Die Energieabhängigkeit der EU als Stolperstein imperialistischer Ambitionen
Deutschland will sich von russischer Energieversorgung unabhängiger machen. Das ist leichter gesagt als getan. Was ist die Alternative?

Jedes imperialistische Land muss seine eigenen Rohstoffquellen haben, vor allem für den Krieg, d. h. für einen neuen Kampf um Rohstoffe. Um sich fernerhin zu bereichern, zerstören und verwüsten die Kapitalisten alles, was die Arbeit von Jahrhunderten geschaffen hat. – Leo Trotzki, Der imperialistische Krieg und die Weltrevolution, 1940.
Wenn der Kapitalismus keinen Ausweg aus seiner Krise findet und seine inneren Widersprüche ihn daran hindern, Kapital ungestört zu vermehren und zu akkumulieren, greift er immer wieder zum Krieg, um die Produktivkräfte zu zerstören: Brücken, Fabriken, Gebäude, Straßennetz usw. werden vernichtet, um wieder einen fruchtbaren Boden für die Akkumulation von Kapital zu schaffen.
Der unbeschwerte Zugang zu Rohstoffen bei gleichzeitiger Angebotsknappheit wäre allein Grund genug, damit sich Kapitalist:innen-Fraktionen in verschiedenen Ländern untereinander bekriegen. Putin und die russische Oligarchie wollen ein Sicherheitsperimeter um Russland gegenüber den NATO-Ländern schaffen, um nicht nur die nationale, sondern auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Landes zu schützen. Es geht um die Anerkennung als regionale Macht und darum, wichtiger Rohstofflieferant des Westens zu bleiben. Der deutschen Bourgeoisie geht es im Wesentlichen darum, die Stabilität in Osteuropa nicht zu gefährden, um die jetzige Produktivität zu garantieren und im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Die USA dagegen wollen Russland in die Knie zwingen, um China Grenzen bei seiner Expansionspolitik aufzuzeigen. Eine durchaus verzwickte Lage, bei der am Ende die ökonomischen Interessen ausschlaggebend sein werden.
Anders als die Propaganda von Putin oder die NATO weismachen wollen, geht es im jetzigen Konflikt also nicht um hehre Ziele, sondern um blanke wirtschaftliche Interessen und geopolitische Machtstellungen, die auf dem Rücken der Weltbevölkerung ausgetragen werden.
Die Achillesferse des imperialistischen Europas: Energieabhängigkeit
Gas- und Öllieferanten sind rar und im Allgemeinen weit von Europa entfernt. Die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl ist in Europa unterschiedlich stark ausgeprägt (siehe Grafik).
Zunächst einmal stammt der größte Teil des Erdgases in der EU von nur drei externen Produzenten: Russland, Norwegen und Algerien, wobei Russland der größte Gaslieferant des Kontinents ist. Die EU importiert heute 90 Prozent des Gases, das sie verbraucht. Russland liefert 62 Prozent der gesamten Einfuhren der EU im Wert von rund 99 Milliarden Euro. Im Jahr 2011 betrug die Energieabhängigkeit der EU von Russland sogar noch 77 Prozent.
Wenn es um die Energieabhängigkeit der EU geht, muss jedoch zwischen den verschiedenen Nationen und Regionen differenziert werden. Allein die beiden größten europäischen Volkswirtschaften – Deutschland und Frankreich – sind in ungleichem Maße von russischem Gas abhängig. Die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Gases kommt aus Russland. Dabei gehört Deutschland weltweit zu den Ländern, die am meisten mit Gas heizen. Über 40 Gasspeicher sorgen in Deutschland dafür, dass die Haushalte der Arbeiter:innen in den kalten Monaten warm bleiben. Zurzeit sind die Gasspeicher jedoch kaum gefüllt – und sie aufzufüllen ist schwierig.
Frankreich steht etwas besser als Deutschland da, da es nur ein Viertel seiner Lieferungen aus Russland bezieht. Frankreichs größter Gaslieferant ist Norwegen, das indes wiederum 35 Prozent seines Gases aus seinem Nachbarland bezieht. Auch Italien, mit 46 Prozent die viertgrößte Volkswirtschaft Europas, ist in hohem Maße von russischem Gas abhängig. Das Vereinigte Königreich hingegen hat gegenüber Deutschland gewisse Vorteile, da es die Hälfte seiner Gasversorgung aus lokalen Quellen bezieht und hauptsächlich aus Norwegen und Katar importiert. Die größten Handelspartner Spaniens sind Algerien und die Vereinigten Staaten. Die Niederlande erhalten fast kein russisches Gas.
Kritisch ist die Situation in Osteuropa, wo mehrere Länder vollständig auf russisches Gas angewiesen sind. Länder wie Finnland, Lettland und Serbien sind ebenfalls stark von Russland abhängig. Der Fall der Ukraine ist mehr als tragisch, denn seit 2015, nach dem Konflikt auf der Krim, kauft sie Erdgas aus der Europäischen Union, das heißt. sie reimportiert russisches Gas über die EU.
Ob Deutschland es als wichtigste Ökonomie Europas gemeinsam mit Frankreich schafft, allen Ländern der EU ein zufriedenstellendes Angebot für eine Zukunft nach dem Ukraine-Krieg zu machen, ist mehr als fraglich. Denn die BRD hängt am russischen Gashahn und am chinesischen Absatzmarkt, der aufgrund der Null-Covid-Politik der Staatsführung die globale Wirtschaft mit immer neuen Lockdowns lahmlegen kann.
Billige Energie als Schlüssel zur deutschen Wettbewerbsfähigkeit
Nach Ansicht bürgerlicher Analyst:innen könnte Deutschland die Versorgung mit russischem Öl und Kohle einstellen, aber nicht mit Gas. Dass diese Situation ein ungelöster Widerspruch ist, wird durch die Erkenntnis deutlich, dass bei einem plötzlichen Ausfall der russischen Energielieferungen nicht „individuelle Komforteinschränkungen“, sondern gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Schäden „schwersten Ausmaßes“ resultieren würden, wie es Wirtschaftsminister Habeck formulierte. Erst in etwa fünf Jahren, wenn Deutschland sich beeilt und die nötige Infrastruktur aus dem Boden stampft, wäre es in der Lage, ohne russisches Gas zu leben, das stattdessen durch Flüssiggas aus den USA oder Katar ersetzt werden würde.
Andernfalls wären die ökonomischen und sozialen Auswirkungen nicht mehr überschaubar, was die Gefahr einer unkontrollierten Kettenreaktion auslösen könnte. In der Region um Ludwigshafen zum Beispiel würde man die Auswirkungen des Boykotts schnell spüren, branchenübergreifend, wie die IHK warnt. Beim Chemieriesen BASF müsste dann bei einer Verknappung des Erdgases die Produktion von Basischemikalien und Derivaten reduziert werden. Bei einer Reduzierung um die Hälfte des benötigten Gases müsste BASF sogar den Betrieb in Ludwigshafen ganz einstellen. Die sozialen Kosten und die Gefahr von Protesten wären gewaltig. Mit anderen Worten: Der Standort Deutschland kann sich kein echtes Embargo leisten, denn sonst würden bedeutende Sektoren der deutschen Industrie in den Ruin getrieben, Massenarbeitslosigkeit und soziale Proteste wären die Folge. Ein Albtraum für Kapitalist:innen.
Der Grund dafür liegt in der Bedeutung von Gas in der verarbeitenden Industrie, allen voran der chemischen und erdölverarbeitenden Industrie. Die chemische Industrie liefert die Grundprodukte für fast alle verarbeitenden Industrien, von Schutzkleidung, Desinfektions- und Reinigungsmitteln bis hin zu medizinischen Geräten, Lebensmitteln, Verpackungen, Reinigungs- und Hygieneprodukten, Medikamenten und Düngemitteln. Das Management von BASF warnt sogar davor, dass ein Rückgang der Ammoniakproduktion zu einer Verknappung des Düngemittels in der Landwirtschaft führen würde, was wiederum die landwirtschaftlichen Erträge weiter gefährden würde. Die Preise für Importe auf Mineraldünger haben sich gegenüber letztem Jahr bereits verdreifacht. Düngemittelengpässe könnten sich weltweit ausbreiten und die Grundnahrungsmittel noch teurer machen.
Eine noch schärfere Gangart Deutschlands gegenüber Russland könnte wie ein Boomerang Deutschland selbst mehr konkreten Schaden zufügen als potentielle Vorteile bringen. „It’s the economy, stupid!“ Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf, sagte einst der Berater von Bill Clinton, als sich dieser erstmals um das US-Präsidentenamt bewarb. Die Ökonomie spielt, wie auch bei den Wahlen, die alles entscheidende Rolle. Die Abhängigkeit zum russischen Gas und Erdöl Deutschlands ist die Stärke Putins. Deutschland bezieht weiterhin russisches Gas, und trägt dadurch mit dazu bei, dass die russische Armee operativ sein kann. Und mit jedem Tag, der vergeht, wachsen die Gefahren für den ambitionierten Plan Deutschlands, zur dritten Macht weltweit aufzusteigen.
Deutschland, die Sanktionen und die Machbarkeit einer raschen energetischen Abkopplung von Russland
Deutschland importiert fast 70 Prozent seiner benötigten Energieressourcen aus dem Ausland, und Russland ist derzeit der größte Lieferant von fossilen Energien. Eine freilich wünschenswerte weitgehende Umstellung auf erneuerbare Energien würde selbst Unmengen an Energie erfordern, die beim Ausbleiben von Erdgas und Erdöl nicht mehr unmittelbar vorhanden wäre.
Jedoch sind fossile Energiequellen angesichts der wirtschaftlichen Architektur des Kapitalismus heute unerlässlich im industriellen und landwirtschaftlichen Bereich. Deshalb muss Deutschland so schnell wie möglich, will es die Abhängigkeit von Russland verringern, in einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, aber auch in die LNG-Infrastrukturen zur Diversifizierung der Gasversorgung investieren. Dass ein solches Vorhaben gewaltige Dimensionen hat, ist unbestritten, und noch schwieriger zu gestalten, da es begrenzte Möglichkeiten auf der Angebotsseite gibt, und selbst dann müssten gewaltige Infrastrukturprojekte geleistet werden.
Dieser Umstand erklärt, wieso trotz flammender Reden eine europäische energetische Unabhängigkeit nicht von heute auf morgen hergestellt werden kann. Dies erklärt die Taktiererei Deutschlands gegenüber Russland. So sind Zahlungen im Zusammenhang mit dem Kauf von russischer Energie noch immer von den Sanktionen gegen bestimmte russische Banken ausgenommen. Nur eine der fünf größten russischen Banken ist von der totalen Blockade betroffen, und nur sieben russische Finanzinstitute sind vom Zugang zum internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT abgeschnitten. Die härtesten Angriffe konzentrierten sich auf den russischen Bankensektor und den Verteidigungssektor, während die großen russischen Bergbau- und Metallproduzenten sowie der Verkehrs- und Schifffahrtssektor keinen größeren Einschränkungen unterworfen sind.
Tatsächlich lag der Tankerverkehr in russischen Häfen 2022 auf dem Niveau der Vorjahre, wie die von Robin Brooks, Chefvolkswirt des IIF und ehemaliger Chefwährungsstratege bei GoldmanSachs, veröffentlichte Grafik zeigt:
Quelle: @RobinBrooksIIF
Der Grund dafür ist, dass die Wirtschaft so globalisiert und die Lieferketten so verflochten sind, dass ihre Unterbrechung nicht über Nacht möglich ist. Die Energieabhängigkeit entwickelt sich zur Achillesferse des Imperialismus und hat ganz unerwartete Auswirkungen: Der russische Leistungsbilanzüberschuss, der von der enormen Verteuerung von Energieressourcen wie Öl und Gas profitiert, ist in die Höhe geschossen. Wie sehr, zeigt ein Vergleich der ersten Monate des Jahres 2022 mit dem Durchschnitt der Jahre 2007 bis 2011, wie folgende Grafik veranschaulicht.
Quelle: @RobinBrooksIIF
Um dem entgegenzuwirken, versucht Deutschland verzweifelt, die Abhängigkeit zu verringern, und das Angebot zu diversifizieren, denn ein kompletter Verzicht auf die billige Energie aus Russland ist schlichtweg von heute auf morgen trotz anderslautender westlicher Propaganda nicht machbar.
Damit dieser ehrgeizige Plan in die Tat umgesetzt werden kann, ist jedoch eine konzertierte Aktion der EU-Staaten erforderlich. Andernfalls wäre Russland im Vorteil, weil es keinen Konkurrenten gibt, der mithalten könnte. Denn wie der Analyst Richard J. Anderson schreibt: „Als Produzent und Exporteur von Gas ist Russland unübertroffen. Im Jahr 2005 produzierte Russland 22 Prozent des weltweiten Erdgases. Mit 47,55 Billionen Kubikmetern Erdgas verfügt Russland über 27,5 Prozent der weltweiten Reserven. Die nächsten Länder mit nachgewiesenen Ressourcen sind der Iran mit 15,9 Prozent der weltweiten Reserven und Katar mit 14,9 Prozent. Kein anderes Land verfügt über mehr als 4 Prozent der weltweiten Gasreserven. Russland verfügt über das Erdgasäquivalent zu Saudi-Arabiens Vormachtstellung (25 Prozent) bei den weltweiten Ölreserven. Aufgrund des Phänomens der regionalisierten Preisbildung bei Erdgas hat Russland aufgrund seiner dominanten Stellung auf dem europäischen Markt einen weitaus größeren Einfluss als ein typischer Energieerzeuger“.
Die Entscheidung der Europäischen Kommission, den Mitgliedstaaten zu gestatten, russisches Gas im Tausch gegen in Rubel konvertierbare Dollar und Euro zu beziehen, kam also nicht ganz überraschend. Die Energienachfrage, insbesondere in hoch entwickelten Volkswirtschaften, ist nicht elastisch. Um das aktuelle Produktivitätsniveau aufrechtzuerhalten, ist es notwendig, die derzeitige Nachfrage zu befriedigen, die voraussichtlich noch steigen wird. Vor diesem Hintergrund kündigte Ursula von der Leyen an, dass die EU-Länder gemeinsam Gas kaufen wollen. „Wir haben eine enorme Kaufkraft“, sagte sie über die EU, die etwa 75 Prozent des derzeitigen Marktes für Pipeline-Gas ausmacht. Die Teilnahme an dieser Art von Kartell der Gasabnehmer wird „freiwillig“ sein. Diese Ankündigung steht im Zusammenhang mit der Vereinbarung mit US-Präsident Joe Biden, nach der die EU künftig große Mengen Flüssigerdgas (LNG) aus den Vereinigten Staaten beziehen wird, um ihre Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu verringern.
Deutschland seinerseits, bewusst über die Problematik einer zu starken energetischen Abhängigkeit von den USA, sucht nach weiteren Lieferanten nun auch in Afrika. Der kürzliche Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Afrika zielt in diese Richtung. Afrikanische Länder können einen Großteil des LNG-Bedarfs decken, heißt es jetzt. Allerdings müsste sich Deutschland bei Investitionen in Afrika beeilen, denn China liegt schon auf der Lauer. Der Auswirkungen auf die Umwelt wären verheerend, jedoch würden sie ein grünes Siegel tragen, womit sich die Anhänger:innen des „Grünen Kapitalismus“ zufrieden zeigen sollten. Auf dem Tisch liegen zahlreiche Vorschläge, wie etwa die westafrikanische Pipeline in Nigeria (Benin, Togo und Ghana werden mit Erdgas aus Nigeria versorgt), die man bis zum Senegal und Mauretanien verlängern und von da aus direkt nach Europa weiterleiten könnte. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Pipeline durch Nigeria, Niger und Algerien in Richtung Europa. Das „einzige“ Problem wären jetzt die bereits unterschriebenen Verträge vieler afrikanischen Länder mit China, was zu Stellvertreterkriegen bis hin zu direkten Konfrontationen mit anderen, ebenfalls in Afrika operierenden, Ländern führen würde.
Der Krieg in der Ukraine wird somit nicht nur zur Rechtfertigung für die Wiederbelebung des Militarismus in Europa herangezogen, sondern auch zur Rechtfertigung für Ressourcenverschwendung in Form ungenutzter bestehender Kapazitäten und des Ausbaus umweltschädlicher Großprojekte, die im Sinne der Interessen der USA stehen. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass Afrika aufgrund seiner Rohstoffquellen wieder einmal von imperialistischer Bestrebungen ausgeraubt und ausgeschlachtet werden wird.
Zwischenstand
Angesichts dieser Aussicht werden die Risse, die die EU plagen, wieder einmal sichtbar. Im Moment scheint das deutsche Kapital in seinem hegemonialen Projekt voranzukommen. Es ist jedoch noch zu früh, um eine genaue Diagnose zu stellen. Sicher ist, dass dieser Aufbruch nicht leicht und auch nicht umsonst zu haben sein wird. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass trotz anderslautender imperialistischer Propaganda Russland nicht ohne Weiteres militärisch zu besiegen ist.
Die Europäische Union hat mittlerweile das sechste Sanktionspaket gegen Russland verabschiedet, einschließlich eines Ölembargos. Dabei haben die Mitgliedstaaten sechs Monate Zeit, um die Einfuhr von Rohöl auf dem Seeweg einzustellen, und acht Monate, um andere raffinierte Ölprodukte zu reduzieren, was sicherlich zu Spannungen mit Griechenland führen wird. Jüngsten Daten zufolge haben die griechischen Öltanker die Ölförderung aus russischen Häfen um 14 Prozent gegenüber dem Kriegsbeginn erhöht, was die Fähigkeit Deutschlands in Frage stellt, ein überzeugendes hegemoniales Projekt aufzustellen.
Um den Anschein der Solidarität zu bewahren, wurden auch die Wünsche von Staaten wie Ungarn, Bulgarien und Kroatien bedient: Die Pipelines nach Ungarn sind vorübergehend vom Ölembargo ausgenommen, Bulgarien und Kroatien wurden Zugeständnisse bei der Einfuhr von See- und Vakuumgasöl gewährt. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission werden die Sanktionen bis Ende dieses Jahres zu einem Rückgang des russischen Ölhandels in der EU um 92 Prozent führen. Auch Spanien und Portugal hatten Forderungen geltend gemacht, denen ebenfalls nachgekommen wurde. Die EU-Kommission erlaubt ihnen nun, Verbraucher:innen bei den Energiekosten zu entlasten. Dafür sollen mehr als acht Milliarden Euro Staatsgelder an die Energiekonzerne fließen. Das bedeutet eine direkte Subventionierung der Energiekonzerne.
Dieser Umstand ist der Tatsache geschuldet, dass wir, wenn wir von der Europäischen Union sprechen, kein einheitliches Gebilde, keinen „Superstaat“ meinen, sondern ein Konglomerat von 28 Ländern mit ungleicher Wirtschaft und Produktivität und daher mit jeweils eigenen wirtschaftlichen (und politischen) Interessen, die durch politische Vereinbarungen zusammengehalten werden, welche auf dem Verhältnis der wirtschaftlichen Kräfte beruhen. Angesichts der spannungsgeladenen Vergangenheit der EU ist es schwer vorstellbar, dass die EU eine einheitliche Position findet. Je länger der Krieg dauert, desto stärker werden die im Verborgenen liegenden Spannungen mit Kraft an die Oberfläche gelangen.
Der Faktor Zeit ist relevant
Jahrzehntelang haben Bundesregierungen in verschiedenen Konstellationen von der Energiewende gesprochen: Ausstieg aus der Atomkraft, Ende der Kohleverstromung, Ausbau der erneuerbaren Energien. Jedoch genau beim letzten Punkt folgten den großen Worten keine Taten. Die Anteile von Wind- und Sonnenergie wuchsen zwar, jedoch bei weitem weit hinter ihrem Potential.
Nun, ruckartig, soll alles ganz schnell erfolgen. Erdgas soll die Zeit überbrücken, bis die erneuerbaren Energien die Hauptlast der deutschen Energieversorgung tragen können. Diese Brücke könnte jedoch viel länger sein als viele Beobachter:innen eigentlich erwarten. Das gilt für den Wärmemarkt, für industrielle Prozesse und für den Stromsektor. Sicher ist, dass Jahrzehnte vergehen werden, bis in all diesen Bereichen erneuerbare Energien und synthetische Kraftstoffe auf Basis erneuerbarer Energien die Energieversorgung vollständig übernommen haben. Wenn Deutschland die Gasimporte aus Russland reduzieren will, ist der Aufbau einer leistungsfähigen LNG-Infrastruktur gemeinsam mit europäischen Partnern und zuverlässigen globalen Lieferanten eine unerlässliche Aufgabe, die viele Opfer mit sich bringen wird.
Zunächst ist da die Frage der Kostenverteilung unter den europäischen Partnern. Dann die Frage der Standorte und schließlich die der Gefahr für Mensch und Umwelt, die von LNG-Terminals ausgehen. Solche Terminals sind alles andere als klimaneutral, wie das Portal Energiezukunft berichtet: „Denn solche Anlagen stellen einen sogenannten Störfallbetrieb dar, der bei unsachgemäßen Betrieb Sicherheitsrisiken, wie Explosionsgefahren birgt. Deswegen gilt es, laut geltendem Recht, eigentlich Sicherheitsabstände zu benachbarten Schutzobjekten und anderen möglichen Gefährdungsquellen zu wahren.“ Dass nicht immer genau hingeguckt wird, ist schon heute am Beispiel des angestrebten Terminals bei Brunsbüttel zu beobachten, wo im Eilverfahren Klagerechte von Umweltverbänden eingeschränkt werden, um das fossile LNG-Terminal Brunsbüttel durchzudrücken, aufgrund „überragenden öffentlichen Interesses“, wie die Umwelthilfe mitteilt. Jedoch wird es nicht bei einem LNG-Terminal bleiben. Der Bundesrat hat bereits die Pläne für einen beschleunigten Bau von Flüssiggas-Terminals und zu möglichen Enteignungen von Energieunternehmen zugestimmt.
Gegen den Krieg mit Öko-Anstrich! Für eine Klassenantwort!
Wie Trotzki schrieb, ist das kapitalistische Gleichgewicht ein kompliziertes Phänomen, das alles andere als stabil ist.1 In ihrem Konkurrenzkampf zerstören die Bourgeoisien dieses Gleichgewicht immer wieder, um es neu wiederherzustellen und dabei die eigene Einflusssphäre zu erweitern. Wirtschaftskriege und militärische Kriege sind Ausdruck des Bruchs des kapitalistischen Gleichgewichts. Der Krieg in der Ukraine tobt nun seit mehr als drei Monaten, die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur ist gewaltig, das Leiden der Bevölkerung ist enorm und die Möglichkeit, dass dieser Krieg die Lebensbedingungen von zig Millionen Menschen auf der Welt in Gefahr bringt, wächst von Tag zu Tag.
Jedoch schließen heute Millionen Menschen, angeekelt vom brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine, die Reihen hinter ihren eigenen Bourgeoisien. Selbst ehemalige Pazifist:innen stehen hinter der Lieferung schwerer Waffen gegen Putin. Sie behaupten ja, die Welt sei plötzlich eine andere geworden. Jedoch wissen revolutionäre Marxist:innen, dass dies Unfug ist, denn der Krieg gehört zum Wesen des Kapitalismus. Sich auf Kosten anderer zu bereichern, geht nicht ohne Waffengewalt. Das deutsche Kapital – Erbe von Auschwitz – schickt wieder Panzer gen Osten, um die deutsche Vormachtstellung auf eine neue Stufe zu bringen. Heute trägt aber der Krieg um Ressourcen keinen braunen Anstrich, sondern ein grünes Siegel.
Die deutschen Grünen waren bereit, all ihre umweltfreundlichen Worte der jüngsten Vergangenheit über Bord zu werfen: in der Haltung zum ehemals ach so ethisch überlegenen Pazifismus und in der Haltung zur Energiegewinnung. Im ersten Fall vollzogen sie innerhalb weniger Wochen eine bemerkenswerte Kehrtwende von „nichts, was schießt“, zu „alles, was schießt“. Auf der zweiten Ebene sind sich die Grünen auch nicht zu schade, nun doch US-amerikanisches Gas, das mit der umstrittenen Fracking-Methode gewonnen wird, welche zu einem erheblichen Anstieg umweltschädlicher Emissionen führt und eine ständige Gefahr für das Grundwasser darstellt, dem „sauberen“ russischen Gas vorzuziehen.
Dass der US-Bundesstaat Kalifornien Fracking ab 2024 verbieten will, hätte den deutschen grünen Umweltschützer:innen ein Dorn im Auge sein sollen, aber sie nehmen es in ihrer Kriegsbegeisterung nicht zur Kenntnis oder leugnen ihre Gewissheiten von früher.
Die Klimaschutzbewegung Fridays for Future (FFF) spricht sich grundsätzlich gegen Fracking-Gas aus. In der Wende der Bundesregierung im Rahmen der Ukraine-Krise, eine Abkehr von russischem Öl und Gas zu betreiben und stattdessen Fracking, Kohle und Atom als Ersatz zu nutzen, sieht FFF jedoch kein Problem. Wenn überhaupt, kritisiert die Spitze von FFF Deutschland die Bundesregierung in dieser Frage von rechts und wirft ihr vor, nicht schnell genug in der Abkopplung von russischer Energieversorgung voranzuschreiten. Das spricht nicht nur für eine ideologische und personelle Kooptierung der Spitzen dieser Bewegung durch die Grünen in der Regierung, sondern ist auch eine Unterordnung von FFF unter die kriegstreiberische Logik, die Wirtschaftssanktionen als Waffe gegen Russland nutzt.
Die Grünen ihrerseits haben sich als Etikettenschwindel entpuppt. Die Perspektive eines „grünen“ Kapitalismus führt in eine verstärkte Ausbeutung von Mensch und Umwelt.
Um diese katastrophale Entwicklung zu stoppen, brauchen wir einen grundlegenden Systemwandel, bei dem die Wirtschaft nicht nach den Profitinteressen von Aktionär:innen gestaltet, sondern rational im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung geplant wird.
In der FFF-Bewegung ist die Forderung nach einem „System Change“ geradezu allgegenwärtig, aber ihrem Inhalt nach sehr vage. Eine kürzlich in der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung veröffentlichte Studie versucht auszuloten, was verschiedene FFF-Aktivist:innen darunter verstehen. Und die Spannweite der politischen Statements ist groß. Diese reiche, schreiben die Autoren der Studie, Luca Karg und Maurice Laßhof, „von wirtschaftsliberalen Forderungen (wie sie etwa die FDP im Bundestagswahlkampf vertrat) über indikative und imperative Staatsinterventionen in den Markt und unternehmerisches Handeln sowie die Notwendigkeit von grünem Wachstum und ökologischem Konsum bis hin zu einer radikalen Kapitalismuskritik.“ Ganze 41,7 Prozent der Befragten waren jedoch der Meinung, dass die Klimakrise nicht im Kapitalismus zu lösen ist. Was für ein Programm muss sich diese linke Basis in FFF geben, um sich gegen die Regierung und gegen die schädlichen Positionen der Führung der Bewegung durchzusetzen?
Für ein Notprogramm, um Mensch und Umwelt zu erhalten
Eine antikapitalistische Perspektive darf nicht bei Verbalradikalismus stehen bleiben, sondern muss eine ökologische Wende im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung – also der Arbeiter:innen, der Jugend, der Rentner:innen, der Unterdrückten – entgegen der Interessen der Kapitalist:innen formulieren und organisieren. Eine echte ökologische Umwandlung kann nicht zusammen mit den Energiekonzernen wie RWE oder E.ON erfolgen, sondern nur gegen sie. Damit die Arbeiter:innen die Kosten des Krieges nicht tragen, fordern wir nicht die Anhebung der Spritpreise, sondern im Gegenteil einen Preisstopp, finanziert durch die Konzerne.
Die Pläne der Abkopplung von russischen Energiequellen erfordern nicht nur die Suche nach neuen Energieanbietern, neuer Infrastruktur usw., neue zwischenstaatliche Beziehungen in Europa, sondern – und noch wichtiger – eine Neukonfiguration des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Das imperialistische Kapital kann seine ambitionierten Pläne in Energiefragen nicht ohne eine Neudefinition der Beziehung zum westlichen Proletariat verfolgen. Denn die Kosten werden gewaltig sein und kein:e Kapitalist:in wird auf ihr oder sein „Recht auf Profit“ zugunsten der Allgemeinheit verzichten.
Die Kapitalist:innen werden alles daran setzen, die aufkommenden Kosten dem Proletariat aufzubürden – zunächst in Form von Preissteigerungen, später in Form von Kürzungen im sozialen Bereich und dann in Form von direkten Angriffen auf die Arbeit. Dabei haben ihre Kriege und ihre Krisen diese Misere erst verursacht – die Kapitalist:innen sollten also auch ihre Last tragen. Um das durchzusetzen, zeigten zuletzt die streikenden Hafenarbeiter:innen von Hamburg den einzigen Weg für Lohnabhängige und unterdrückte Sektoren: den des Kampfes.
Nach Angaben des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BEDW) stieg der Gaspreis für Haushalte in Mehrfamilienhäusern Anfang 2022 um 83 Prozent von 6,47 Cent pro kWh auf durchschnittlich 11,84 Cent pro kWh, Tendenz steigend. Angesichts steigender Verbraucherpreise greifen die Regierungen nun zu Maßnahmen, die nichts Grundsätzliches verändern, sondern die Taschen der Konzerne noch mehr füllen. So entpuppt sich der Tankrabatt als eine indirekte Subventionierung der Mineralölkonzerne, die den Steuerrabatt an die Verbraucher:innen nicht weitergeben. Bundesfinanzminister Christian Lindner stemmt sich dagegen, eine sogenannte Übergewinnsteuer bei Mineralölunternehmen anzulegen, die vom Ukraine-Krieg profitieren. Das Recht, sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern, soll also nicht angetastet werden. Die Mineralölkonzerne können sich weiterhin auf astronomische Gewinne freuen, die stets im Verborgenen bleiben. Um das zu beenden, braucht es die Offenlegung der Geschäftsbücher und die Enteignung der Mineralölkonzerne ohne Entschädigung.
Die Zukunft wird zeigen, was das deutsche Proletariat zu akzeptieren bereit ist. Aber es ist schwer vorstellbar, dass Haushalte in Deutschland im Winter ohne Strom und Heizung auskommen müssen – doch das ist genau der Kurs, den die Bourgeoisie vorbereitet. Diejenigen, die es sich leisten können, müssen sich entscheiden, ob sie exorbitante Preise zahlen oder in einem kalten und dunklen Haus leben wollen – eine Aussicht, die in Ländern wie Spanien, Portugal oder Griechenland bereits Realität ist. Der Begriff der Energiearmut – dort bereits eine bittere Realität für Millionen Haushalte – wird auch hierzulande zum allgemeinen Sprachgebrauch avancieren. Dagegen müssen wir uns wehren. Kein Arbeiter:innenhaushalt soll kalt und dunkel sein.
Der grüne Kapitalismus bietet darauf keine Antwort. Die einzige Perspektive, diese düstere Zukunft zu vermeiden, ist die entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der großen Energieunternehmen und damit die Schaffung eines einzigen öffentlichen Versorgungsunternehmens unter Kontrolle der Arbeiter:innen und der Verbraucher:innen. Nur auf diese Weise kann die Profitlogik, die die Menschen leiden lässt, ausgehebelt werden.
Für die Klimakatastrophe und selbst für die Frage der Energieversorgung kann es im nationalen Rahmen keine Lösung geben. Die kapitalistische EU als supranationale Koordinierungsinstanz nationaler Interessen stößt schon jetzt an ihre Grenzen und wird dies in Zeiten der Verschärfung zwischenstaatlicher Konflikte noch stärker tun. Die Frage nach der Zukunft Europas ist somit wieder brandaktuell. Unter kapitalistischen Vorzeichen ist weder eine andere Welt möglich, noch ein soziales Europa. Ein kapitalistisches Europa kann nur reaktionär sein, wie der jetzige Konflikt zeigt, wie die Mauer an den Außengrenzen der EU zeigen, wie die Pushbacks im Mittelmeer zeigen.
Unsere Losung lautet daher: Kampf dem Europa des Kapitals! Für eine Vereinigte Sozialistische Föderation Europäischer Staaten!
Fußnote
1 Vgl. Leon Trotsky: The first 5 years of the Communist International, Monad Press 1972, S.174, eigene Übersetzung
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