Erst Afrin, Rojava — und dann Karabach und Jerewan? Was sind die Pläne von Erdogan und Aliyev?

20.02.2018, Lesezeit 7 Min.
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Besonders unter den islamistischen und faschistischen Milizen, die mit der Türkei einen Angriffskrieg gegen Afrin führen, häufen sich die Anzeichen, dass die nordsyrische Provinz nur der Anfang eines groß angelegten Plans sein könnte. Passend dazu macht der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev in einer Rede klar, dass er nicht nur Karabach, sondern auch die armenische Hauptstadt Jerewan im Visier hat. Währenddessen beschriften faschistische Milizen die Bomben gegen Afrin mit antiarmenischen Slogan.

Als Monte Melkonian vor 25 Jahren die Pässe der ermordeten Soldaten betrachtete, die auf der Seite Aserbaidschans im Karabach-Krieg kämpften, fiel ihm auf, dass viele der Toten gar keine Aserbaidschaner waren. Sie hatten türkische, tschetschenische oder auch turkmenische Namen und wurden in einem Krieg eingesetzt, in dem 30.000 Tote zu beklagen waren. Für den armenischen Strategen und Kommandanten, der eine bedeutende Rolle im Krieg spielen sollte, zeigte sich damit, dass die reguläre aserbaidschanische Armee in diesem Krieg auf eine reaktionäre Allianz mit islamistischen und faschistischen Milizen setzte — es verwundert daher nicht, dass auch die Grauen Wölfe aus der Türkei involviert waren. Ihre Beteiligung betrachteten sie als Fortsetzung des Genozids an den Armenier*innen.

Eine Nation, zwei Staaten. Türkei und Aserbaidschan. Das ist einer der Kernpunkte pantürkistischer Ideologien, die auf ein großtürkisches Reich vom Mittelmeer bis nach Zentralasien zielen. Vor diesem Hintergrund werden das kurdische und besonders das armenische Volk als Hindernis angesehen, die es zu unterwerfen und vernichten gelte. Weit davon entfernt, eine Mehrheit in der türkischen respektive aserbaidschanischen Gesellschaft zu finden, überrascht es dennoch nicht, dass besonders die kleinbürgerlichen Anhänger*innen dieser pantürkistischen Ideologien mit der türkischen bzw. aserbaidschanischen Bourgeoisie zusammenarbeiten.

Während Karabach seit dem Waffenstillstand am zwölften Mai 1994 in einer Art permanentem Belagerungszustand verweilt, mit regelmäßigen Scharmützeln und einer Eskalation im April 2016, die in kürzester Zeit über 200 Tote forderte, sieht die Lage in den kurdischen Gebieten anders aus.

Notwendigkeit und Kontinuität

Als die nordkurdischen Städte 2015 und 2016 einer brutalen Belagerung durch die türkische Armee ausgesetzt waren, war das nicht nur der Moment des am längsten anhaltenden emanzipatorischen Widerstandes überhaupt (länger als bei der Pariser Kommune), sondern auch die Stunde des Terrors durch die Todesschwadronen des JÖH (Jandarma Özel Harekat) und PÖH (Polis Özel Harekat). Die Spezialeinheiten waren die Ersten, als es darum ging, in die Innenstädte einzudringen und den Widerstand zu brechen. Nicht selten rekrutierten sie sich aus Faschist*innen oder der Basis der ultranationalistischen MHP.

Auch heute sind sie es, die nun gemeinsam mit islamistischen Organisationen an vorderster Front gegen Afrin ziehen. Doch da der Angriff von Anfang an stockt, steigert sich auch der Wahn der aufgehetzten Milizen. Dieser richtet sich nicht nur gegen die Kurd*innen, sondern auch gegen die Armenier*innen: In mindestens zwei Fällen wurden die Bomben, die auf Afrin geworfen wurden, mit antiarmenischen Parolen versehen.

Besonders für die Mitglieder der Grauen Wölfe ist dieser Krieg gegen Afrin nur ein Kapitel eines Kampfes um Gebiete, die einst Teil des Osmanischen Reiches waren und die sie für die Türkei beanspruchen. Dazu zählen nordsyrische und nordirakische Gebiete, aber auch Karabach und Aserbaidschan, die wiederum lange Teil der Sowjetunion waren. Dass der Krieg vor rund 25 Jahren mit der Niederlage Aserbaidschans endete, empfinden die Nationalist*innen in beiden Staaten als eine Schmach, die sie tilgen möchten. Die Botschaft ist klar: Wenn wir erst mit Afrin und Rojava fertig sind, dann wird früher oder später Karabach folgen.

Dabei erheben in der Türkei bei Weitem nicht nur faschistische Kräfte Anspruch auf Karabach. Schon bei den letzten großen Auseinandersetzungen versicherte Erdogan: „Wir werden Aserbaidschan bis zum Schluss unterstützen.” Worte, denen Taten folgen und die eine Kontinuität haben, seit der türkische Staat „Zugriff” auf das unabhängige Aserbaidschan hat. Diese Kontinuität begann, als die Türkei kurz davor stand, in den Karabach-Krieg einzugreifen und Armenien zu besetzen. „Was ist, wenn wir ein Militärmanöver an der Grenze zu Armenien machen und ein paar Bomben über die Grenze werfen?”, fragte der damalige türkische Präsident Turgut Özal. Dazu kam es nicht, weil bis heute an der armenisch-türkischen Grenze russische Soldat*innen stationiert sind und ein solcher Einmarsch unvorhersehbare Folgen haben würde. Gleichwohl wurde der Kampf gegen die PKK verknüpft mit antiarmenischer Propaganda, indem etwa die PKK in den türkischen Medien als „armenisches Geschwür“ tituliert wurde.

Klare Botschaften

Aserbaidschan und die Türkei sind seit jeher enge Verbündete, besonders in militärischer Hinsicht. Gleichwohl haben Recep Tayyip Erdogan und Ilham Aliyev, beide übrigens fast zur gleichen Zeit an die Macht gelangt, unterschiedliche politische Wurzeln. Während Erdogan von Anfang an dem politischen Islam nahestand, liegen die Hintergründe Aliyevs — in der Sowjetzeit. Der Sohn des hochrangigen stalinistischen Kaders und späteren Präsidenten Heydar Aliyev erlebte seinen Aufstieg als Vorsitzender der staatlichen Ölgesellschaft Aserbaidschans in den 1990er-Jahren. Wie Erdogan auch ist seine Familie für die Vetternwirtschaft bekannt.

Doch es gibt nicht nur Gemeinsamkeiten mit Erdogan, sondern auch mit dem Staatschef des Nachbarlandes: Sersch Sarkisyan, armenische Premierminister. Besonders die jeweiligen Parteien ähneln sich in ihrer Struktur — hochgezogen von stalinistischen Kadern nach dem Zerfall der UdSSR waren sie Ausdruck der nationalistischen Wende. Sowohl die konservative HHK (Armenisch Republikanische Partei) Sarkisyans als auch Aliyevs Yeni Aserbaidschan (Neues Aserbaidschan) sind der nationalistische Ausdruck der bürgerlichen Restauration. Beide Parteien sind Staatsparteien par excellence, wie sie so typisch sind für die degradierten Demokratien im ehemaligen Ostblock, wo es die Regel und nicht die Ausnahme ist, dass eine einzige Partei seit der jeweiligen Unabhängigkeit des Landes regiert. Die Liste der Gemeinsamkeiten ließe sich fortsetzen, sind es doch gleichzeitig die Parteien der jeweiligen Bourgeoisie, die in den ehemaligen stalinistischen Ländern “über Nacht” aus dem Boden gestampft werden musste, und sich nicht wie in anderen Ländern organisch entwickeln konnte.

Vor diesem Hintergrund wird das Ende einer Ära bald sichtbar werden, wenn die stalinistischen Kader abtreten und eine neue Generation von bürgerlich-nationalistischen Politiker*innen an die Macht kommen wird, die im Gegensatz zu Sarkisyan und Aliyev keine ehemaligen Parteigenossen waren. Es wird eine Generation sein, die durch die geschlossenen Grenzen und den fragilen Waffenstillstand geprägt sein wird. Besonders in Aserbaidschan ist es alles andere als unwahrscheinlich, dass diese neue Führung einen starken islamistischen Charakter haben wird. Schon jetzt lehnt sich ein bedeutender Teil der aserbaidschanischen Bourgeoisie an das türkische Modell der AKP an und wird ein umso größeres Selbstbewusstsein entwickeln, wenn die Türkei militärische Erfolge vorweisen kann.

Für das AKP-Regime wird diese erneuerte — und besonders auf der ideologischen Ebene homogenere — Allianz nur von Vorteil sein. Schließlich wird es doch noch mehr von den Ölquellen Aserbaidschans profitieren, wird es doch eine noch engere Zusammenarbeit zwischen beiden Militärs geben. Eine Rechnung, die auch Aliyevs bisherige Politik der Balance zwischen Moskau und Washington über den Haufen werfen wird.

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