheimnis des Kapitalisten: die Gesellschaft geht das nichts an. Das Geschäftsgeheimnis wird noch heute mit den Erfordernissen der „Konkurrenz“ gerechtfertigt – (…) Die Pläne zur Beschränkung des Absolutismus der „Unternehmer von Gottes Gnaden“ bleiben klägliche Farcen, solange die Privateigentümer der gesellschaftlichen Produktionsmittel den Erzeugern und Verbrauchern die Mechanismen der Ausbeutung, der Plünderung und des Betrugs verbergen können. Die Aufhebung des „Geschäftsgeheimnisses“ ist der erste Schritt zu einer wirklichen Kontrolle über die Industrie.
Die Arbeiter sind nicht weniger berechtigt als die Kapitalisten, die „Geheimnisse“ des Betriebs (…) zu kennen. (…)
Die ersten Aufgaben der Arbeiterkontrolle bestehen darin, das Einkommen und den Kostenaufwand der Gesellschaft aufzuhellen, angefangen beim einzelnen Unternehmer; den wirklichen Anteil des Einzelkapitalisten und aller Ausbeuter in ihrer Gesamtheit am Nationaleinkommen zu bestimmen; die Kulissenschiebereien und den Schwindel der Banken und Trusts bloßzustellen und schließlich, vor den Augen der Gesellschaft, die gewissenlose Vergeudung menschlicher Arbeitskraft zu enthüllen, die das Ergebnis kapitalistischer Anarchie und Profitjagd ist.

Diese Forderung ist auch heute noch sinnvoll: Viele Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeiter*innen werden mit der “Wirtschaftlichkeit des Unternehmens” begründet. Doch was bedeutet das? Einen Profitverlust von 1%? 5%? 20%? Tatsächliche rote Zahlen?

Wir wissen es nicht, denn wir kennen die Zahlen nicht. Überhaupt werden Geschäftsbücher wenn überhaupt bei maroden Unternehmen offen gelegt, um Entlassungen zu rechtfertigen. Für gut laufende Unternehmen sind die realen, nicht manipulierten Zahlen nicht bekannt. Niemand von uns weiß, wie viel Geld durch unsere Arbeitskraft tatsächlich in die Taschen der Kapitalist*innen fließen.

Was nun?

Die Losung “Gleicher Lohn für gleiche Arbeit” ist ungefähr so alt wie die ersten Frauen- und Arbeiter*innenbewegungen und auch seitdem wiederkehrendes Thema und wiederkehrende Forderung. Diese Losung lässt sich anwenden auf Geschlechterunterschiede, Lohnungleichheiten durch verschiedene Standorte (gerne mal als “Nearshoring” für nähere Standorte wie in Rumänien oder Serbien, oder “Offshoring” für fernere Standorte wie Indien oder Bangladesh bezeichnet), Lohnungleichheit für Praktikant*innen, Migrant*innen, outgesourcte Mitarbeiter*innen … Diese Liste lässt sich fast beliebig weiter führen.

Es werden zwar hin und wieder Zugeständnisse in Form von Reformen gemacht (zum Beispiel in Form des Entgelttransparenzgesetzes, das 2017 in Kraft trat und gegen die Ungleichbezahlung von Männern und Frauen helfen sollte), doch gelöst wurde das Problem in über 200 Jahren Kapitalismus nicht.

Jeder Euro, den wir mehr verdienen, ist ein Euro weniger in der Tasche der Kapitalist*innen. Lasst uns also unsere Lohnkämpfe führen. Lasst uns ein Vorbild nehmen an den “älteren” Branchen, uns gewerkschaftlich organisieren, lasst uns Betriebsräte gründen, über Streiks diskutieren. Solidarisch und ohne uns durch falsche Kompromisse der Gewerkschaftsbürokratie ausbremsen zu lassen.

Lasst uns die Frage nach der Lohnungleichheit politisch stellen, denn nur so können wir diese Ungerechtigkeit beenden.

Gewerkschaftliche Organisierung


ITler*innen werden in erster Linie durch zwei Gewerkschaften organisiert: ver.di und die IG Metall:

https://tk-it.verdi.de/ueber-uns/

http://www.itk-igmetall.de/

Eine Wahl sollte man abhängig machen von bereits bestehenden Strukturen (Siemens verhandelt z.B. nur mit der IG Metall), sowie einer möglichen schon vorhandenen Organisierung von Kolleg*innen.

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Über die Welle an Schließungen und Entlassungen in der bayerischen Industrie:

Osram, Conti, Michelin, Fujitsu, BMW: Wir brauchen ein Notfallprogramm gegen Schließungen und Entlassungen!

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