Frankreich: Zwei Millionen Menschen demonstrieren gegen Rentenreform

19.01.2023, Lesezeit 5 Min.
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Bild: Révolution Permanente.

Mit landesweiten Streiks, Versammlungen und Demonstrationen beginnt der Kampf gegen die geplante Erhöhung des Rentenalters. Der erste mächtige Tag zeugt von einer tiefen Wut gegen die Regierung und ihre Reform.

So etwas hatte es seit den Gelbwesten und dem Kampf gegen die Rentenreform 2019 nicht mehr gegeben. Am Mittag ist das Bild des ersten branchenübergreifenden Protests gegen die Rentenreform eindeutig: Es ist ein riesiger Erfolg. Während verschiedene Branchen, insbesondere strategische Sektoren, erfolgreich bestreikt werden, brechen die Demonstrationen in einer Vielzahl von Städten alle Rekorde.

Präsident Emmanuel Macron hat angekündigt, dass das jüngst mögliche Rentenalter von 62 Jahren auf 64 Jahre abgehoben werden soll. Viele, die mit 62 in Rente gehen, kriegen aber nicht die volle Rente, weil sie nicht lange genug in die Rentenkasse eingezahlt haben. Erst mit 67 kann man sicher sein, die volle gesetzliche Mindestrente zu erhalten, die auf 1.200 Euro im Monat erhöht werden.

Während die große Pariser Demonstration ihren Lauf nimmt, ist die erste Bilanz für den 19. Januar eindeutig: Es ist eine Protestwelle gegen die Rentenreform, die seit heute Morgen über das Land hereinbricht. Über 400.000 Demonstrant:innen in Paris, 140.000 in Marseille, 50.000 in Toulouse, 30.000 in Le Havre, 38.000 in Lyon, 10.000 in Montpellier, aber auch 20.000 in Nizza, 20.000 in Perpignan oder 10.000 in Tarbes – überall waren die Demonstrationen gut besucht.

Eine sehr massive Mobilisierung, die vor allem in den mittelgroßen Städten die Mobilisierung vom 5. Dezember 2019 übertrifft, als der letzte Kampf gegen die Erhöhung des Rentenalters geführt wurde. Und das trotz einer völlig anderen Konstellation: Vor drei Jahren war das Datum des 5. Dezembers tatsächlich fast zwei Monate im Voraus festgelegt worden. Diesmal lagen nur 9 Tage zwischen der Ankündigung des branchenübergreifenden Termins und der Mobilisierung in mehr als 200 Städten an diesem Donnerstag. Eine Dynamik, die die tiefe Wut gegen die Rentenreform widerspiegelt.

Wichtige Zahlen, die sich auch in der Streikbeteiligung wiederfinden lassen. Diese bewegt sich wieder auf einem Niveau, das mit den sehr wichtigen Mobilisierungen der letzten Jahre vergleichbar ist. So gab das Management des Energiekonzerns EDF die Zahl von 44,5 Prozent Streikenden gegenüber 36,5 Prozent am 5. Dezember 2019 bekannt und bestätigte damit die Rolle der Elektriker:innen als Speerspitze, die sie in den bevorstehenden Kämpfen spielen könnten.

In anderen Bastionen wie dem Transportunternehmen SNCF streikten am Donnerstag 80 Prozent des Fahrpersonals, 50 Prozent der Kontrolleur:innen, 42 Prozent der Weichensteller:innen und 47 Prozent der Stationsleiter:innen. Dies führte zu einer erheblichen Lähmung des Verkehrs, wie die Zeitschrift L’Obs feststellte:

Im Durchschnitt verkehrt am Donnerstag nur eine von zehn Regionalbahnen, kündigte die Bahngesellschaft an. Bei den TGVs (Hochgeschwindigkeitszügen, Anm. d. Ü.) ist die Situation chaotisch, kaum einer von fünf Zügen fährt auf der Atlantikachse, einer von vier in den Osten, einer von drei in den Norden und Südosten, einer von drei für die TGV OuiGo. Fast kein Verkehr ist für Intercity-Züge möglich.

Bei der RATP (Pariser Verkehrsbetrieben, Anm. d. Ü.) ist die Mobilisierung ebenfalls stark und legt zahlreiche Metrolinien lahm. Das Unternehmen behauptet zwar, dass nur drei Linien geschlossen wurden und zehn weitere nur zu Stoßzeiten in Betrieb waren, doch diese Zahlen verschleiern die massive Schließung von U-Bahn-Stationen und die Aufrechterhaltung eines Dienstes, der nur durch die Mobilisierung von Reservist:innen ermöglicht wurde. Bei den Bussen ist die Mobilisierung geringer, da zwei von drei Bussen in Paris fahren.

Auch die Lehrer:innen waren dem Aufruf stark gefolgt. So sprach die Gewerkschaft SNES im Sekundarbereich von „65 Prozent Streikenden in den Collèges, Lycées und CIOs (weiterführenden Schulen und Volkshochschulen, Anm. d. Ü.)“ mit „Spitzenwerten von über 80 Prozent in einigen Einrichtungen“ und „Bildungseinrichtungen [die] in mehreren Fällensogar geschlossen sind.“ Im Grundschulbereich meldete die Gewerkschaft Snuipp 70 Prozent Streikende.

Auf der privaten Seite haben sich einige Bastionen Gehör verschafft, allen voran die Raffineriearbeiter:innen. Sie zeigten nach Arbeitskampfmaßnahmen in der vergangenen Woche erneut ihre Stärke: In Donges streikten 100 Prozent der unbefristet Beschäftigten, in Normandie 80 Prozent der Schichtarbeiter:innen und in Feyzin waren es 71 Prozent. Sehr hohe Mobilisierungsquoten, die auch in der Petrochemie und in den Öldepots zu finden sind.

Auch wenn es zum jetzigen Zeitpunkt noch schwierig ist, sich einen Überblick über die Zahlen im gesamten Privatsektor zu verschaffen, ist klar, dass viele dieser Beschäftigten die Reihen der Demonstrant:innen vergrößert haben. Im Bereich der Luft- und Raumfahrt war der Streik beispielsweise in Gimont bei Latécoère mit 40 bis 50 Prozent Streikenden unter den 200 Beschäftigten sehr gut besucht. Bei Airbus folgten mehrere Tausend Beschäftigte der dreistündigen Arbeitsniederlegung, zu der die “Intersyndicale”, das Bündnis der wichtigsten Gewerkschaftsverbände, aufgerufen hatte. Im Norden des Landes berichtete die Regionalzeitung La Voix du Nord ihrerseits: „Im Automobilwerk Stellantis Hordain (ehemals PSA-Sevelnord) hatten in der Nachtschicht rund 100 Beschäftigte die Arbeit niedergelegt, am Morgen waren es 200. Auf der Seite von Douai streikten auch Beschäftigte von Kiabi Lauwin-Planque, ebenso wie die von Amazon.“

Während die Pariser Behörden eine zusätzliche Route bereitstellen musste, damit der Demonstrationszug vorankommt, stand eine Sache am Nachmittag fest: Der erste mächtige Tag zeugt von einer tiefen Wut gegen die Regierung und ihre Reform. Eine Wut, die einen Plan brauchen wird, um sich zu organisieren und zu verstärken, während an diesem Donnerstag die Frage nach dem „danach“ in vielen Köpfen blieb.

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