Frankreich: Die liberale Linke und das Elend des ausgeschlossenen Dritten

06.05.2017, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

Ein Gastbeitrag von David Doell zur Debatte um die französischen Präsidentschaftswahlen innerhalb der deutschen Linken.

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Wer die Diskussionen zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich in sozialen Medien verfolgt, könnte leicht zu dem Schluss gelangen, dass am Sonntag die deutsche Linke über den Faschismus abstimmt. Keine Diskursverknappung scheint dabei genug. Wahlweise wird die Faschismustheorie auf eine bürgerliche Repräsentationswahl angewendet, oder das „eigene Sein“ der „Subalternen“ aufgerufen, um eine Wahlempfehlung zugunsten Macrons zu rechtfertigen. Ich denke, dass weder immer schon klar ist nicht für das kleinere Übel zu stimmen noch dass die Linke immer schon zu dessen Wahl aufrufen müsste. Um zu diesem „Dilemma“ Stellung zu beziehen braucht es aber eine Analyse einer „konkreten Situation“ und keine überzeitliche Gesinnungsentscheidung.

In einem differenzierten Beitrag argumentiert Tom Strohschneider im Neuen Deutschland (ND) dafür, dass Linke bei der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen am Sonntag Macron wählen sollen und gleichzeitig vor Macron „warnen“ sollten. Für „rhetorisches Herumeiern“ oder eine Wahlenthaltung sei die Gefahr einer rechtsradikalen Präsidentin zu groß: Mit einer Präsidentin Le Pen würden sich erstens die Ausgangbedingungen für emanzipatorische Kämpfe verschlechtern, zweitens seien die Machtbefugnisse des Präsident*innenamtes in Frankreich autoritär nutzbar und drittens würde rassistische Ressentiments radikalisiert und die institutionelle Ausgrenzung von Minderheiten forciert. Aus diesen Gründen sei in der Stichwahl Macron zwar zu wählen, allerdings gleichzeitig vor seiner neoliberalen Agenda zu „warnen“. Denn wer vom Faschismus redet, darf über den Kapitalismus nicht schweigen.

Den drei Argumente wird wohl keine linke Position widersprechen: Alle sind sich einig in der Ablehnung Le Pens. Allerdings könnte der Name Le Pen auch durch den Namen Macron ausgetauscht werden und alle Argumente wären wahrscheinlich immer noch richtig. Macron hat sich von seiner Parteibindung zur PS (Sozialistische Partei) losgesagt und mit „En marche“ eine seine Pseudowahlpartei gegründet, die sehr wenig ein basisdemokratischen Aufbruch darstellt, als viel eher das „Ende der Politik“ in der Technokratie verkörpert. Macron hat außerdem bereits angekündigt mit dem Artikel 49.3 am Parlament vorbei zu regieren, um eine autoritäre Verschärfung der neoliberalen Agenda durchzusetzen. Frankreich befindet sich seit über einem Jahr im Ausnahmezustand, demokratische Rechte werden immer weiter beschnitten, das Geflüchteten-Camp in Calais wurde brutal geräumt, die Polizeigewalt ist ultra-rassistisch. Alle diese Tendenzen des autoritären Neoliberalismus werden unter Macron sich wahrscheinlich weiter verschärfen. Deswegen finde ich es falsch aus diesen Argumenten alleine einen Wahlaufruf für Macron abzuleiten.

Das eigentliche Argument des Texts besteht dann darin, zu sagen, dass Le Pen nur wirksam verhindert werden kann, indem die Linke zur Wahl Macrons aufruft. Es geht also um die Unterstüztung der Wahl des kleineren Übels. An diesem Punkt tut es gut von der bürgerlichen Personalisierung der Repräsentationswahl Abstand zu nehmen, und sich zu überlegen was „wir“ eigentlich „verhindern“ wollen? Wahrscheinlich doch den gesellschaftlichen Proto-Faschismus. Dann müssen allerdings zwei offene Rückfragen diskutiert werden: 1. Seit wann wird Faschismus durch Wahlen verhindert – und nicht durch antifaschistische Selbstorganisation? Und 2. Wird eine rechtsextreme Präsidentin ohne Massenbewegung die faschistischen Tendenzen eher stärken oder eher schwächen? Ich finde keine dieser Fragen ist von selbst schon beantwortet.

Es geht mir nicht darum in linksradikaler Borniertheit zu sagen, dass es historisch schon immer falsch war, dass die Linke für das kleinere Übel eintritt und damit dem größeren Übel den Weg bereitet. Erlaubt scheint allerdings die Rückfrage, ob es der konkreten Linken in der konkreten Situation helfen würde, den autoritären Neoliberalismus offen zu unterstützen und damit unter anderen der Anti-Establishment Kritik Le Pens in die Hände zu spielen? Gerade wenn gilt, dass die Chancen der Linken in Frankreich nicht wachsen, „indem man an der Seitenlinie steht und besserwisserische Tipps gibt“ wie Strohschneider schreibt, müsste dann in einem Text zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich die französische Linke selbst erwähnt werden.

Und da gilt es einfach zur Kenntnis zu nehmen, dass zum Beispiel Mélenchon „Kampagne-Bewegung“ „France insoumise“ (bei allen Vorbehalten die gegenüber Mélenchon und seinem Wahlkampf hervorgebracht werden können) in einer basisdemokratische Entscheidung mehrheitlich dafür gestimmt hat, nicht zur Wahl Macrons aufzurufen. Dabei sprachen sich in der Stimmabgabe 36,12 Prozent dafür aus, einen „weißen“ Stimmzettel in die Urne zu legen, 34,83 Prozent dafür Macron zu wählen und 29,05 Prozent für eine Enthaltung. Bei einem basisdemokratischen Votum von zwei Drittel gegen einen Wahlaufruf für Macron müssten die „besserwisserischen Tipps von der Seitenlinie“ sich nicht zumindest mit den Argumenten, Ängsten und auch Wünschen von französischen Linken auseinandersetzen? Meiner Einschätzung nach geht der Bruch mit dem neoliberalen Kapitalismus in den Subjekten in Frankreich schon wesentlich tiefer als gemeinhin angenommen wird. Deswegen hätte die gesellschaftliche Linke dort auch einiges zu gewinnen, wenn sie sich nicht in die Rolle des Steigbügelhalters für Macron zwingen lässt sondern auch in einer schwierigen Situationen eine eigenständige Artikulation sucht.

Aller Voraussicht nach wird diese Wahl in Frankreich nicht die letzte zwischen autoritärem Neoliberalismus und nationalistischen Autoritarismus gewesen sein. Sich immer wieder in die Rolle der Mehrheitenbeschaffer*innen für das neoliberale Projekt zu begeben, damit potentiell als Teil des „Establishment“ diskreditiert zu sein und den Aufstieg des Faschismus zu begünstigen, ist sehr gefährlich. Linke müssen deswegen immer wieder in konkreten Situationen überlegen, ob eine Wahl des kleineren Übels wirklich mehr Handlungsspielräume bedeuten, und ob mit einer rechtsextremen Präsident*in wirklich gleich der Faschismus vor der Tür steht.

Die andere Seite von Trumps Präsidentschaft in den USA ist doch zum Beispiel die erste massenhafte Frauen*bewegung in den USA seit Jahren. Das heißt nicht, dass seine Präsidentschaft irgendetwas Gutes hätte, sondern nur dass es der gesellschaftlichen Linken oder Minderheiten dennoch möglich ist, Handlungsspielräume auszuloten. Gegen einen Dogmatismus des kleineren Übels wäre es daher angebracht, die konkrete Diskussion von (migrantischen) Linken vor Ort stärker zu berücksichtigen. Mit Nuitdebout und der Bewegung gegen das Loi Travail hat sich in beeindruckender Weise die Massenbewegungen der Anti-Austeritäts- und Demokratiekämpfe auch im Zentrum Europas artikuliert. Dass sich das bisher elektoral „nur“ im Erstarken des sozialdemokratischen Linksnationalismus Mélenchons umsetzt ist eine „Tragik“ der Bewegungsperspektive. Aber dass rund 20 Prozent für eine Linke jenseits der neoliberalen Sozialdemokratie stimmen ist eher gut als schlecht. Diese Wähler*innen nicht gegen ihre demokratische Wahl mit einem Aufruf für Macron wieder in das neoliberale Projekt einzubinden, das scheint erst mal selbst für die reformistische Linke in Frankreich selbstverständlich. Auch wenn die liberale Linke in Deutschland ohne konkrete Analyse oder reale Handlungsmacht mit Hegel gerne sagen würde: Hic Präsidentschaftswahl, hic salta!

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