Frankreich: Regierung schürt Islamophobie mit Kampagne gegen „Islam-Linksextremismus“

23.10.2020, Lesezeit 7 Min.
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Die Islamophobie in Frankreich nicht zu sehen, ist, sich das Gesicht zu verschleiern. Foto: O Phil des Contrastes

Seit der grausamen Ermordung von Samuel Paty am vergangenen Freitag in Conflans versucht die Regierung, die nationale Einheit zu neuem Leben zu erwecken. Doch hinter den Aufrufen zum Kampf für die Meinungsfreiheit ist eine wirklich reaktionäre und islamfeindliche Offensive gestartet worden. Achtung, wie der Bildungsminister Blanquer gestern morgen angedeutet hat: Islamophobie anzuprangern sei mehr oder weniger, sich in das Lager der linken Islamisten zu stellen, die zu intellektuellen Komplizen des Terrorismus geworden sind.

Der grausame Mord an Samuel Paty, einem Geschichtslehrer am Gymnasium Conflans Saint Honorine, hat große Emotionen ausgelöst. Lehrerinnen und Lehrer hat dieses Ereignis stark getroffen und die Isolation und Erschöpfung, die sie seit mehreren Jahren kritisieren, widerhallen lassen. In der Bevölkerung unterstützten Schock und Erstaunen den Aufruf der Regierung zur nationalen Einheit. So bekräftigte Emmanuel Macron am Mittwochabend die Bedeutung der „Einheit“ angesichts derer, „die den Hass auf den anderen pflegen“ und „Islamisten, die unsere Zukunft wollen“. Der Präsident hielt an der Sorbonne eine ideologische Rede, in der er mit Zitaten von Jaurès, Victor Hugo oder Louis Pasteur daran erinnerte, dass „in Frankreich […] die Aufklärung nie ausgelöscht wird“.

Kurz gesagt, Macron spielte in Übereinstimmung mit der rechten Linie seiner Regierung mit der Rhetorik der nationalen Einheit, indem er das Lager der Freiheit und der Aufklärung gegen das des Obskurantismus und der Gewalt ausspielte. Das Ziel: die Reihen zu schließen, um seine verlorene Legitimität zurückzugewinnen, aber auch gleich darauf, seine reaktionäre Politik umzusetzen. Tatsächlich begann diese Woche auch die Offensive des Innenministers Darmanin gegen die CCIF, eine Vereinigung, die gegen Islamophobie kämpft, oder Baraka City, eine NGO, die prekären Muslimen hilft. Neben dem Wunsch, diese Vereinigungen aufzulösen, zeichnete sich der Innenminister auch durch seine Äußerungen im Nachrichtensender BFMTV aus, in denen er insbesondere erklärte: „Es hat mich immer schockiert, in einen Supermarkt zu gehen und zu sehen, dass es eine Abteilung kommunitaristischer Küche gibt, so fängt es an, der Kommunitarismus“. Hiermit will Darmanin die Halal- und Koscher-Abteilungen kritisieren.

Tatsächlich greift die Regierung hinter dem einheitlichen Schleier der Meinungsfreiheit im Einklang mit ihrem Separatismusgesetz eindeutig die muslimische Gemeinschaft an. Es ist dieses Gesetz, das es insbesondere erlaubt, die Vereinigungen zu „rahmen“ und somit jede Vereinigung aufzulösen, die nicht den Werten „Republik“ im Sinne der Regierung entsprechen würde. Die Regierung nutzt daher den Tod von Samuel Paty, um ihr reaktionäres Projekt umzusetzen und die Diskriminierung von Muslimen zu verstärken. Aber es sind auch die Verteidiger einer anderen Vision, die von dieser Rechtskurve angegriffen werden. Von nun an bedeutet die Verteidigung von Muslimen oder die Anprangerung von Islamophobie, sich selbst zu kompromittieren und mit Islamisten zusammenzuarbeiten.

Angriffe gegen den „Islam-Linksextremismus“: Die Regierung nutzt das Drama in Conflans, um ihre Gegner zu verurteilen

„Wir müssen sehr aufmerksam sein… gegenüber der intellektuellen Komplizenschaft des Terrorismus. Unsere Gesellschaft war viel zu durchlässig für bestimmte Denkströmungen“, erklärte Jean Michel Blanquer am Mittwoch morgen auf Europe 1, einem französischem Radiosender, um eine Verbindung zwischen der Politik der UNEF[1] oder France Insoumise und terroristischen Anschlägen herzustellen. „Was wir Islam-Linksextremismus nennen, richtet Verwüstungen an. Es richtet Verwüstung an der Universität an, es richtet Verwüstung an, wenn die UNEF dieser Art von Dingen nachgibt, es richtet Verwüstung an, wenn man in den Reihen von France Insoumise Leute hat, die dieser Strömung angehören und sich als solche zeigen. Diese Leute fördern eine Ideologie, die dann bei weitem zum Schlimmsten führt“, fügte der Minister für Nationale Bildung hinzu.

Eine skandalöse Äußerung, die sich gegen Jugendorganisationen wie die UNEF richtet, in Übereinstimmung mit den Angriffen, die zum Beispiel gegen Maryam Pougetoux, eine Studierendengewerkschaftlerin, die beschuldigt wurde, missionarisch tätig zu sein, weil sie verschleiert in die Nationalversammlung gekommen war. Der Minister stellt das Recht in Frage, der rassistischen und islamfeindlichen Politik der Regierung zu widersprechen und gegen Diskriminierung zu kämpfen. Aber es ist auch das Recht, an den Universitäten in Linken Organisationen organisiert zu sein, das zunehmend eingeschränkt wird.

Andererseits ist auch France Insoumise, die sich dennoch hinter die nationale Einheit gestellt hat, unter Beschuss. Hinter dem Oberbegriff „Islam-Linksextremist“ verbirgt sich der Vorwurf der Rechten auf eine Komplizenschaft mit dem Terrorismus. Im Namen des Kampfes für Meinungsfreiheit und gegen den Islamismus versucht die Regierung daher, abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen und die Debatte zu beenden. Aurore Bergé, stellvertretende Vorsitzende der LREM[2]-Abgeordneten, lehnte es ab, an der Samuel-Paty-Tribute-Kundgebung teilzunehmen, weil sie nicht „an der Seite von Menschen stehen wollen würde, die ein für diese Ideologien günstiges Klima geschaffen haben oder jedenfalls nicht mehr gegen sie kämpfen“. Auf der Anklagebank: Danielle Obono, die bereits im Visier der extremen Rechten und ihrer rassistischen Karikaturen steht. Die Regierung reitet und verstärkt die reaktionäre Welle und ihre Politik der Spaltung erzeugt immer mehr Gewalt.

So war es Rokhaya Dialo, die Mittwoch morgen von Pascal Bruckner, einem für seine reaktionären und anti-feministischen Positionen bekannten Intellektuellen, angegriffen wurde. In seinen erniedrigenden Worten: „Ihr Status als Frau, muslimisch und schwarz, macht Sie privilegiert. Es erlaubt Ihnen, eine Reihe von Dingen zu sagen. Wenn ich sie gesagt hätte, dann denke ich insbesondere an das, was Sie über Charlie Hebdo gesagt haben, bei dem unter anderem 12 Menschen ums Leben gekommen sind …. ». Eine verleumderische Rhetorik, die typisch für das extremistische, trojanische Pferd der extremen Rechten ist, um antirassistische Aktivisten zum Schweigen zu zwingen. Aber es waren auch UNEF-Aktivist:innen, die als „Kollaborateure“ bezeichnet und gebeten wurden, bei der Tribute-Kundgebung in Paris zu gehen.

Rhetorik des inneren Feindes: Kampf gegen eine Regierung, die die Spaltung aufrechterhält

Die Welle des Hasses, die wir sehen, ist das Ergebnis der Politik der Regierung, die Spaltung aufrechtzuerhalten. Eine sich zunehmend verschärfende soziale Polarisierung, die ein Nährboden für Gewalt ist, wie der rassistische Angriff auf zwei verschleierte Frauen in der Nähe des Eiffelturms zeigt. Diese Aggression zeigt die Folgen des Klimas, das durch den von der Regierung eingeleiteten Krieg entstanden ist. Die Regierung prangert nicht nur den so genannten „Islam-Linkisextremismus“ linker Organisationen und Persönlichkeiten an, sondern greift sogar die Presse an, wie zum Beispiel Médiapart, gegen den Darmanin Beschwerde eingereicht hat.

In der Tat weiß die Regierung sehr wohl, dass ihre Politik Konsequenzen in einem anderen Bereich, nämlich dem des sozialen Kampfes, haben kann und dass sie um jeden Preis verhindern muss, dass sich kritische Stimmen äußern. Vor allem solche, die den Zorn von Arbeiter:innenvierteln zum Ausdruck bringen könnten, wie im Fall des Adama-Komitees, dem es gelungen war, eine große Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt ins Leben zu rufen. Heute, in einer Situation, in der Muslime und Jugendliche in Arbeitervierteln zunehmend stigmatisiert werden, ist es der soziale Zorn dieses prekären Sektors, der die Ungleichheiten unseres Systems frontal erleidet, der in einer höchst brisanten Situation als Funke wirken könnte.

Heute, weit davon entfernt in die Falle der nationalen Einheit und des umgebenden Rassismus zu tappen, müssen sich linke Organisationen und die Arbeiter:innenbewegung auf die Seite der Unterdrückten und nicht auf die der Regierung stellen. Gegen jeden Versuch der politischen Rehabilitierung der Regierung, der mit Angriffen auf unsere Organisationen und das Recht, Islamophobie und reaktionäre Maßnahmen zu bekämpfen, einhergehen könnte.

[1] Die Union nationale des étudiants de France (UNEF) ist der größte und älteste Studierendenverband in Frankreich.

[2] La République en Marche! ist die Partei, die Emmanuel Macron gegründet hat.

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