Friedensnobelpreis für die Beschlagnahmung der tunesischen Revolution

16.10.2015, Lesezeit 7 Min.
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// Als erneutes Zeichen des Zynismus verlieh das Nobelpreiskomitee in Oslo den Friedensnobelpreis an das tunesische Quartett für den nationalen Dialog für seinen „entscheidenden Beitrag zur Schaffung einer pluralen Demokratie“, also mit den alten Vertreter*innen der Diktatur von Ben Ali. //

Das Quartett für den nationalen Dialog besteht aus der Allgemeinen Union der Arbeit (UGTT), historische Gewerkschaft und Symbol der Unabhängigkeit; dem Bund der Industrie, des Handels und des Handwerks (UTICA); der Tunesischen Menschenrechtsliga (LTDH) und der Anwaltskammer. Das Quartett und besondere die UGTT spielten die zentrale Rolle bei der Umlenkung des revolutionären Prozesses in Tunesien hin zu einer „demokratischen Konterrevolution“. Das bedeutet, dass es jetzt zwar ein Regime mit demokratischer Fassade gibt, die Kontinuität zur tunesischen Diktatur jedoch in Form des politischen Personals (wie im Falle des aktuellen Präsidenten, einem ehemaligen Minister von Ben Ali) und der wirtschaftlichen Interessen sowie der Unterwerfung unter den Imperialismus weiterhin besteht.

Die Beschlagnahmung der Revolution

Tunesien war die Wiege des „Arabischen Frühlings“ und gemeinsam mit Ägypten das Land in dem die Arbeiter*innenklasse mehr oder weniger stark organisiert intervenierte.

Nach dem Sturz von Ben Ali im Januar 2011 öffnete sich eine Etappe großer politischer Instabilität, Protesten und Streiks, die auch der Übergangsregierung – bestehend aus Figuren des alten Regimes – ein Ende setzten. Im Oktober desselben Jahres fanden die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung statt, die eine politisch stark fragmentierte Landschaft aufzeigten. Die islamistische Partei, Ennahda, hatte einen relativen Vorsprung und konnte gemeinsam mit drei mehrheitlich laizistischen Parteien eine provisorische Regierung bilden. Doch die Situation blieb weiterhin sehr instabil, während einerseits die Polarisierung zwischen den laizistischen und den islamistischen Parteien zunahm und sich andererseits die Lebensbedingungen der breiten Volksmassen kontinuierlich verschlechterten.

Im Februar 2013 wurde der linke Arbeiter*innenanführer Chokri Belaid ermordet. Diese politische Straftat löste eine Protestwelle aus, die einen Generalstreik beinhaltete, und beschleunigte die Konfrontation zwischen den laizistischen und islamistischen Sektoren.

Im Juli desselben Jahres erschütterte ein weiterer Mord das Land und polarisierte die Konfrontationen weiter zu. Es handelte sich um den alten Anführer der oppositionellen Partei Volksbewegung, Mohamed Brahmi. Dieser wurde in Sidi Bouzid – dem Ursprung der Revolution, die das Regime von Ben Ali stürzte im Januar 2011 stürzte und den arabischen Frühling startete – als Abgeordneter gewählt.

Sofort strömten hunderttausende Menschen im Zentrum der Hauptstadt Tunis auf die Straße, wie sie es schon zu Beginn des Jahres taten, und riefen „Das Volk will den Sturz der Regierung“ und „Heute soll Ennahda fallen“. Gleichzeitig fand eine Gegendemonstration von einigen tausend Regierungstreuen statt, die durch die Sicherheitskräfte beschützt auf der zentralen Burguiba-Straße protestierten. Ein weiterer Generalstreik legte große Teile des Landes lahm.

In diesem nationalen Rahmen und in einem durch den Staatsstreich in Ägypten im Juli 2013 regional stark angespannten Kontext stießen die schon im Februar 2012 begonnene Kampagne der UGTT für einen nationalen Dialog auf Widerhall. Mit ihrer lokalen und internationalen Legitimität konnte die Gewerkschaft mit ihrer Idee für eine Front das Quartett für den nationalen Dialog gründen.

Das Schicksal der ägyptischen Amtskollegen der Muslimbruderschaft und ihrem Präsidenten Mursi in Sichtweite, die zu hunderten durch den Staatsstreich von General Al-Sissi ermordet und ins Gefängnis gesteckt wurden, traten die Islamist*innen von ihrer Macht zurück und ermöglichten somit einen politischen Ausweg. Die neue Verfassung wurde erst 2014 beschlossen. Bei den Wahlen im Oktober desselben Jahres gewann eine bürgerliche laizistische Partei und entmachtete Ennahda. Zu Beginn diesen Jahres wurde eine Koalitionsregierung zwischen laizistischen und moderat islamistischen Parteien gebildet, die von einem ehemaligen Funktionär des gestürzten Ben Ali angeführt wird.

Auf diese Art und Weise wurde die „nationale Wiederversöhnung“ der UGTT zu einem Konsens, „welcher der alten Elite der RCD [der Partei von Ben Ali] und der neuen islamistischen Elite nach den Wahlen einen politischen Kompromiss ermöglichte. Die Kontinuität dieses Prozesses drückt sich auch in der aktuellen Aufteilung der Macht zwischen Ennahda und dem alten Regime aus, die sich auf Kosten der sozialen und wirtschaftlichen Probleme entwickelt, die am Beginn der Revolution standen“. Eine Beschlagnahmung des revolutionären Prozesses.

Die neuen Autoritäten und Freiheitsbekämpfer

Doch diese Umlenkung ist nur der Beginn eines autoritären oder bonapartistischen Kurses des Regimes. Es nutzte die Welle terroristischer Attentate, die auf seinem Gebiet stattfanden, aus, um die geringsten demokratischen Rechte anzugreifen, die sie nach dem Fall von Ben Ali an die Massen zugestehen musste. Gleichzeitig antwortet sie damit auch repressiv auf die erneut auftretende soziale Unruhe, die von Zeit zu Zeit und mit deutlichen Höhepunkten das Land erschüttert.

Im Juli beschloss das tunesische Parlament das neue Anti-Terrorismus-Gesetz, das unter anderen Maßnahmen die Todesstrafe für Terror-Delikte und Haftstrafen für Unterstützung des Terrorismus vorsieht. Gleichzeitig ermöglicht das Gesetz den Sicherheitskräften die Festnahme von Verdächtigen über bis zu 15 Tage ohne das dieser Zugang zu einem Anwalt hat oder vor Gericht gestellt werden muss. Außerdem wird das Abhören der Telefone untersuchter Personen erleichtert. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen haben einige der Maßnahmen als „drakonisch“ bezeichnet und die „vage“ Definition von Terrorismus kritisiert, weshalb sie davor warnten, dass es zu Einschnitten in die demokratischen Rechte kommen könne.

Kürzlich erließ das Parlament ein Gesetz zur Wiederversöhnung, das Gerichtsuntersuchungen gegen Spitzen der Diktatur fallen lässt, die während der Übergangszeit begonnen wurden und ermöglicht die Amnestie für alle korrupten Staatsbeamt*innen und Unternehmer*innen des Ben-Ali-Regimes unter dem Vorwand, dass diese Maßnahmen neue Investitionen ermöglichten.

Der Präsident der Republik griff im Fernsehen seinen Justizminister an, der für die Legalisierung der Homosexualität eintrat und wurde dafür von Rached Guannouchi, dem Gründer von Ennahda, unterstützt. Ein Symbol, das für sich selbst spricht.

Dieser Prozess der „demokratischen Konterrevolution“ bringt die geringen demokratischen Errungenschaften in Gefahr und baut die wirtschaftliche Situation der imperialistischen Unterwerfung wieder auf, die das Tunesien der letzten Jahrzehnte unter Ben Ali prägte und struktureller Auslöser des Massenaufstandes von 2011 war. Die Wiederbelebung der Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, die Tunis erneut in eine Halbkolonie mit doppelten Ketten verwandeln und jeden Anschein nationaler Souveränität vernichten soll, ist sein Schlussstück.

All diese Machenschaften, und zuvorderst die besondere Klassenkollaboration der UGTT-Führung, belohnt das Nobelpreiskomitee. Doch die Entscheidung dieser Institution verwundert nicht wirklich, da sie damit nur ihren eigenen reaktionären Fußstapfen folgt: So vergab sie den Friedensnobelpreis 1993 an Nelson Mandela und Frederik Willem de Klerk für ihren Beitrag, das Apartheids-Regime unter einer anderen Fassade zu retten und die schwarze Revolution der 1980er-Jahre zu beschlagnahmen. Oder im darauffolgenden Jahr an Yasir Arafat und die zionistischen Anführer Isaac Rabin und Shimon Peres nach den Gesprächen in Madrid, nach denen der palästinensische Anführer den terroristischen Staat Israels und die utopische Zwei-Staaten-Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt anerkannte.

Die Originalversion des Artikels erschien auf La Izquierda Diario.

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