Der traurige Umgang der türkischen Linken mit der Geschlechterfrage

07.03.2012, Lesezeit 15 Min.
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In Deutschland und anderen westlichen Ländern war die 68er-Bewegung ein Anschub für die gesellschaftliche Entwicklung der Frauenbewegung und die Thematisierung der sexuellen Freiheit. In der Türkei allerdings wird die Geschlechterfrage von breiten Teilen der Linken nach wie vor als eine „bürgerliche“ Frage angesehen und außerhalb des Themas „Klassenkampf“ gestellt. Die Linke in der Türkei reduzierte die Frauenfrage stets auf ökonomische Ausbeutung in den Fabriken und Betrieben. Sie betrachtet z.B. das Thema Gewalt gegen Frauen in einem Prozess der ökonomischen Nivellierung. Bei der gesamten Diskussion innerhalb der Linken in der Türkei wird nicht benannt, dass die gesellschaftliche Existenz von (nur) zwei Geschlechtern ein historisches Phänomen ist und kein „sexuelles“ oder „biologisches“ – und das nicht zufällig.

Diese Situation sollte vertieft untersucht werden. Die Frage lautet: Warum hat die Linke in der Türkei im Vergleich zum Westen einen so konservativen Weg eingeschlagen? So spielt die Geschlechtsfrage, insbesondere mit sexuellem Bezug, innerhalb linker Kreise eine reaktionäre Rolle. Einige reaktionäre Ideen begründen sich in einer allgemeinen Haltung gegenüber Sexualität, welche per se als schädlich und amoralisch dargestellt wird.

In Deutschland wurde die sexuelle Frage bis in die 1960er Jahre hinein sehr konservativ behandelt. Noch einige Jahre zuvor durften Frauen nicht ohne Genehmigung ihrer Männer arbeiten, sie hatten kein Recht auf Abtreibung und ihre Jungfräulichkeit vor der Ehe galt als erwünscht. Nichtsdestotrotz existierten im deutschsprachigen Raum innerhalb der kommunistischen Bewegung bereits frühe Schriften zu diesem Thema, unter anderem von Wilhelm Reich, Elrike Friedländer (Ruth Fischer) usw. Wenn diese AutorInnen auch Minderheitspositionen vertraten, ihre Schriften wurden mit der 68er-Bewegung aktualisiert. Also es gab in Deutschland bereits Bezüge zur sexuellen Frage für die entstehende Bewegung im Jahre 1968, was in der Türkei völlig fehlte.

Im Jahr 1967 wurde in Deutschland die „Kommune I“ gegründet. Sie funktionierte als politische Freundschaft in einer WG, in der freie Sexualität praktiziert wurde. In diesem Zusammenhang ist als Exkurs zu betonen, dass utopische Insellösungen innerhalb des Kapitalismus ebenso zum Scheitern verurteilt sind wie Lösungen des „Sozialismus in einem Haus“. Solche Initiativen zerbrechen stets an den Widersprüchen der Gesellschaft. Auch innerhalb ihrer „Insel“ war die Bewegung nicht konsequent: Nicht selten wurden sexuelle Wünsche der Männer dieser Bewegung zwanghaft auf Frauen übertragen, die, wenn sie sie nicht teilten oder Unlust verspürten, mitunter als prüde gebrandmarkt wurden. So blieb „Freie Liebe“ oft nur frei für Männer, während Frauen wiederum in eine männlich bestimmte sexuelle Rolle gedrängt wurden. Aus diesen Gründen gilt es hier nicht, diese Art der Bewegung zu glorifizieren, sondern eine Auseinandersetzung damit zu führen, dass ihre Aktivitäten in der deutschen Linken keine Hassattacken auslösten. Für die Linke der Türkei indes stellten bereits weit weniger radikalere Aktionsformen im Bereich der Sexualität ein großes Problem dar, auf das auch mit körperlichen Angriffen reagiert werden konnte.

Als die kommunistische Bewegung weltweit vom Stalinismus gekapert wurde, wurde die Rolle der Frau als asexuell dargestellt. Diese Rolle bestand darin, Kinder zu gebären – für den Sozialismus und die Erfüllung der Mutterschaft. Die Reduzierung der Frauenfrage auf Asexualität beseitigte nicht die bestehende sexuelle Unterdrückung, sondern machte die RevolutionärInnen bloß „farbenblind“. Die Frauenfrage wurde zum Nebenwiderspruch erklärt – was für ein undialektisches Schema! Das bürokratische Denken ließ nicht zu, dass aus der Basis heraus spontane Initiativen gestartet und Entscheidungen getroffen werden konnten, um dem entgegenzuwirken. Das kritische und selbstbewusste Denken verschwand aus den Reihen der offiziellen kommunistischen ArbeiterInnenbewegung und wurde durch ein staatstreues Denken ersetzt, das jedem Menschen bestimmte Bereiche und zu erfüllende Rollen zusprach. Die Frau wurde entsprechend, wie der Rest der ArbeiterInnenklasse auch, diesen Mechanismen unterstellt. Die Lehren aus diesem Prozess der Stalinisierung konzipierte die Bürokratie. Im Zuge dieses Prozesses werden die eigenen Mitglieder und ihr Umfeld entsprechend erzogen.

Hinter der politischen Entwicklung in den imperialistischen Zentren wie Deutschland standen auch allgemeine bürgerliche Rechte, die mit den Lebensbedingungen auf Grundlage der bürgerlich-kapitalistischen Produktion entstanden sind. Dieser Lebensstandard in den imperialistischen Zentren ist ein Resultat davon, dass der Rest der Welt ausgebeutet und unterdrückt wird. Diese Entwicklung widerspiegelt sich z.B. in der Rolle der Familie: Die Menschen in Deutschland können sich im Vergleich zur Türkei sehr leicht aus dem Einflussbereich der Familie entziehen, was die Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht. Auch die Entscheidung, wer politisch links oder rechts steht, ist in der Türkei fast schon ein „Vermächtnis“ der Familie, während sich in Deutschland die eigene politische Präferenz sehr stark von der der Familie unterscheiden kann. Familien erfüllen die soziale Rolle, ihre Mitglieder ökonomisch abhängig zu halten. In der Türkei ist der dadurch erzeugte Druck auf die einzelnen Menschen durch die Familienmitglieder und ihr Umfeld enorm. Wenn jemand z.B. seine homosexuellen Neigungen offen ausleben möchte, muss er akzeptieren, dass er dann nur noch in einem sehr kleinem Kreis Kontakte aufrecht halten kann. Hier liegen zwischen der dargestellten Homosexualität in der KünstlerInnenszene im Fernsehen und der tatsächlichen im Alltag Welten. Mit anderen Worten stehen individuelle sexuelle Vorlieben oder Lebensstile unter intensiver Kontrolle sozialer Normen.

Unter der Herrschaft des bonapartistisch-bürgerlichen Regimes in der Türkei entwickelte sich das türkische Bürgertum, dessen weibliche Mitglieder mit ihrer Sexualität sehr rückständig umgehen. Das bonapartistische Regime zielte stets auf ein Frauenbild, das sehr bürgerlich denken muss, ohne tatsächlich bürgerlich zu handeln. Der Kemalismus wollte „aufgeklärte“ westliche Frauen schaffen, ohne ihnen zu erlauben, die Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen, welche ihnen bestimmte Rollen zuordnen. Also durften sie nur die schönen, aufgeklärten Vertreterinnen der Familie nach außen sein. Eine tatsächliche Veränderung im Alltag allerdings kann nur durch Auseinandersetzungen, die teilweise auf den Straßen stattfinden, erreicht werden. Der Kemalismus hasste derlei Bewegungen wie die Pest. Was schön ist, so seine Denkweise, gäbe der Staat den Menschen sowieso. Außerhalb von Benefizveranstaltungen konnte die bürgerlich-feministische Bewegung also keine Initiative entwickeln.

Nach dem Zurückdrängen des bürokratischen Apparats übernahm die Bourgeoisie schließlich die alleinige Herrschaft im Lande. Sie trat mit einer sexistischen islamischen Ideologie auf die Bühne. So endete die feministisch-bürgerliche Frauenbewegung in der Türkei, bevor sie tatsächlich beginnen konnte. Die bürgerliche Frauenbewegung der Türkei hatte sich in ersten Ansätzen in den Jahren nach dem Putsch 1980 entwickelt. Es fanden einige Kampagnen statt, die Gewalt gegen Frauen verurteilten oder für Frauenheime plädierten. Diese Bewegung konnte sich aber nicht weiter politisch entwickeln. Heute ist die vorhandene bürgerliche Frauenbewegung darauf ausgerichtet, über Verhandlungen mit den Parteien mehr Frauen ins Parlament zu schicken, worin sie ebenfalls keinen Erfolg verzeichnen kann.

Im Unterschied zur bürgerlich-feministischen wurden von der kurdischen Bewegung reale Verbesserungen erzielt. Diese sind aber ebenfalls mit vielen Widersprüchen verbunden: So können Frauen aktiv an den Kämpfen teilnehmen, womit sie teilweise sexistische und patriarchale Strukturen durchbrachen. Gleichzeitig aber benehmen sie sich in den Bergen wie die Nonnen, eben asexuell. Sexverbot, Bestrafungen und Isolation der GenossInnen, wenn sie miteinander Sex haben, sind die Realität. So findet sich das kleinbürgerliche Programm der kurdischen Bewegung auch in der alltäglichen Praxis wieder.

In den 70er Jahren fand in der Türkei eine starke innere Migration statt, die billige Arbeitskräfte von den ländlichen in die städtischen Gebiete holte. Die Moralnormen der inneren MigrantInnen, die immer noch bäuerlich geprägt waren, nisteten sich in der sich radikalisierenden Jugendbewegung ein. Mit der Begründung, solche Werte wären die Werte des Volkes, wurden die reaktionärsten sexistischen Werte mit revolutionärem Pathos umhüllt. Der Begriff „Schwesterchen“ für eine Genossin steht exemplarisch dafür. Revolutionäre Eheschließung oder Sexverbot bei eigenen Mitgliedern waren – und sind – ein Teil der „revolutionären“ Politik in der Türkei.

Durch den Druck, den die in den 90er Jahren im Kleinen entstandene homosexuelle Bewegung auslöste, begann eine bestimmte beschränkte Sensibilität für das Thema Sexualität; diese bekam allerdings weder eine besondere Intensität noch weitete sie sich aus. Beim jedem geringsten Anlass werden die sexistischen Strukturen und Vorurteile innerhalb der Linken deutlich: Der Streit, ob VertreterInnen der transsexuellen Bewegung an linken Bündnissen teilnehmen dürfen, oder die Reaktionen auf herablassende Äußerungen zeigen einerseits, dass Homophobie nach wie vor stark vorhanden ist – sich andererseits aber auch Widerstand dagegen bildet. Homophobie äußert sich in der Basis der linken Organisationen deutlicher. Die angesprochenen Beschimpfungen sowie das Fernhalten homosexueller Gruppierungen und Themen sind nur einige Beispiele dafür, dass mit der Frauenfrage auch die Frage der Homosexualität innerhalb der Linken als sexuelles Thema ungeklärt ist.

Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital dringt in jeden Bereich der kapitalistischen Gesellschaft durch. Dieses Durchdringen geschieht auf verschiedene Art und Weise. Dass der Kapitalismus die Unterdrückung der Geschlechter trotz der relativen Entwicklungen nicht aufhebt, wird durch das nächste Beispiel deutlich: Als Frauen sozialisierte Menschen werden nicht nur sexuell benachteiligt, sondern auch als Lohnabhängige. Allein in Deutschland erhalten Arbeiterinnen im Durchschnitt 23 Prozent weniger Lohn. Die endgültige Aufhebung der Frauen- und Sexualitätsfrage setzt eine gesellschaftliche Veränderung auf Grundlage der Beseitigung der Klassengesellschaft voraus. Das heißt, so lange der Kapitalismus existiert, wird er auf die sexuelle Freiheit und die persönliche Entfaltung des Menschen einen Druck ausüben. Das darf aber nicht etwa eine Verschiebung dieser Probleme auf die Zeit nach der Erringung einer sozialistischen Gesellschaft bedeuten. Denn gerade diese notwendigen Kämpfe begeistern viele Menschen für den Sozialismus.

Die Befreiung der Frau schließt die alleinige Entscheidungsgewalt über ihren eigenen Körper ein. Dazu gehört auch die Verfügungsmacht über den Mehrwert, der kollektiv mit anderen ArbeitskollegInnen geschaffen wird. Die Übertragung der Ansprüche des kapitalistischen Systems auf die bürokratisch-stalinistische Partei ist keine revolutionäre Politik, sondern bedeutet nur, die bestehende Unterdrückung zu konsolidieren. Die stalinistischen Staatsparteien und deren Ableger in anderen Ländern hatten sich zur Aufgabe gemacht, die Frauenunterdrückung mit bürokratischen Mitteln fortzusetzen. Eine aktive Frau, die über ihren eigenen Körper sowie über die Produktion in den Räten entscheiden kann, läuft der bürokratischen, initiativlosen Planung in den Betrieben und Fabriken zuwider. Diesen Widerspruch enthalten sämtliche stalinistischen Organisationen.

Die vom Kapitalismus produzierte Moral gründet sich auf materielle Vorteile. Daher „wählt“ der Mann im Kapitalismus den Körper der Frau für seine Fortpflanzung und für sein Vergnügen. Das Erbe der Familie soll auf eigene Nachkommen übergehen. Ihr Vermögen häuft sich durch die patriarchalen Strukturen des Kapitalismus in den Händen der Männer an. Weil die Erziehung der Kinder hauptsächlich eine Aufgabe der Familie – und damit der Frau – ist, muss die Frau viel Zeit und Mühe dafür aufwenden. Die Aufmerksamkeit für Kinder, Familie und das Vermögen der Familie löst bestimmte Verhalten und Normen aus, die bereits in der kindlichen Erziehung nach Rollenverteilung strukturiert sind. Die Anforderungen der kapitalistischen Produktion werden den Kindern entsprechend durch die Familie beigebracht. Diese Anforderungen erfahren dann eine Transformation in den Begrifflichkeiten: Auf das Konkurrenzverhältnis auf dem Arbeitsmarkt wird das Kind mit Werten in Bemerkungen wie „Sei stark!“ oder „Sei besser!“ vorbereitet. Die Macht- und Eigentumsansprüche gegenüber der Frau äußern sich entsprechend in den Werten wie „Reinheit“, „Loyalität“ oder „wahre Liebe“ – alles, was eben eine monogame Beziehung direkt oder indirekt predigt.

Durch den Druck der patriarchalen Strukturen werden Frau und Mann verschiedene Pflichten und Rollen zugeteilt, so dass die Frau vor der Ehe zur totalen Enthaltung gezwungen wird, während Männer Geschlechtsverkehr mit SexarbeiterInnen haben können. Der Mann strebt nach einer „reinen“ und „ehrenvollen“ Frau. Außerhalb dieses Profils fallende Frauen sind Ziele der männlichen sexuellen Begierde. Das bedeutet, die Trennung von Sex und Gefühlen ist bei Männern öfter anzutreffen als bei Frauen. Dass diese Gefühle an sich nicht geschlechtsspezifisch sondern sehr flexibel sind, zeigt, dass mit der Änderung der gesellschaftlichen Bedienungen Frauen und Männer ihr Verhalten ändern. Einander angenäherte Ausgangsbedienungen für beide Geschlechter verursachen auch angenäherte Verhaltensmuster.

Das alte männliche Privileg, sich mit mehreren Frauen vergnügen zu dürfen, widerspiegelt sich in den religiösen Ideen des Islam. Nur dem Mann ist erlaubt – wenn auch mit einigen Auflagen –, bis zu vier Ehefrauen zu heiraten. Sogar im Himmel bekommt der Mann 40 wunderschöne Jungfrauen, während die Frau auch in diesem imaginären Ort lediglich mit dem Ehemann Sex haben darf! Es werden also sogar die Träume der Frauen streng bewacht und stranguliert. Dass die christliche Religion in dieser Frage einen anderen Weg eingeschlagen hat als der Islam, liegt daran, dass das sie die offizielle Religion des römischen Imperiums war, in dem bereits eine entwickelte Produktionsweise und Warenverkehr existierten. Die urchristlichen Sekten, die ganz andere Lehren vertraten als spätere christliche Sekten, wurden unterdrückt und vernichtet. Auch viele bürgerliche Gesetze nehmen das römische Gesetz als Grundlage. Es gibt daher eine interessante Parallelität zwischen dem römischen Gesetz und dem römischen Christentum in ihrer Entstehung und Entfaltung.

Gerade das Alevitentum ist mit der linken Ideologie in der Türkei sehr verflochten. Im Umfeld von revolutionären Gruppen sind sehr viele alevitische Familien aufzufinden. Im Unterschied zum Islam erlaubt das Alevitentum keine polygame Ehe für Männer, sondern vertritt die monogame Ehe. Eine Vorstellung vom Jenseits existiert kaum. Frauen werden in der Lehre Männern – zumindest abstrakt – gleich gesprochen, während der Islam einen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Nachkommen macht. Z.B. bei ZeugInnen werden zwei Frauen oder einen Mann für gleichwertig erachtet. Diese Ungleichheit gibt es im Alevitentum abstrakt nicht. Frauen können hier auch Gebetsvorsitzsende werden, ebenso wie Männer. Homosexuelle oder Transsexuelle sind in der alevistischen Lehre allerdings nicht vorgesehen, können entsprechend auch nicht Gebetsvorsitzende sein. Die Infragestellung der monogamen Ehe wird nicht akzeptiert. Stattdessen wird das „reine Eheleben“ gepredigt. Durch seine enge Verflochtenheit mit dem Alevitentum bewegt sich auch die revolutionäre Bewegung der Türkei in diesem Rahmen.

Innerhalb der revolutionären Bewegung in der Türkei ist eine Entzweiung zu beobachten: Zum Beispiel gibt es in städtischen und besser ausgebildeten Teilen mehr organisierte Bewegungen. In dieser städtischen Bewegung ist der Einfluss des Alevitentums sehr gering. Die Einmischung in das Leben der eigenen Mitglieder hält sich in einem bestimmten Rahmen. Das jeweilige Mitglied entwickelt eine eigene Moralvorstellung, die es nicht aber nicht vor den Massen reflektieren darf. Die politische Arbeit in den eigenen politischen Bereichen ohne Berührung der sexuellen Frage ist Ursache für tragisch-lustige Situationen: Einige jahrelangen UnterstützerInnen und SympathisantInnen der revolutionären Parteien werden nach ihrem Bruch mit revolutionären Ideen ohne irgendeine Änderung im Verhalten UnterstützerInnen der kapitalistischen Parteien. Die Logik, den Bär beim Überqueren der Brücke Onkel zu nennen, damit der Reisende ihn reinlegen kann, wenn die Brücke lang ist, endet damit, dass entweder der Bär zurück geht oder mit seinen Klauen auf den Reisenden einschlägt. [Eine Anspielung auf ein türkisches Sprichwort.]

Wegen des Drucks auf die Sexualität der jungen Menschen wächst eine Generation von sich aus auf, die im männlichen Teil die Meinung verfechtet, ihre Sexualität auch ohne Zustimmung der Frauen mit Zwang den Frauen auferlegen zu können – mit den Folgen sexuelle Nötigung und Vergewaltigung. Es ist eine normale Folge der zur Ware gemachten Sexualität, dass Männer mit der Meinung anzutreffen sind, Frauen seien mit Zwang zu bekommen. Daher ist es keine revolutionäre Politik, sich auf harte Strafforderungen für Grenzüberschreitungen zu beschränken. Stattdessen sollte Sex außerhalb der kapitalistischen Kategorien gestellt und neu bewertet werden. Männer verfallen anderweitig sehr schnell in die Schönheitszwänge und andere Zwänge zur Einhaltung von Geschlechterstereotypen und es bildet sich ein Teufelskreis. Der einzig gangbare Weg für die Linke besteht darin, einen Kampf gegen Sexismus in der Gesellschaft zu führen – einer Gesellschaft, in der es ganz normal ist, Frauen oder Homosexuelle als Beschimpfungsbegriff zu missbrauchen.

Weil in der Türkei keine Frauenbewegung auf der Straße existiert, werden die linken Organisationen nicht nach vorne gezwungen. Stattdessen existiert ein linker Klub, der eigene Positionen sehr wohlwollend betrachtet, weil er nicht mit den Ansprüchen der Frauenbewegung konfrontiert wird. Dennoch: Dass sich Frauen, sexuelle Minderheiten oder sonstige unterdrückte Gruppen innerhalb einer politischen Gruppe frei organisieren können, wird trotz aller aufgezählten Schwächen der türkischen Linken inzwischen in einigen Organisationen umgesetzt.

Die argentinische Trotzkistin Andrea D‘Atri sei als Ausblick zitiert. Sie erklärt die Grundlagen für die größte sozialistische Frauenorganisation der argentinischen Geschichte „Pan y Rosas“ (“Brot und Rosen”): „Unsere Grundlagen sind die Unabhängigkeit vom Staat und den Parteien der UnternehmerInnen, der Antikapitalismus und die sozialistische Revolution“. Nur auf dieser Basis geführte Kämpfe um Rechte gewährleisten reale Veränderungen in der Frauen- und Sexualitätsfrage.

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