D’Wiesn: Ein Fest für den Chauvinismus

28.09.2015, Lesezeit 10 Min.
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// Das Oktoberfest hat begonnen und mit diesem die Zeit der Exzesse und des Sexismus. Was ist der wahre Charakter dieses Festes und welche Interessen stehen dahinter? //

„ O’zapft is‘!“, dieses Jahr mit nur zwei Schlägen. Wie viele Hammerschläge der*die Oberbürgermeister*in zum Anzapfen des ersten Oktoberfest-Fasses braucht, ist eine Prestigefrage in München. Bürgerliche Politiker*innen müssen sich hier ausgiebig blicken lassen, um ihre Einheit mit dem Volk zu demonstrieren. Unter ihnen spielt sich inmitten der Landeshauptstadt das ab, was ironisch „Ausnahmezustand“ genannt wird.

In dieser Zeit fallen nicht nur Busse und Bahnen aus. Zwar wünscht Oberbürgermeister Reiter (SPD) nach dem Anzapfen rituell allen ein „friedliches Fest“, doch es ist schon vorher klar: D’Wiesn wird wieder eine Zeit der ständigen Gewalt, des Rassismus und der sexuellen Belästigung. Die Schlägerei ist ein geduldetes Ritual, an dem chauvinistische und oft korrupte Securities aus der Türsteherszene mehr teilnehmen als ihm entgegenzutreten. Jemand sprichwörtlich den Bierkrug über den Kopf zu ziehen, das passiert oft genug, ist aber nur der Gipfel des Eisbergs an Barbarei auf diesem Fest.

Die Grenze des Konsenses

„A bisserl was geht immer“, steht auf einer Schaufensterwerbung mit Oktoberfest-Motto. Das berühmte Zitat des Lokalhelden und „Stenz“ Monaco Franze, einer Art Münchner Casanova-Figur, ziert Unterwäsche-Werbung im Wiesn-Look. Viele Männer fassen dieses Sprichwort in der Praxis als Aufforderung zur Belästigung auf. Die Grenze des Konsenses verschwimmt auf der patriarchalen Bühne des „trunkenen Abenteuers“.

Die Zurschaustellung aggressiver Männlichkeit ist fester Bestandteil dieser Inszenierung: Am „Hau den Lukas“, einem berühmten Kraft- und Geschicklichkeitsspiel, bedeutet das schlimmste Ergebnis den Titel „Schlappschwanz“. Und schon wer Frauen nicht sexuell belästigt oder schlägt, darf sich „Wiesn Gentleman“ nennen, das ist Resultat einer relativ neuen NGO-Initiative gegen sexistische Gewalt, die an die „Selbstkontrolle“ der Männer appelliert. Viel präsenter als die wenigen eher gut versteckten Aufrufe gegen sexistische Gewalt ist die sexistische Werbung: Der weibliche Busen, oft ohne die dazugehörige Frau, ist ein zentrales Objekt in den Werbungen zur Wiesnzeit. Im Voraus wählen alle Münchner Tageszeitungen je ein „Wiesn Madl“ des Jahres, jedes Jahr.

Man mag nun sagen: „Es geht halt freizügig zu!“ Doch für Frauen gilt auf dem Fest, das sich in der Selbstdarstellung der „freien“ Sexualität widmet, ein strenges Reglement, dessen Nichtbeachtung sexualisierte Beleidigungen nach sich zieht. Nicht kürzer als bis zum Knie sollen die Röcke sein, sonst gelten sie vielen als zu anzüglich und ihre Träger*innen werden regelmäßig diffamiert. „Was läufst du auch so rum“, dürfen sich Frauen und Mädchen anhören, wenn sie Opfer von sexualisierten gewalttägigen Übergriffen werden.

Wo die Schleife am Kleid sitzt, soll schließlich den Familienstand der Trägerin anzeigen – das beachtet zwar eine Minderheit, aber die Anordnung zeigt schon dadurch Wirkung, dass auf Facebook, in Regionalzeitungen, in der Schule und im Freundeskreis viel darüber geredet wird: „An der Schleife siehst du die Verfügbarkeit der Frau“, heißt das. Anstatt dass sie in jeder Situation selbst darüber entscheidet, mit welchem Mann* oder mit welcher Frau* sie intim sein will.

Die Münchner Polizei behauptet, Alkoholkonsum verleite zu sexuellen Übergriffen und mache „leichter zum Opfer einer Sexualstraftat“. Dieses mit der kapitalistischen Werbung und vom bürgerlichen Staat geförderte Klima der rape culture, in dem Belästigung eine lässliche Sünde ist und Frauen halt auf der Hut sein sollen, ermöglicht erst das Ausmaß sexistischer Gewalt um das Fest.

Obwohl die offiziellen Aufzeichnungen von der „Wiesn-Wache“ unmittelbar an der Festwiese nur an der Oberfläche kratzen, weil kaum ein Delikt zur Anzeige kommt, deuten sie die Abgründe an, die regelmäßige Besucher*innen des Fests kennen: Gewalt, Rassismus, Sexismus. Hitlergrüße gehören in diesen Berichten ebenso zum Standard-Repertoire wie Maßkrug-Schlägereien. Ein Faschist urinierte gegen das Oktoberfest-Attentat-Mahnmal für die Opfer des rechten Terroranschlags 1980. Die Polizei nennt Männer, die Frauen belästigen, beschönigend „Liebestolle“. Praktisch gar nicht geahndet wird „Partnergewalt“ gegen Frauen.

Wer in der „Hauptstadt der Herzen“ nicht willkommen ist

Männern, die auf die Wiesn kommen, wurde ein fatales Versprechen gemacht: Hier bist du der Herr der Welt – auch wenn du es in deinem Job, in deiner Schule oder Ausbildung nicht sein kannst. Da er nicht das Kapital und seine Produktionsmittel unterwerfen kann, bleiben ihm Machismus und wenn er weiß und deutsch ist, auch lokaler Nationalismus gegen männliche „Südländer“, die als Konkurrenz um Frauen konstruiert werden.

Die ganze Rohheit der bürgerlichen Gesellschaft tritt auf dem „friedlichen Fest“ offen zutage: „Wenn du nichts verträgst, warum kommst du dann hierher?“, ist ein häufig gehörter Spruch gegenüber Ausländer*innen genauso wie gegenüber Deutschen mit Migrationshintergrund, auf den manchmal Schubsen und Schläge folgen. Rassistische Beleidigungen und Angriffe sind in den Bierzelten etwas Normales, aber auch an Bahn- und Busstationen in der ganzen Stadt. In der kapitalistischen Feier der „Heimat“ richtet sich die Frustration nicht gegen ihre echten Ursachen in Arbeitsstress und sozialer Unsicherheit, sondern gegen Frauen und andere Ethnien.

Doch auch der Rassismus fällt nicht vom Himmel. Er wird durch die rassistische Regierungspolitik direkt in die Bevölkerung gepflanzt. Schon vor der Geflüchtetenkrise wurden Migrant*innen und Deutsche migrantischer Herkunft gesetzlich und sozial diskriminiert und waren nationalistischen Angriffen ausgesetzt. Die europaweite Geflüchtetenkrise spitzt aber den bestehenden Nationalismus nochmal zu.

Deutschland sei „überfordert“ mit anreisenden Geflüchteten, die „öffentliche Ordnung (steht) kurz vor dem Zusammenbruch“, so Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer. Sein Innenminister Joachim Herrmann äußerte „Bedenken“, wenn Geflüchtete auf Oktoberfestbesucher*innen treffen. Die SPD-Sozialdezernentin bezeichnete die Geflüchteten während der Wiesnzeit als „Sicherheitsrisiko“. Politiker*innen aus CSU und SPD sind sich nicht zu schade, die rassistisch angeheizte Stimmung der Wiesn als Drohung gegen Geflüchtete einzusetzen.

Schon als die geflüchteten Non-Citizens 2013 das Münchner Gewerkschaftshaus solidarisch besetzten und ihre Klassengeschwister um politische Unterstützung baten, forderten die sozialdemokratischen Bürokrat*innen des DGB ein Verlassen zu Wiesnbeginn, ebenfalls aus vorgeschobener Angst vor rassistischen Angriffen.

Diesmal war die Situation mit den Zehntausenden Ankommenden viel schärfer und das Ergebnis ein Stopp der Bahnen aus Ungarn und Österreich sowie verschärftes racial profiling (rassistische Polizeikontrollen) am Bahnhof. Nicht alle sind willkommen in der „Hauptstadt der Herzen“, wie sich die städtische PR selbst benannt hat.

Unsere Klasse hat nichts zu feiern

Noch vor dem Anstich der ersten Fässer rollen die Wiesn-Wirte mit den königlichen Begleitrhythmen der Trachten- und Blasmusikvereine auf die Festwiese. Sie sind die, die eigentlich zu feiern haben: die Bourgeoisie. Für ihre Klasse sind die beiden September- und Oktoberwochen ein Profitfest, basierend auf der Ausbeutung der Lohnarbeiter*innen unter staatlich garantierten Sonderbedingungen.

Nicht nur, dass ihnen der Rassismus und Sexismus nützt, der unsere Klasse der Lohnabhängigen spaltet und gegeneinander aufbringt. Während auf dem Betriebsausflug das „gute Bier alle Klassenunterschiede verwischt“ (Nadeschda Krupskaja), gilt auch ein Ausnahmezustand für die Lohnarbeit selbst: Die gesetzlich seit Januar vorgeschriebenen Mindestlohnregelungen, die Arbeitszeitbestimmungen umfassen, wurden bereits im März für Oktoberfest-Wirt*innen per Ausnahme wieder ausgesetzt.

Der Gewinn des Kapitals kommt also nicht etwa aus „betrügerischem Ausschenken“, wie es ein bekannter kleinbürgerlicher Verein aus München meint, der sich seit Jahrzehnten ausschließlich für volle Maßkrüge engagiert. Er kommt direkt aus der Ausbeutung der Arbeitskraft: Für die 3.000 Euro, die eine Bedienung am Oktoberfest verdient, machen die Kapitalist*innen ein Vielfaches.

Dabei werden die arbeitenden Frauen von den Gästen durchgehend sexuell belästigt. „Damit umgehen zu können“ gilt als Einstellungsmerkmal, sagen langjährige Beschäftigte. Die Frauen, die auf der Wiesn arbeiten, werden für ihre Einstellung sogar nach ihrer BH-Größe gefragt. Das Risiko für geprellte Zechen tragen sie selbst, da sie den Bier-Bossen die Maßkrüge abkaufen müssen. Die Pausen bestehen vor wie nach dem Mindestlohn maximal auf dem Papier, gearbeitet wird aber rund um die Uhr. Und nicht nur die Bedienungen selbst, auch anderswo in München beschäftigte Arbeiter*innen, besonders im Hotel- und Gastronomiegewerbe, bekommen besonders harte Arbeitsbedingungen durch ständige aggressive Trunkenheit ihrer Gäste und Überstunden ab.

Nicht keine Party, sondern gute Party

Trotz alledem ist das Oktoberfest in der Wahrnehmung der meisten Arbeiter*innen und Jugendlichen, aber auch für die Mehrheit der Frauen, LGBTI* und Migrant*innen einfach nur ein schönes Fest, an dem sie den Alltag für kurze Zeit hinter sich lassen können. Und tatsächlich ist nicht das Feiern reaktionär, sondern seine Umstände. Anders als zum Beispiel die maoistischen Vertreter*innen einer „Theorie“ des Kulturimperialismus, sind wir keine Gegner*innen der ausgelassenen Party, der freien Sexualität oder des Alkohols. Wer sich enthalten will, soll das tun können, doch es spricht gar nichts gegen einen einvernehmlichen Exzess in der Masse.

Dabei Filzhüte und nachempfundene Trachten zu tragen, könnte ebenso lustig wie harmlos sein, wenn es keinen Raum für chauvinistische Angriffe unter dem Mantel von Tradition und Exzess gäbe. Denn genauso wenig wie „Tradition“, Bier oder sexuelle Lust ist die schiere Existenz einer Menschenmenge auf der Wiesn an der reaktionären Gewalt schuld. Ob eine „Masse“ streikt, die Kapitalist*innen enteignet, die Grenzen öffnet und die Rechte der Frauen* erstreitet – oder ob sie im Gegenteil pöbelnd und schlagend ihre Klassengeschwister angreift, hängt von ihrem Klassencharakter und -bewusstsein ab. Alle Umstände auf dem Oktoberfest aber verhindern eben, dass die Masse sich bewusst im Sinne ihres mehrheitlichen Arbeiter*innen-Interesses verhält, sondern heizen stattdessen die bestehenden, kapitalistischen Ressentiments und Chauvinismen an.

Niemand kann oder sollte der Jugend das Trinken verbieten. Aber wir können und müssen die rassistischen und sexistischen Strukturen des Staates angreifen, die aus einem Trinkgelage auf der Wiesn – und ebenso auf Dorf-, Frühlings- oder Schützenfesten – immer wieder eine reaktionäre Barbarei machen. Und wir müssen dem deutschen Imperialismus den Kampf ansagen, der Rassismus und Sexismus nicht nur selbst praktiziert, sondern auch die eigenen kapitalistischen Widersprüche mithilfe des Chauvinismus in die Arbeiter*innenklasse trägt.

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