Frankreich: Frauen an der Spitze der Gelbwesten-Revolte

09.01.2019, Lesezeit 15 Min.
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Im Dienstleistungsbereich arbeiten immer mehr Frauen, insbesondere in der Pflege, Reinigung, Bildung und anderer Sorgearbeit. Die Krise des neoliberalen Kapitalismus seit 2008 hat alle diese arbeitenden Frauen und ihre Familien in eine beispiellose Prekarität gestürzt. Sie sind es, die heute rebellieren und für eine bessere Zukunft für sich selbst, ihre Kinder und ihre Familien kämpfen. Was sagt das über die Tiefe des Protests der Gelbwesten aus? Wie ist es dazu gekommen?

Die prekären Frauen, die rebellieren…

Viele Analyst*innen haben die bemerkenswerte Präsenz von Frauen und die entscheidende Rolle, die sie bei der anhaltenden Revolte im Land spielen, hervorgehoben. Mit ihren gelben Westen stehen sie bei Demonstrationen oft an vorderster Front, sind bei den Protesten an Kreisverkehren und Blockaden ständig anwesend und zum Kampf für eine bessere Zukunft entschlossen.

Die meisten dieser Frauen arbeiten in kleinen und mittleren Unternehmen, sind im Dienstleistungssektor tätig. Viele von ihnen arbeiten in den Bereichen Gesundheit, Verkehr, Bildung und Sozialwesen. Putzfrauen, Haushaltshilfen, Erzieherinnen, Betreuerinnen, Pflegekräfte in Altersheimen oder Krankenhäusern – sie alle arbeiten für Gehälter, von denen sie nicht leben können.

Diese Frauen sind sehr oft alleinerziehende Mütter, die eine (oder mehrere) prekäre Arbeitsstelle(n), in Teilzeit oder Befristung und manchmal mit gestaffelten Arbeitszeiten, mit unbezahlter Hausarbeit und Kinderbetreuung kombinieren. Sie rebellieren heute, weil sie es leid sind, jonglieren zu müssen, um den Monat zu überstehen; weil sie es satthaben, entscheiden zu müssen, ob sie lieber genügend zu essen haben oder gut auf sich achtgeben. In Frankreich sind alleinerziehende Frauen besonders von der Prekarität betroffen: Unter den Erwerbstätigen lebt fast ein Viertel unterhalb der Armutsgrenze, das sind eine Million Frauen. Sie wissen genau, was sie mit 10 Euro mehr oder weniger im Budget kaufen können, weil sie so eng kalkulieren müssen. Sie lehnen sich nicht nur für sich selbst auf, sondern auch für die Zukunft ihrer Kinder. Immer jonglieren, sich nie beschweren…. Heute treten sie aus der Stille. Es ist Zeit, nach oben zu schauen. Als erste Reihe der Prekarität stehen sie daher auch in der ersten Reihe des Kampfes gegen Macron und seine Welt.

Frauen und die soziale Reproduktion

Diese Berufe, die oft schlecht bezahlt und unterbewertet sind, sind jedoch in der Gesellschaft unerlässlich und werden überwiegend von Frauen ausgeübt.

Pierre Rimbert erklärt in seinem kürzlich in Le Monde Diplomatique veröffentlichten Artikel „Die ungeahnte Macht der Arbeiterinnen“, dass heute „in Frankreich die Arbeiterinnen 51% der gesamten Arbeitskraft ausmachen; 1968 betrug der Anteil 35%.“ Dann fügt er hinzu, dass „fast alle in den letzten fünfzig Jahren eingestellten Arbeitskräfte weiblich sind – unter prekäreren Bedingungen und für ein um ein Viertel niedrigeres Gehalt. Allein die weiblichen Beschäftigten in den Bereichen Medizin, Soziales und Bildung haben ihre Zahl vervierfacht: von 500.000 auf 2 Millionen zwischen 1968 und 2017 – hinzu kommen noch die Lehrerinnen der weiterführenden Schulen und die Dozentinnen der Hochschulen.“

Andere Studien, wie die von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, belegen, dass der Anteil der arbeitenden und armen Frauen in Frankreich zwischen 2006 und 2017 von 5,6% auf 7,3% gestiegen ist. Frauen sind vor allem im Reinigungs-, Einzelhandels- und privaten Dienstleistungssektor zu finden. Unter den ungelernten Arbeiter*innen sind 49% der Frauen Teilzeitbeschäftigte, gegenüber 21% der Männer. In Frankreich hielten Frauen 2017 70% der befristeten Arbeitsplätze und 78% der Teilzeitarbeitsplätze.

Jedoch spielen all diese Frauen – von der migrantischen Reinigungsfrau bis hin zur Sekundarschullehrerin oder Krankenschwester – eine wichtige Rolle in den Dienstleistungen, die für die soziale Reproduktion dieses Systems unerlässlich sind. Sie sorgen dafür, dass alle Arbeiter*innen, die zu den Fabriken, Bulldozern, Werkstätten, Dienstleistungen, seien sie privat oder öffentlich, gehen müssen, sich regenerieren, sich ernähren und ihre Kinder erziehen können, diese zukünftige Arbeitskraft, die der Kapitalismus so dringend braucht. Es handelt sich um dieselben Frauen, die nach ihrem Arbeitstag unter zunehmend verschlechterten Bedingungen nach Hause zurückkehren, um Haushaltsaufgaben zu erledigen, die von niemandem bezahlt werden, aber notwendig sind, damit alle Arbeiter*innen am nächsten Tag sauber und ernährt zur Arbeit zurückkehren.

Eines ist also klar: Wenn diese Millionen von Frauen, die einen wesentlichen Teil der Arbeiter*innenklasse in ihrem breiten Sinne ausmachen, stillstehen, dann steht die ganze Gesellschaft still.

Krise des sozialen Modells… wie hängt das mit der Rolle der Frauen in der aktuellen Bewegung zusammen?

Seit einigen Jahren, und insbesondere seit der Krise des neoliberalen Modells im Jahr 2008, haben erhebliche Veränderungen in der Sozialstruktur, in der Arbeitswelt und damit im Alltag von Millionen von Arbeiter*innen, insbesondere von weiblichen Arbeiterinnen, stattgefunden. Mit den Sparplänen, der Streichung öffentlicher Dienstleistungen und den anti-sozialen Reformen, die von aufeinanderfolgenden Regierungen durchgeführt werden, verschlechtern sich nicht nur die Arbeitsbedingungen und öffentlichen Dienstleistungen, sondern steigen auch die Lebenshaltungskosten erheblich. Diese Situation erschwert es heute, für sich selbst und seine Kinder richtig zu sorgen, sie in die Kindertagesstätte (wenn man eine findet) oder zur Schule zu bringen, sie zu ernähren, ihnen Kleidung zu kaufen. Noch schwieriger, fast utopisch ist es, wenn wir an Freizeit- oder Kulturaktivitäten denken, sei es für Arbeiter*innenfamilien oder deren Kinder. Privatisierung, Entlassungen oder Personalmangel im öffentlichen Dienst sind zur Regel geworden. Dies hat natürlich Auswirkungen sowohl auf die Arbeiter*innen als auch auf die Nutzer*innen eben jener öffentlicher Dienstleistungen.

Dies führt dazu, dass diese Frauen, die hauptsächlich in den Bereichen Pflege, Gesundheit, Reinigung, Bildung oder Verkehr tätig sind, nicht über die richtigen Bedingungen verfügen, um sich in ihrem Beruf um andere zu kümmern. Und andererseits haben sie nicht die Kraft oder die Mittel, sich nach langen und anstrengenden Arbeitstagen richtig um ihre Kinder und Familien zu kümmern, während es oft ebenfalls sie sind, die für die meisten Haushaltsaufgaben verantwortlich sind. Wie in der jüngsten Erklärung des Nationalen Kollektivs für die Rechte der Frau festgestellt wurde, „leben sie die paradoxe Anforderung einer Gesellschaft, die sie ignoriert: Von ihnen wird erwartet, dass sie so arbeiten, als hätten sie keine Kinder und ihre Kinder so erziehen, als hätten sie keine Arbeit.“

Wütende und kämpfende Frauen, aber keine Feministinnen?

Seit mehreren Jahren erleben wir Kämpfe, Streiks und Widerstand in vielen dieser Sektoren, wie z.B. im Gesundheitswesen, in den Altersheimen, in den Schulkantinen und im Reinigungssektor. Dazu zählen der mutige und siegreiche 45-tägigen Streik der outgesourcten Arbeiterinnen von Onet in den Bahnhöfen der Region Nord-Ile-de-France oder die Streiks in der Hotellerie, darunter zuletzt der Streik von Hyatt Vendôme, der ebenfalls siegreich war. Waren diese heftigen Kämpfe, die oft dieselben Frauen als Protagonist*innen hatten, die Vorläufer der sozialen Explosion, die wir heute in ganz Frankreich erleben? Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass dies der Fall ist. Die tieferliegenden Gründe für diese Wut und den Ausbruch dieser Kämpfe müssen wahrscheinlich in all den Elementen zu finden sein, die wir gerade beschrieben haben.

Pierre Rimbert betont in dem bereits erwähnten Artikel, dass „die ungeheure Entwicklung lebenswichtiger Dienstleistungen, die von Frauen dominiert werden, ihre potenzielle Blockade und das Aufkommen siegreicher sozialer Konflikte bisher noch nicht in politisches oder gewerkschaftliches Handeln umgesetzt worden sind“. Diese Aussage macht es möglich, eine interessante Parallele zur heutigen Bewegung der Gelbwesten zu ziehen. Die Spontaneität und Radikalität beispielsweise im Kampf der Onet-Streikenden finden sich auch bei vielen Frauen in gelben Westen, die sich heute in keiner Gewerkschaft oder politischen Organisation wiederfinden und die meist ihre ersten Demonstrationen und Kampferfahrungen machen.

Was die hauptsächlich vorgebrachten Forderungen betrifft, sowohl bei Streiks wie die von Onet oder in Altersheimen, als auch bei vielen Frauen in gelben Westen, so betreffen sie die Einforderung von Respekt und Würde und grundlegend die Verbesserung der Lebens- und/oder Arbeitsbedingungen. In diesem Zusammenhang zeigen verschiedene feministische Organisationen oder Kollektive Zurückhaltung, unter dem Vorwand, dass die Forderungen dieser Frauen spezifisch „feministische“ Slogans wie gleiches Entgelt für Männer und Frauen oder den Kampf gegen Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen nicht berücksichtigen.

Aber man braucht sich nur die meisten der groß angelegten Mobilisierungen in der Geschichte und selbst revolutionäre Prozesse, in denen Frauen eine wichtige Rolle gespielt und manchmal sogar von ihnen ausgelöst wurden, anzusehen, um festzustellen , dass es nur sehr selten von Anfang an im engeren Sinne feministische Forderungen gibt. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Mobilisierung und der spontane Streik von Tausenden von Frauen am 23. Februar 1917 in Russland, was nach unserem Kalender dem achten März entspricht. Diese Mobilisierungen, die alle Erwartungen übertrafen, markierten den Beginn der Revolution, die schließlich den Zaren stürzte und einige Monate später die erste Arbeiter*innenmacht in der Geschichte etablierte. Es war dieselbe revolutionäre Kraft, die dann Maßnahmen wie das Recht auf Scheidung oder Abtreibung einführte, die das Leben der Frauen völlig revolutionierten, oder sogar die Eröffnung von Krippen, Kantinen und Wäschereien einleitete, damit Frauen Haushaltsaufgaben sozialisieren und so Zeit für Erholung freimachen konnten. Die Schlagworte dieser Revolte vom 8. März 1917 in Russland, bei der die Textilarbeiterinnen an der Spitze standen, waren jedoch „Brot, Frieden und Freiheit“. Brot gegen die schrecklichen Lebensbedingungen der Arbeiter*innen und der Massen; Frieden, damit nicht länger ganze Kontingente junger Menschen an der Front eines zu langen Krieges sterben; und Freiheit gegen die autoritäre Macht des Zaren. Auf den ersten Blick keine streng feministischen Forderungen.

Was die Gelbwestenbewegung betrifft, so ist es eine Tatsache, dass diese mutigen Frauen auf der Straße sind, um bessere Lebensbedingungen zu schaffen, auch wenn direkt feministische Forderungen wie gleiche Bezahlung von Männern und Frauen usw. nicht ausdrücklich hervorgehoben werden. Die Prekarisierung betrifft vor allem Frauen, und sie sind sich dessen voll bewusst. Dies ist auch die Botschaft, die sie vermitteln wollten, als sie zu einer landesweiten Mobilisierung von Frauen in gelben Westen mit Demonstrationen in mehreren Städten aufriefen. Sie kämpfen unermüdlich, Tag und Nacht. Einige von ihnen reisten nach dem Mobilisierungstag in ihren jeweiligen Städten Hunderte von Kilometern, um am Sonntag in Paris an der Mobilisierung von Frauen in gelben Westen teilnehmen zu können. Wie Michelle, die derzeit arbeitslos ist und zu Ehren des Textilarbeiterinnenstreiks in Lawrence, USA, zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Brot und Rosen“ auf ihre gelben Weste geschrieben hatte: „Wir wollen nicht nur überleben, sondern auch Rosen, Kultur und Freizeit, die heute nicht für jeden zugänglich sind“ – und noch weniger für Frauen.

Mit der Entschlossenheit, der Kraft und dem Kampfgeist all dieser Frauen können wir uns vorstellen, das gesamte System der Ausbeutung und Unterdrückung herauszufordern. Gwen, eine 25-jährige Friseurin, die am vergangenen Sonntag beim Marsch der Frauen in gelben Westen demonstrierte, erklärte: „Wir sind Frauen, aber auch Arbeiterinnen, weniger gut bezahlt als Männer. Wir wollen zeigen, dass wir Bürger*innen sind, und nicht nur zum Aufräumen zu Hause oder zur Kinderbetreuung gut sind.“ Auf der Grundlage dieses Bewusstseins, dieses Eintritts in den Kampf und das politische Leben dieser Frauen, die zum ersten Mal kämpfen, werden wir das Fundament einer klassenkämpferischen feministischen Bewegung schaffen können, die alle Forderungen der arbeitenden Frauen in die Hand nimmt und dieses kapitalistische und patriarchale System in Frage stellt.

Was sagt die Entschlossenheit dieser Frauen über die Tiefe der andauernden sozialen Revolte aus?

Am 10. Dezember sprach Emmanuel Macron mit der Heuchelei, die ihn ausmacht, von der „aufrichtigen Wut“ der „alleinerziehenden, verwitweten oder geschiedenen Mutter einer Familie, die nicht mehr lebt, die nicht die Mittel hat, Kinder zu betreuen und ihr Monatseinkommen zu verbessern“. Hinter diesem herablassenden Ton seitens des Präsidenten der Reichen steht die Angst vor der Rolle, die Frauen in dieser Revolte spielen können und werden. Aber vor allem die Angst davor, was dies zum Ausdruck bringt: ein Vorzeichen für eine Situation, die revolutionär werden kann, mit diesen Frauen, die mit Repression konfrontiert sind, wie wir letzten Sonntag in Paris gesehen haben, als sie eine Polizeiblockade überwanden, die sie am Demonstrieren hinderte.

Denn Emmanuel Macron weiß sehr wohl, dass diese Frauen wahrscheinlich nie wieder einfach nur prekäre Frauen sein werden, die hart arbeiten. Heute sind es wütende, rebellierende Frauen, die für eine bessere Zukunft kämpfen. Und diese Erfahrung von Kampf, Unterdrückung, Solidarität und Unterstützung durch die Bevölkerung wird sie wahrscheinlich ein Leben lang prägen. Wenn Frauen mit solcher Entschlossenheit in den Kampf ziehen, ist das oft ein Symptom für erhebliche Unzufriedenheit, denn Wut hat tiefe Wurzeln. Um kämpfen zu können, bringen diese Frauen, die Mütter von Familien und prekäre, manchmal arbeitslose Frauen sind, enorme Opfer. Das ist auch der Grund, warum sie, wenn sie den Kopf heben und sich entscheiden zu kämpfen, oft zu den entschlossensten Elementen gehören.

Um auf das Beispiel Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzukommen und wie Leo Trotzki in seiner faszinierenden Geschichte der Russischen Revolution sagt: „buchstäblich niemand … dachte damals daran, daß der 23. Februar zum Ausgangspunkte des entscheidenden Angriffs auf den Absolutismus werden sollte“. Heute können wir sagen, dass die Prekarisierung weiblich ist, aber dass auch der Kampf gegen dieses System der Armut weiblich ist! Deshalb wird auch das Erwachen derjenigen, die mit Verbissenheit kämpfen, vielleicht der Ausgangspunkt für einen Prozess der Revolte und des sozialen Protestes sein, der, gelinde gesagt, noch lange nicht vorbei ist.

Dieser Artikel bei Révolution Permanente.

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