Erdogans Todeskampf um die Macht
// Der Anschlag in Ankara ist der brutale Höhepunkt einer Massakerwelle, die eine Kurswende Erdogans hin zur Militarisierung des Regimes markiert. Das Bombenattentat ist mit 97 Ermordeten und 500 Verletzten der größte Angriff auf linke und gewerkschaftliche Kräfte seit Jahrzehnten. Mehr Blut droht zu fließen. //
Das Massaker in Ankara ist in vieler Hinsicht eine Folge der von Erdogan eingeschlagenen Politik der Bonapartisierung. Er treibt die politische Destabilisierung des Landes voran, um als starker Akteur aus der Krise herauszukommen. Besonders interessant ist die Entwicklung der politischen Situation in der Türkei nach den Parlamentswahlen am 7. Juni: Es fand eine Kurswende von der neoliberalen ökonomischen Offensive hin zur militärischen Aggression statt. Es ist offensichtlich, dass der Bonaparte Erdogan nicht freiwillig eine Einschränkung seiner Macht akzeptieren wird.
Der Hintergrund des „militant-nationalistischen“ Neoliberalismus
Die türkische Wirtschaftskrise im Jahr 2001 mischte die Karten neu. Weitgehend waren alle bürgerlichen Parteien unfähig zur Lösung der Krise. Die AKP kam mit einem Programm der Privatisierung, der Annäherung an die EU, der Verkleinerung des Staatsapparats sowie dem Versprechen einer politischen Lösung der Konflikte in Nordkurdistan und Zypern an die Macht. Besonders der „Friedensprozess“ zielte als Projekt darauf ab, eine innere „Ruhe“ herzustellen, um ein mächtiger Akteur im Mittleren Osten zu werden. Nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 zeigten sich allmählich, aber sicher die ersten Risse im herrschenden Regime. Die Einheit der türkischen Bourgeoisie, die auf der neoliberalen Offensive beruhte, zerbröckelte in dieser Periode. Die AKP war mit dem Interessenkonflikt einer gespaltenen Bourgeoisie konfrontiert.
Unter dem Druck der Wirtschaftskrise war die AKP gezwungen, in kurzer Zeit große Erfolge vorzuweisen, was zu einem Zickzack-Kurs führte. Oft folgte eine Repression gegen Kurd*innen im Parlament oder auf militärischer Ebene. Im sogenannten „Friedensprozess“ wollte Erdogan alle seine Bedingungen durchsetzen und ihn so in einen „Diktatfrieden“ verwandeln. So erreichte er sehr schnell seine Grenzen. Besonders der Kampf der Kurd*innen in Rojava verbunden mit der Sackgasse der AKP-Intervention in den syrischen Bürger*innenkrieg eröffnete eine neue Etappe der politischen Krise der AKP.
Als der Funke des arabischen Frühling auf Syrien sprang, brach die AKP alle diplomatischen Beziehungen zu Assad. Sie unterstütztze zunächst die Freie Syrische Armee logistisch und finanziell mit der Hoffnung, den Sturz von Assad zu beschleunigen. Der „Islamische Staat“ wurde in der Türkei lange Zeit als keine Gefahr angesehen. So durften die IS-Truppen die Grenzen passieren und ihre Verwundeten in der Türkei versorgen. Der türkische Staat spuckte damals große Töne und behauptete, es sei die Zeit der türkischen Kontrolle in der Region gekommen. „Wenn die Türkei will, kann sie in 3 Stunden Damaskus einnehmen“, sagte die AKP.
Allerdings konnte der türkische Staat ohne „die Einheit von Innen“ und die Einwilligung des Imperialismus seine Pläne nicht in vollem Umfang durchsetzen. Inzwischen hat „Pro-Assad“-Russland in diesem Krieg militärisch interveniert. Die kurdische Strukturen können sich militärisch behaupten. Jetzt gibt die US-amerikanische Führung das Signal, Assad in einer Übergangszeit zu akzeptieren. Außer dem türkischen Staat bezeichnet niemand die YPG mehr als eine „terroristische Organisation“. Ganz im Gegenteil: Nach dem Scheitern des Plans, Rebellen für den Krieg auszubilden, wollen die USA eine enge Beziehung zu kurdischen Kämpfer*innen etablieren. Denn sie sind die Kraft, die am effektivsten gegen den IS kämpft. Daher steht nun der türkische Staat allein mit dem IS an einer Seite, nachdem die Imperialismen ihre Karten bezüglich des Schicksals Syriens neu gemischt haben.
Die Kräfte, die für den Bürgerkrieg in Syrien ausgerüstet und vorbereitet worden sind, werden in der Türkei militärisch aktiv. Allein IS konnte sich in der Türkei eine wahrnehmbare starke Basis aufbauen. Die islamistischen Banden, ausgebildet und unterstützt für den Krieg in Syrien, sehen ihre Mission in der Türkei unter anderem darin, die fortschrittlichen Sektoren anzugreifen, die sich gegen den Krieg stellen. Die AKP hat in die Türkei Kräfte eingeschleust und unterstützt, die heute auf den Straßen der Türkei Bomben legen. Darin besteht die Verantwortlichkeit des türkischen Staates.
Wie kann der Mörder-Staat zur Rechenschaft gezogen werden?
Erdogan richtet seine Offensive ganz auf die HDP aus. Die offiziellen Staatssicherheitskräfte und ihre Banden bringen kurdische und linke Aktivist*innen um. Der Angriff gegen die HDP geschieht in der neuen politischen Etappe – vor dem Hintergrund, dass die HDP der AKP ihre kurdische Basis weitgehend entzogen und ihr die gesetzliche Konsolidierung des Präsidialsystems nicht erlaubt hat. Erdogan zittert vor der Angst, dass er im Falle der Schwächung der AKP aufgrund der Korruptionsskandale, den Massakern an Arbeiter*innen, linken Aktivist*innen und Kurd*innen, sowie den Repressionen gegen die Presse vor Gericht gestellt wird. Als Reaktion verschärft er die Repression. Niemand kann die Möglichkeit weiterer Massaker verneinen.
Nach dem Massaker vom vergangenen Samstag bezeichnete der HDP.Vorsitzende Demirtas den türkischen Staat als einen „mörderischen mafiösen Staat“ und fügte einen Tag später hinzu: „Aber niemand kann von uns erwarten, dass wir mit unseren Mördern zusammenstehen.“ Bisher noch hatte die HDP ständig Aufrufe zur Wiederbelebung des „Friedensprozesses“ lanciert – was jetzt daraus wird, muss sich noch zeigen. Die Welle an Massakern, angeführt oder erlaubt von Erdogan, hat jedenfalls noch einmal bewiesen, dass der Mörder sich nicht mal im Geringsten um den „Frieden“ kümmert.
Die ersten wahren Signale einer Abrechnung mit dem Mörder-Staat waren beim Generalstreik am 12.-13. Oktober sichtbar. Ausgerufen wurde er von den Gewerkschaften, die die Kundgebung am 10. Oktober in Ankara organisiert hatten. Außer den Arbeiter*innen haben auch Studierende und Schüler*innen sich mit dem Boykott des Unterrichts an dem Generalstreik beteiligt. Die Massen forderten wütend den Kampf gegen die AKP bis zum Sieg und den Rücktritt aller verantwortlichen Politiker*innen aus den Reihen der Wahlregierung sowie der verantwortlichen Staatsbürokrat*innen.
Auch wenn der Generalstreik spontan und ohne konkretes Kampfprogramm organisiert wurde: Vor der Einheit der Arbeiter*innen mit den Unterdrückten ist zentral dafür, dass sich die Reaktion nicht durchsetzen kann. Im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zeigt sich, wer Interesse an der Überwindung der chauvinistischen Spaltung zwischen der kurdischen und türkischen Arbeiter*innenklasse hat und wer der Terrorist ist: Der türkische kapitalistische Staat kann nicht demokratisiert werden. Die Abrechnung mit dem türkischen Staat sollte von diesem Standpunkt ausgehen.
Frieden? Ja! Im Kapitalismus wird es keinen Frieden geben!
Die zentrale Losung der Kundgebung am 10. Oktober war „Frieden“. Wir zweifeln nicht im Geringsten an der Ehrlichkeit des Wunschs nach Frieden von Seiten der Arbeiter*innen und kämpferischen Aktivist*innen. Die ermordeten Aktivist*innen nahmen an der Kundgebung in Ankara teil, um den Frieden zu bringen. Sie haben das selbe Schicksal wie die anderen ermordeten Aktivist*innen in Suruc, Diyarbakir, Cizre erlebt. Die barbarische Antwort der türkischen Regierung auf die Forderung nach Frieden war stets ein Massaker. Allein in den letzten drei Monaten wurden hunderte Aktivist*innen ermordert, damit Erdogan seine Macht bewahren kann.
Nun betonen die bürgerlichen Politiker*innen und liberale Kräfte, sie seien bereit, Verantwortung zu übernehmen, um diesem Chaos ein Ende zu setzen. Es sind dieselben Sektoren, die in der Wirtschaftskrise AKP als Alternative vorgestellt haben, um aus der Krise herauszukommen. Die Geschichte lehrt uns, dass die „Übernahme der Verantwortung“ von der Bourgeoisie nur zur Demobilisierung der Massen und Rekonsolidierung ihrer Herrschaft dient.
Der Krieg wurde ausgerufen vom türkischen Staat und Erdogan. Es gibt keinen progressiven Ausgang aus diesem Krieg ohne die Zerstörung des kapitalistischen Staates. Die Antwort auf die Frage des Friedens liegt in der revolutionären Einheit der türkischen und kurdischen Arbeiter*innenklasse. Denn es ist der türkische Staat und die Bourgeoisie, die nationale Unterdrückung ausüben, die Prekarisierung und Chauvinismus vorantreiben, die die Verantwortung an den Massakern tragen.
Heute müssen die Arbeiter*innen und Unterdrückten gemeinsam einen unbefristeten politischen Generalstreik mit einem Programm vorbereiten, welches die dringenden demokratischen Forderungen mit sozialen und politischen Übergangsmaßnahmen verbindet und die Machtfrage aufwirft. Ein erster Schritt dahin können Komitees in Betrieben, an Schulen und Unis sein, die eine landesweite Kampagne für den Rücktritt und die Bestrafung aller politischen Verantwortlichen sowie die Freilassung aller linken und kurdischen Aktivist*inenn organisiert. Gleichzeitig ist der Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen zur Sicherheit der Demonstrationen, Parteibüros und Nachbarschaften eine lebenswichtige Aufgabe.
Wie Lenin vor 100 Jahren schrieb: „Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muss für den Bürgerkrieg gegen die Regierung und die Bourgeoisie sein.“