„Der Putsch stärkt die reaktionären Tendenzen der türkischen Regierung“

18.07.2016, Lesezeit 3 Min.
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Der gescheiterte Staatsstreich in der Nacht vom 15. zum 16. Juli war das Zentrum vieler Gespräche, die während der revolutionären und internationalistischen Sommerakademie der Trotzkistischen Fraktion in Europa stattfanden. Wir von Klasse Gegen Klasse haben Baran Serhad interviewt, Leitungsmitglied von RIO, der die aktuelle Situation in der Türkei analysiert.

Wie bewertest du den Putschversuch vom vergangenen Freitag?

Der versuchte Staatsstreich eines Teils der türkischen Armee hat die ganze Welt überrascht. Vor allem ist er Ausdruck einer tiefen Krise des islamisch-konservativen Erdogan-Regimes. Nach den ersten Stunden großer Verwunderung klärte sich die Situation immer mehr auf. Es handelte sich um einen minderheitlichen Sektor der Armee, doch Erdogan konnte seine Macht schnell wiedergewinnen.

Was sind die Gründe des Putsches?

In ihrer Stellungnahme haben die Militärs die AKP-Regierung und Erdogan beschuldigt, am Scheitern der türkischen Außenpolitik Schuld zu sein. Nichtsdestotrotz fanden sie keine Unterstützung, weder national noch international. Selbst die laizistischen und erdoganfeindlichen Sektoren der türkischen Bourgeoisie verurteilten den Putschversuch.

Die westlichen Staatschefs haben den Putsch sofort verurteilt und riefen zur „Wiederherstellung des Rechtsstaates“ auf. Das US-Außenministerium erklärte trotz der Spannungen zwischen dem Weißen Haus und Erdogan ihre Unterstützung für den Präsidenten, genauso wie die EU und Deutschland es taten.


Einige Analyst*innen haben die Vermutung geäußert, dass Erdogan hinter dem Putsch steht, oder dass er ihn hat „durchgehen lassen“, um ihn danach für die AKP und seine bonapartistischen und präsidentialistischen Positionen auszunutzen. Was hältst du von diesen Theorien?

Eine solche Hypothese kann man nicht ausschließen. Doch sie ändert nichts daran, dass man eine unabhängige Position angesichts der Geschehnisse entwickeln muss.

Die Kämpfe zwischen der Polizei, die hinter der Regierung stand, und der putschistischen Armee waren sehr gewalttätig. Radio- und Fernsehstationen wurden besetzt, Kampfjets flogen über Istanbul und Ankara. Es gibt zahlreiche Ursachen für diesen Staatsstreich, selbst die Theorie eines Selbst-Putsches ist nicht auszuschließen.

Doch in jedem Fall wird der Putsch Erdogan dazu dienen, den Präsidentialismus und seine reaktionäre Politik zu stärken.

Jetzt hat Erdogan alle Möglichkeiten dazu, seine angekündigte „Hexenjagd“ gegen die Putschist*innen durchzuführen. Für die Bevölkerung, die Opposition und das kurdische Volk wird sich das in einer Verschärfung der reaktionären Politik widerspiegeln.

Alle politischen nationalen und internationalen Koordinaten haben sich verschoben. Eine reaktionäre Fraktion, die sich im Kampf befindet, konnte siegen. Noch steht offen, für wie lange sie diesen Sieg sicher hat. Doch die arbeitende Bevölkerung, die Jugend und die arme Bevölkerung der Türkei, geschweige denn die Kurd*innen, werden es schwerer haben.

Wir müssen weiter für eine unabhängige politische Alternative für die Arbeiter*innen, die Frauen und das kurdische Volk kämpfen.

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