Ein alltäglicher Staatsmord an Kader Ortakkaya: Unter ihrem Grabstein liegt eine Weltgeschichte

03.12.2015, Lesezeit 5 Min.
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Kader Ortakkaya wurde am 6. November 2014 an der syrischen Grenze von Streitkräften des türkischen Staates erschossen. Seitdem ist von ihrem Mörder keine Spur. Wohl erst nach einem Jahr entschied sich die Staatsanwaltschaft, dass sie für diesen Fall nicht zuständig sei, und gab den Fall vor Kurzem an die Militäranwaltschaft ab. Das Militär wiederum wies jegliche Verantwortung von sich. Somit wird es nicht einmal ein Gerichtsverfahren geben. Ein Ende der ewigen bürokratischen Hindernisse ist nicht abzusehen.

Der türkische Staat hatte jegliche Unterstützung für die vom IS umzingelte Stadt Kobane über die türkische Grenze abgeschnitten. Die schwer ausgerüsteten IS-Kämpfer hatten die Hälfte der kurdischen Stadt übernommen und bekämpfte die Bewegungen in der Türkei, die für eine Öffnung der Grenzen zur Unterstützung der kurdischen Stadt Kobane eintraten. Allein zwischen dem 6. und dem 8. Oktober 2014 wurden mehrere dutzend Menschen von türkischen Sicherheitskräften und islamistischen Banden ermordet.

Was ist vorgefallen?

Kader Ortakkaya (28) war Studentin der Volkswirtschaftslehre im Master. Sie reiste an die türkisch-syrische Grenze, um gegen den türkischen Staat den Widerstand in Rojava, der Provinz um Kobane, zu unterstützen. Dazu zählten Aktionen wie Besuche mit Delegationen in die Bäuer*innen-Dörfer an der Grenze, damit diese nicht dem Druck des türkischen Staates zur Evakuation dieser Dörfer nachgeben.

Kader zählte zu den jungen Frauen, die an der vordersten Front aktiv sind. Die doppelte Unterdrückung der Frauen, nicht nur von der ökonomischen Ausbeutung getroffen zu sein, sondern auch vom Sexismus in der bürgerlichen Gesellschaft, bewegte sie, wie viele andere Frauen, noch fester in die Reihe der Kämpfer*innen. “Der Kapitalismus vernichtet die ganze Menschheit“, sagte sie zwei Tage vor ihrer Ermordung in einem Fernseh-Interview. Sie war Mitglied der sozialistischen Organisation “Initiative zur Partei der gesellschaftlichen Freiheit“ (TÖPG).

Am 6. November hatte die Künstler*inneninitiative “Freie Kunst“ dazu aufgerufen, an dem Grenzübergang nach Kobane eine Menschenkette zu bilden. Die türkischen Soldaten am Grenzposten griffen jedoch die Menschenmenge mit Tränengas und Schusswaffen an. Mehrere Zeugenaussagen bestätigen, dass der tödliche Schuss gegen Kader gezielt aus einem Geländewagen des türkischen Militärs kam. Kader wurde am Kopf getroffen. Einen Tag später kündigte Erdogan an, dass Kobane gefallen wäre. Die Türkei öffnete ihre Grenzen aufgrund des Drucks des US-Imperialismus und der Massenunruhen in der Türkei, damit militärische Hilfe von den kurdischen Peschmargas Kobane erreichen konnte.

Gerichte hören, sehen, sprechen und wissen nicht!

Es gibt zwei Arten von unbestraften Morden in der Türkei. Der Mord an linken Aktivist*innen, vor allem an Kurd*innen, und der Mord an Arbeiter*innen. Bei beiden Mordzahlen ist die Türkei Weltspitze.

Erdogan der Blutige hat zwischen beiden Parlamentswahlen vom 7. Juni bis 1. November dieses Jahres einen Bürgerkrieg mit 700 Toten verursacht. Erst am 29. November wurde der Vorsitzende der Anwaltskammer in Diyarbakir, Tahir Elci, von der Polizei vor laufender Kamera in den Kopf geschossen.

Keiner der Mordfälle wird jedoch vor Gericht aufgeklärt, keine der Täter werden bestraft. Nur nach jahrelangen Massenprotesten auf der Straße werden die Täter überhaupt erst angeklagt und mit den mildesten Urteilen bestraft. Die Polizei oder das Militär, je nachdem, wer für die Morde verantwortlich ist, verweigern stets die Weiterleitung der Beweisstücke an die Gerichte. Darin sieht man den Klassencharakter der türkischen Justiz.

Um seine eigenen Korruptionsfälle und die seiner Familie zu verdecken, veranlasste Erdogan in kürzester Zeit die Entfernung von Staatsanwalt*innen, Richter*innen und Polizeibeamt*innen aus ihrem Beruf und ließ auch einige verhaften. Die Gülen-Bewegung ließ nach ihrem Konflikt mit Erdogan die „Geheimnisse“ der eigenen Zusammenarbeit in der Öffentlichkeit platzen.

Strategische Fragen zum Sozialismus

Kader Ortakaya ist eine der vielen unter unzähligen Opfer des türkischen Staates seit dem Beginn des AKP-Regimes. Der Kampf für die Bestrafung ihres Mörders ist notwendig. Viele mutige Menschen werden kämpfen müssen, damit es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kommt.

Der Frieden mit einem Staat, der ermordet, um später seine eigene Schuld vor Gericht zu verdecken, ist illusorisch. Natürlich fordern wir nicht noch mehr Kriege mit Toten, wenn wir den Frieden anzweifeln, den die HDP mit dem Regime des blutigen Erdogans schließen will. Was wir wollen, ist statt der vielen Kriege der Bourgeoisie gegen die Unterdrückten und Arbeiter*innen ein Klassenkrieg von unten gegen Bourgeoisie, der der Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende bereitet.

Der Kampf um die Gerechtigkeit vor Gericht kann nur erfolgreich sein, wenn neben der Forderung der Aufklärung der Morde und Bestrafung der Täter auch dafür mobilisiert wird, die Wurzeln dieser Morde zu beseitigen: die innere Kolonisierung Kurdistans im Interesse der türkischen Bourgeoisie, inklusive ihrer Kompliz*innen in der kurdischen Bourgeoisie.

Dazu ist es notwendig, die Fabriken unter die Kontrolle von Arbeiter*innen zu stellen, z.B. damit Rojava mit den Gütern aus solchen Fabriken wieder aufgebaut werden kann. Landreformen, vor allem in den kurdischen Gebieten, müssen vollzogen werden, damit sich die Frauen und alle Menschen den patriarchalen und ökonomischen Zwängen der Clans entziehen können. Eine Arbeiter*innenregierung, welche den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees in den Fabriken, Stadtteilen, Universitäten etc. vorantreibt, Entlassungen verbietet und alle gerichtlichen Fälle aufklärt und die Täter bestraft. Wer heute die Mörder von Kader bestraft sehen möchte, muss unbedingt für diese Perspektive eintreten.

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