Schmierkampagne gegen die Lehrbeauftragte Eleonora Roldán Mendívil, aktuell Leiterin des Seminars „Rassismus im Kapitalismus“ am Otto-Suhr-Institut (OSI). Damit ist der Dissens über die Kolonialpolitik Israels, über Palästina-Solidarität und eine sinnvolle Definition von Antisemitismus einmal mehr offen zutage getreten. Dieser klaffende Dissens ist jedoch, anders als viele Linke in Deutschland denken, mehr als ein Flügelkampf innerhalb der deutschen Linken. Er spiegelt den internationalen Kampf um Wahrheit, um die ideologische Hegemonie in der Beurteilung der Verhältnisse in Israel/Palästina wieder. Ein Gastbeitrag von Can Yıldız." /> Schmierkampagne gegen die Lehrbeauftragte Eleonora Roldán Mendívil, aktuell Leiterin des Seminars „Rassismus im Kapitalismus“ am Otto-Suhr-Institut (OSI). Damit ist der Dissens über die Kolonialpolitik Israels, über Palästina-Solidarität und eine sinnvolle Definition von Antisemitismus einmal mehr offen zutage getreten. Dieser klaffende Dissens ist jedoch, anders als viele Linke in Deutschland denken, mehr als ein Flügelkampf innerhalb der deutschen Linken. Er spiegelt den internationalen Kampf um Wahrheit, um die ideologische Hegemonie in der Beurteilung der Verhältnisse in Israel/Palästina wieder. Ein Gastbeitrag von Can Yıldız." />

Der schwierige Weg zur Wahrheit – zur Kritik des liberalen Antirassismus

15.02.2017, Lesezeit 15 Min.
Gastbeitrag

Vor einem Monat entfachte an der Freien Universität Berlin Streit um die mit Antisemitismusvorwürfen geführte Schmierkampagne gegen die Lehrbeauftragte Eleonora Roldán Mendívil, aktuell Leiterin des Seminars „Rassismus im Kapitalismus“ am Otto-Suhr-Institut (OSI). Damit ist der Dissens über die Kolonialpolitik Israels, über Palästina-Solidarität und eine sinnvolle Definition von Antisemitismus einmal mehr offen zutage getreten. Dieser klaffende Dissens ist jedoch, anders als viele Linke in Deutschland denken, mehr als ein Flügelkampf innerhalb der deutschen Linken. Er spiegelt den internationalen Kampf um Wahrheit, um die ideologische Hegemonie in der Beurteilung der Verhältnisse in Israel/Palästina wieder. Ein Gastbeitrag von Can Yıldız.

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Vor einem Monat entfachte an der Freien Universität Berlin Streit um die mit Antisemitismusvorwürfen geführte Schmierkampagne gegen die Lehrbeauftragte Eleonora Roldán Mendívil, aktuell Leiterin des Seminars „Rassismus im Kapitalismus“ am Otto-Suhr-Institut (OSI). In Anlehnung an die Diffamierung Roldán Mendívils durch einen pro-israelischen, rechten Blog hatten die pro-israelische Studigruppe „Gegen jeden Antisemitismus FU Berlin“ und Benjamin Weinthal, Aktivist der neokonservativen „Foundation for the Defense of Democracies“ und Journalist bei der Jerusalem Post, den Antisemitismusvorwurf an das Präsidium der FU und die Leitung des OSI herangetragen. Das OSI und die Gruppe „Gegen jeden Antisemitismus“ sind für ihre Beteiligung an der Hexenjagd (so auch die Solidaritätserklärung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden) medial in Bedrängnis gekommen. Die „Initiative für Kritische Lehre FU Berlin“, initiiert von Studierenden aus dem Seminar Roldán Mendívils, hat eine Petition erstellt, die bislang über 1.800 Unterschriften erhielt und das Institut auffordert, anstelle einer Vorverurteilung eine offene Diskussion über den gesamten Vorfall zu ermöglichen. In einem Brief der israelischen Gruppe „Academia for Equality“ haben sich 250 israelische WissenschaftlerInnen mit Roldán Mendívil solidarisiert und den Antisemitismus-Vorwurf geschlossen zurückgewiesen, auch der kurdische Studierendenverband YXK erklärte sich solidarisch. Damit ist der Dissens über die Kolonialpolitik Israels, über Palästina-Solidarität und eine sinnvolle Definition von Antisemitismus einmal mehr offen zutage getreten. Dieser klaffende Dissens ist jedoch, anders als viele Linke in Deutschland denken, mehr als ein Flügelkampf innerhalb der deutschen Linken. Er spiegelt den internationalen Kampf um Wahrheit, um die ideologische Hegemonie in der Beurteilung der Verhältnisse in Israel/Palästina wieder.

Ideologische Herrschaft und Hegemonie sind elementare Bestandteile staatlicher Herrschaft. Über ideologische Institutionen (Althusser: Ideologische Staatsapparate), darunter die Justiz, die Parteien, die Interessenverbände und die Presse, greift der Staat auf (im Zweifelsfall durch Gewalt erzwungene) Ideologie zurück, um die Herrschaft der kapitalistischen Klasse, welche die Staatsmacht in Besitz hat, aufrecht zu erhalten. Diese Analyse gilt für alle Staaten. Und sie zeigt, dass der Kampf um die Ideologie und die ideologischen Apparate, darunter auch die Universitäten, immer auch Orte des Klassenkampfs sind.

Kritik im Spannungsfeld reaktionärer Ideologien

Um dahin zu gelangen, müssen jedoch die vielfältigen und gesellschaftlich normalisierten, unsichtbaren Verhältnisse, die Gewalt und Moral der herrschenden Klasse, als besonderes Interesse entblößt werden. Das ist der Zweck der Kritik. Weil aber auch herrschende Interessen oft in Konkurrenz zueinander stehen, ist für die revolutionäre Kritik, die der Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse dienlich sein soll, ein Bewusstsein über die vielfältigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Diskurse unverzichtbar. Ein paar Beispiele:

Der wohl prominenteste Gegner von Freihandelsabkommen ist der amtierende US-Präsident Trump. Die große Unterstützung Trumps von US-Arbeiter*innen gehen Analysen zufolge auf die Unzufriedenheit mit den katastrophalen sozialen Folgen der neoliberalen Politik der Demokratischen Partei in der Amtszeit Barack Obamas zurück. Der Nationalismus und Wirtschaftsprotektionismus Trumps ist eine clever inszenierte Antwort auf jahrzehntelangen Neoliberalismus. Der neue US-Präsident verhindert damit zwar das unpopuläre Freihandelsabkommen TTP (und wahrscheinlich bald auch TTIP), ändert aber nichts am Kern des Problems: dem krisenhaften Kapitalismus mit seiner Lohnsklaverei und steigender Arbeitslosigkeit aufgrund der Abwanderung ganzer Industrien von den USA nach Südostasien, wo Arbeiter*innen noch einfacher ausgebeutet werden können und die Produktion damit noch profitabler und konkurrenzfähiger wird.

Oder schauen wir uns die deutsche Medienlandschaft mit ihren offen rechten Schmierblättern in Millionenauflagen an, deren Funktion als wichtige ideologische Institutionen außer Frage steht, ob in der rassistischen Aufmachung der „Flüchtlingswellen“ im Sommer 2015 oder in der Schuldzuweisung an „die faulen Griechen“ im Zuge der Finanzkrise. Dennoch bestimmt ausgerechnet die Neue Rechte mit dem Slogan „Lügenpresse“ und einem Wirrwarr an Verschwörungstheorien den Kampf gegen die bürgerlichen Medien und spielt sich als ernsthafte Alternative auf. Wer heute von links das Monopol bürgerlicher Medien und ihre Rolle in der ideologischen Reproduktion bürgerlicher Ideologie und Moral angreift, wird nicht darum herum kommen zu erläutern, welchen Hintergrund die Kritik eigentlich hat.

Ob in der Kritik des Freihandels oder der Kritik der kapitalistischen Presse : Unsere Kritik muss so geäußert werden, dass sie nicht einfach den konkurrierenden, aber vergleichbar reaktionären herrschenden Ideologien oder Interessengruppen in die Arme läuft. Das Gleiche gilt zum Beispiel auch für die Kritik des Islamismus, der in den europäischen Metropolen allzu oft die einzige überzeugende Antwort auf den gesellschaftlichen Ausschluss muslimischer Jugendlicher zu bieten scheint und dessen Kritik vor allem aus der antideutschen Linken allzu oft wieder in Rassismus umschlägt. Eine wirklich emanzipatorische Kritik und Politik braucht eine fundierte Analyse der Gesellschaft und des ihr innewohnenden Klassenkampfes, um das jeweilige Phänomen auf seine sozio-ökonomische Basis zurückzuführen und in diesem Zusammenhang anzugreifen – den Islamismus also nicht als weltverschwörerische Übermacht, die Europa bedroht, sondern als reaktionäre Ideologie, die von unserem aktuellen Versagen in der revolutionären Politisierung und Organisierung migrantischer Jugendlicher lebt.

Israelhass oder linke Regierungskritik?

Was geschieht jedoch, wenn kritische Perspektiven wie im Beispiel Roldán Mendívils einen Punkt treffen, über den auch in der deutschen Linken kein Konsens herrscht? Was, wenn antikoloniale Denker*innen aufgrund der Verwendung bestimmter Konzepte zur Kritik der israelischen Politik (Vorwürfe des Kolonialismus, der Apartheid und den Genozid an den Palästinenser*innen) verdächtigt werden, anstatt einer emanzipatorischen eine antisemitische Agenda zu haben – und damit einen möglichen berechtigten Aufschrei gegen eine staatsideologisch motivierte Schmierkampagne gegen kritische Lehre verhindern? „Der Skandal ist der Israelhass einer Dozentin und nicht, dass eine Gruppe darauf aufmerksam macht“, schrieb die Gruppe „Gegen jeden Antisemitismus FU Berlin“ auf Facebook in einem Statement vom 14. Januar. Der Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ erklärte dagegen in seiner Stellungnahme:

Diese Anschuldigungen sind Teil einer rechtsgerichteten pro-israelischen Kampagne, regierungskritische Stimmen nicht nur in Israel selbst, sondern auch in Deutschland zum Schweigen zu bringen.

„Und jetzt?“, fragen sich wohl viele Student*innen am OSI. Handelt es sich nun um rechten, antiisraelischen Hass oder um notwendige, linke Regierungskritik?

Dass Antisemitismus existiert und eine gesellschaftliche Bedrohung darstellt, steht außer Frage, wie die neueste Rede von Björn Höcke bei der Jungen Alternative zeigt. Dass Antisemitismus wie Rassismus und Sexismus zweifelsfrei mitunter auch in der deutschen Linken existiert hat und weiter existiert, steht ebenso außer Frage, denn die deutsche Linke steht selbst nicht außerhalb der deutschen, bürgerlichen Gesellschaft. Die Frage ist vielmehr, ob und warum Antizionismus mit Antisemitismus gleichgesetzt werden sollte – und warum ein Großteil des Aufwands pro-zionistischer Gruppen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Antisemitismus in den Kampf gegen linken Antizionismus, wie er schon von Emma Goldman, Albert Einstein und Hannah Arendt vertreten wurde, in den Kampf gegen proletarischen Internationalismus und jegliche Palästina-Solidarität wandert? Die linke israelische Organisation „Academia for Equality“ erläutert:

Wir als Akademiker*innen, die in der Israel-Palästina-Frage bewandert sind und unter denen einige auch den Antisemitismus untersuchen, sind der Meinung, dass Frau Roldán Mendívils entschiedene Kritik der anhaltenden Besatzung Palästinas eindeutig in den Bereich legitimen akademischen Ausdrucks fallen, und verteidigen deshalb ihr Recht diese Meinung auszudrücken, ohne um ihre Lebensgrundlage fürchten zu müssen.

Wie kann es sein, dass so extrem widersprüchliche Definitionen in den Wissenschaften und im öffentlichen Raum gleichzeitig präsent sind? Es handelt sich offensichtlich um grundverschiedene Auffassungen von dem, was „legitim“ ist – also verschiedene und Arten von Moral. „Und“, würde Engels in diesem Zusammenhang sagen,

wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen bewegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral; entweder rechtfertigte sie die Herrschaft und die Interessen der herrschenden Klasse, oder aber sie vertrat, sobald die unterdrückte Klasse mächtig genug wurde, die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunftsinteressen der Unterdrückten.

Bürgerlicher Antirassismus und Anti-Antisemitismus

Folgendes Beispiel wird helfen, den bürgerlich-liberalen bis konservativen Charakter des Kampfs gegen den „Neuen Antisemitismus“ nach Natan Sharansky besser einzuordnen. Schauen wir uns die antirassistische Bewegung an. Die Bandbreite erstreckt sich von revolutionären antikolonialen Bewegungen, über militante antifaschistische Migrant*innengruppen über liberale Empowerment-Gruppen, liberale Antirassismus-Ansätze wie Critical Whiteness mit ihren Safe-Space-Theorien, vom deutschen Staat geförderte NGOs wie der Amadeu Antonio Stiftung, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes bis hin zur Erdoğan-Regierung, die sich den Rassismusvorwurf aneignet hat, um damit gegen ihre Kritiker*innen vorzugehen. Diese Bewegungen haben bis auf ihre geäußerte Opposition gegen Rassismus nichts gemeinsam, auch nicht die Definition dessen, was Rassismus bedeutet. Wenn wir Rassismus aber als Ideologie verstehen, die in der Textur der bürgerlichen Gesellschaft verwoben ist, um die Organisierung des Arbeitsmarktes und die Reproduktion des nationalen Kollektivs zu gewährleisten – und wenn deshalb der wahre emanzipatorische Ansatz den Kampf gegen Rassismus den Klassenkampf voraussetzt –, stellt sich die Frage: Wo fängt der Missbrauch des Antirassismus an? Die Antwort kann nur lauten: dort, wo das Verständnis des Rassismus von seinen historischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen getrennt wird und somit Teil einer Politik wird, die kein wirkliches Interesse daran hat, diese sozialen und ökonomischen Grundlagen tatsächlich umzuwälzen. Revolutionärer Antirassismus muss auf die enge Verbindung von Kapitalismus und Rassismus hinweisen und sich gegen sämtliche Ansätze zur Wehr setzen, die den Antirassismus zum Teil bürgerlicher Moral machen, der sich dann statt gegen die tatsächlichen Profiteure rassistischer Teile-und-Herrsche-Politik, gegen vermeintlich „ungebildete“ Prolet*innen richtet.

Im Kampf gegen den Antisemitismus stellt sich ein ähnliches Problem. Von den verschiedenen politischen Strömungen ausgehend, die dem Antisemitismus dem Kampf angesagt haben – von Kommunist*innen und Anarchist*innen bis hin zum Springer-Verlag und anderen Rechten – zeichnen sich auf sehr ähnliche Weise die unterschiedlichsten Ideologien mit eigenen Selbstverständnissen davon ab, was Antisemitismus (nicht) ist und wie er bekämpft werden sollte. Auch hier ist die Perspektive der Antifa Tel Aviv, der israelischen Gruppe „Anarchists against the Wall“ oder eben der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden“ offensichtlich eine andere als die der israelischen Regierung oder ihrer Unterstützer*innen. Sozialistische Theorien stehen hier liberalen und rechtskonservativen bis faschistischen Vorstellungen gegenüber. In „Zur Judenfrage“ schrieb Marx, dass der Antisemitismus, also die Unterdrückung der Jüd*innen als zum Sündenbock erklärte und verfolgte Minderheit im christlichen, kapitalistischen Europa nicht mit Gesetzen, Staaten oder bürgerlichen Menschenrechten überwunden werden kann. Die wahre, menschliche Emanzipation der Jüd*innen (und der ganzen Gesellschaft) findet erst dann statt, wenn jedes Individuum der Gesellschaft aufhört, einerseits „abstrakter Staatsbürger“, in Realität aber komplett unpolitischer, ausgebeuteter und unterdrückter Mensch zu sein, und stattdessen seine „gesellschaftlichen Kräfte [erkennt] und organisiert“, um den gesellschaftlichen Kampf gegen den Staat und die kapitalistische Herrschaft aufzunehmen und mit einer proletarischen Revolution zu besiegeln. Die Ansätze, die die bürgerlichen Ideologien als Lösung vorschlagen – einen starken Staat, die bürgerliche Demokratie und das Dogma der Menschenrechte –, sind ihrem Wesen nach dem Schutz des Privateigentums verpflichtet, nicht der menschlichen Emanzipation. Rechtskonservative, die „Antisemitismus bekämpfen“, tun im Grunde nichts anderes, nur dass sie dabei nicht dem Mythos des liberalen Antirassismus und der menschlichen Gleichheit, sondern den noch reaktionäreren Mythen von Religion, Nation und Rasse verfallen sind. Ihr rassistisches Weltbild des „Kampfes der Kulturen“ ist zu keiner Kritik im eigentlichen Sinne, und noch weniger zu einer emanzipatorischen Praxis, fähig. Es führt einerseits nur zur Normalisierung ideologischer Konstrukte und verschleiert zum anderen ihren Klassencharakter. Ihr Weltbild ist dem des Antisemitismus wieder sehr nah, oft tritt er auch offen zutage.

Stellen wir deshalb die Frage erneut: Wo fängt der Missbrauch des Anti-Antisemitismus an? Wieder dort, wo das Verständnis des Antisemitismus von seinen historischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen getrennt wird und somit zum ideologischen Instrument einer Politik wird, deren Interesse es ist, diese sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaft eben weiter zu vertiefen. So heuchlerisch und hohl die „Bemühungen“ der türkischen Regierung gegen anti-türkischen Rassismus sind, so sind es auch die aktuellen Kampagnen der israelischen Regierungen gegen anti-israelischen Antisemitismus. Der revolutionäre Kampf gegen den Antisemitismus muss auf die enge Verbindung von Kapitalismus und Antisemitismus und auf Antisemitismus als eine besondere Form des Rassismus hinweisen. Sie muss sich gegen alle Versuche zur Wehr setzen, die den Anti-Antisemitismus zum Teil bürgerlicher oder offen reaktionärer Moral machen, der sich dann statt gegen die tatsächlichen Ideologen und Nutznießer, die Höckes, Trumps, Orbáns, Netanyahus und Erdogans, systematisch gegen die entschlossenen Menschen richtet, die sich der menschlichen Emanzipation für eine Welt ohne Rassismus und Antisemitismus verschrieben haben. Dabei müssen wir auch der Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus entschieden entgegentreten. Das bedeutet weder, die Realität der als Antizionismus getarnten antisemitischen Erzählungen (beispielsweise der „zionistischen Weltverschwörung“) noch den europäischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts zu leugnen, in dessen Kontext sich der politische Zionismus als nationalistisches Projekt erst entwickelt hat. Es bedeutet vielmehr, den heutigen politischen Zionismus als staatstragendes Narrativ Israels auf seine materielle Grundlage zurückzuführen. Diese äußert sich im anhaltenden kolonialen Siedlungsbau in der West Bank, Netanyahus Traum eines „Großisraels“, in der kolonialen Ausbeutung und Verteilung des Grundwassers aus der West Bank im Interesse der militärischen Besatzungsmacht, und nicht zuletzt in der Überausbeutung palästinensischer Arbeitskraft und einer Reproduktion rassistisch organisierter Klassenverhältnisse. Ebenso lässt sich in der Diffamierung aller revolutionärer Jüd*innen als „selbsthassende Juden“, die aufgrund ihres Internationalismus nicht fürs nationale Kollektiv stramm stehen wollen, die Ideologie des politischen Zionismus in seiner Funktion aller bürgerlichen Nationalismen – den Klassenwiderspruch zu befrieden – entlarven.

Die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus und der Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs ist ein ernsthaftes Problem für den proletarischen Klassenkampf, denn mit der bürgerlichen Führung im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus werden diese „Kämpfe“ nicht nur zu hohlen Phrasen, sondern zu Stabilisatoren eines Systems, welches die gleichen Denkweisen letzten Endes selbst wieder hervorbringen wird.

Der schwierige Weg zur Wahrheit

Was bedeutet das für die Debatte an der FU Berlin? Und was bedeutet diese Debatte für die kommunistische und anarchistische Bewegung in Deutschland? Offensichtlich ist die öffentliche Handhabung von Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft aufgrund der kolonialen und faschistischen Geschichte Deutschlands nicht nur von einer anhaltenden Präsenz dieser Ideologien geprägt. Noch stärker ist die liberale Erzählung der post-faschistischen Bundesrepublik mit ihrem Epos der „deutschen Schuld“ und der Verantwortung, jede rechte, nationalistische, rassistische und antisemitische Äußerung im Keim zu ersticken. Dieses neue nationale Märchen lebt im Herzen bürgerlich-liberaler Köpfe auch in der Linken, die „die Deutschen“ als nationales Kollektiv für den faschistischen Terror der 1930er und 40er Jahre verantwortlich machen, die den proletarischen antifaschistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus vergessen haben oder die den Klassenkampf ohnehin schon als Artefakt der Vergangenheit abtun. Wie die Auseinandersetzung um die deutsche Geschichte ist auch die um die bürgerliche Vereinnahmung der Rassismus- und Antisemitismus-Kritik in der deutschen Linken deshalb so schwierig, weil das (Anti)Rassismus-Verständnis des Großteils der deutschen Linken sich eben aus der bürgerlich-“antirassistischen“ Narrative speist, wie sie vom Staat finanziert und in großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert ist.

Umso wichtiger ist es, dass sich die emanzipatorischen und revolutionären Bewegungen von jeder bürgerlichen Moral lösen, die mit ihren schönen Worten – für Toleranz, gegen Diskriminierung etc. – doch nur auf die Erhaltung der herrschenden Verhältnisse abzielt. Wir müssen zwischen proletarischer und bürgerlicher Moral unterscheiden, unter welchem Deckmantel sie uns auch über den Weg laufen sollte. Dafür müssen wir ein wirklich kritisches Bewusstsein und eine solidarische Diskussionskultur entwickeln und gemeinsam definieren, welche Kritiken innerhalb der linken Bewegung uns weiterbringen und welche unsere Arbeit sabotieren, schließlich führt nicht jede Kritik in eine tatsächlich emanzipatorische Richtung. Ist beispielsweise die Kritik der „personalisierten Kapitalismuskritik“ – man solle nur die Gesetze und Verhältnisse angreifen, nicht die Entscheidungsträger – wirklich sinnvoll? Oder führt sie nicht in eine Abstraktion, die an der Auseinandersetzung mit den materiellen Gegebenheiten und tatsächlichen Profiteuren globalisierter Ausbeutung (Interventionskriegen, Grenzpolitik, moderner Sklaverei und systematischer Armut) vorbei geht? Ist die Kritik des „Neuen Antisemitismus“ – der heutige Antisemitismus äußere sich durch Kritiken an israelischer Staatspolitik wie Militärbesatzung und Apartheid – wirklich sinnvoll? Oder handelt es sich nicht um eine Inflation des Begriffs „Antisemitismus“, um internationalistische Menschen und Gruppen in die rechte Ecke zu stellen und die gut dokumentierten Verbrechen der israelischen Regierung zu verschleiern? Eine revolutionäre Linke muss solche Fragen und Diskussionen zulassen und auf Basis der „Zukunftsinteressen der Unterdrückten“ Position beziehen.

Wie Engels im „Anti-Dühring“ ausführt, tappen wir in den meisten Fragen des Lebens im Dunkeln. Die Geschichte der Wissenschaften hat oft genug gezeigt, dass alte Wahrheiten sich als falsch erweisen und von neuen ersetzt werden. Das heißt nicht, dass es keine Wahrheit gibt, sondern dass wir uns ihr nur notwendig fehlerhaft und schrittweise annähern können. „Preguntando caminamos“, sagen die Genoss*innen der EZLN in Chiapas. Wir müssen davon ausgehen, dass wir falsch liegen und immer wieder Fehler machen, sonst ist auch keine Entwicklung unserer Bewegung zu erwarten. Wahrscheinlich täte die deutsche Linke, insbesondere die große Masse all derer, die sich in der aktuellen Debatte um die Lehrbeauftragte Roldán Mendívil oder in der Auseinandersetzung mit Palästina/Israel sowohl als „kritisch“ als auch „unparteiisch“ verstehen, gut daran, diese Gedanken einmal in Erwägung zu ziehen. Vielleicht wird die deutsche Linke in zehn Jahren auf die heutige Diskussion zurückblicken und mit einem weinenden Auge darüber lachen, welche Positionen im Jahr 2017 noch Teil der deutschen Linken waren. Also: Wer Kritik übt, sollte sich nicht vor der Selbstkritik scheuen. Im Sinne des Kollektivs aus Bremen, welches in seinem weit diskutierten Thesenpapier zur Kritik der linken Szenepolitik die Neuverankerung des Internationalismus und der internationalen Solidarität als revolutionäres Prinzip einer linken Bewegung vorschlägt, kommt diese Debatte gerade richtig. Solange wir fragend voranschreiten und nicht mit erhobenem Finger stehen bleiben, ist noch Hoffnung.

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